Название | Kontrolle |
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Автор произведения | Frank Westermann |
Жанр | Языкознание |
Серия | Andere Welten |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783862871803 |
Die Kirche dagegen hatte kaum noch Einfluss, seitdem die Regs alles in die Hände genommen hatten. Das hatte wenigstens uns geholfen, veraltete Moral- und Lebensvorstellungen über den Haufen zu werfen. Denn wir hatten sowieso nicht vor, uns in irgendeiner Weise zu etablieren.
Wahrscheinlich war die Sexualerziehung nicht mehr so verklemmt wie vor dem Krieg, aber in einer solchen Gesellschaft ist Sexualität natürlich eine beliebte Ware und so blühte das Geschäft mit dem Sex und männliche und weibliche Prostitution standen hoch im Kurs. Von Liebe Zärtlichkeit und Gefühlen blieb dabei natürlich nicht viel übrig.
Unter Leuten in unserem Alter war es weiterhin üblich, Zweierbeziehungen einzugehen, allerdings oft ohne Ehe. Aber was besagte das schon. Die Eingeengtheit, Stumpfsinnigkeit und eingefahrenen Gewohnheiten machten sich genauso breit und lähmten jegliche Neugier und Erfahrungsmöglichkeit - sehr im Sinn der Regs und ihrer Bürokratie.
Wir waren Außenseiter - eine geduldete Minorität -, weil wir diese Tretmühle und die Scheinsicherheit in dieser Form des Zusammenlebens grundsätzlich ablehnten. Es klappte natürlich auch bei uns bei Weitem nicht alles - es war eben wahnsinnig schwierig seine Gefühle unter Kontrolle zu haben und gleichzeitig auszuleben -, aber immerhin besser als das sogenannte normale Gefühlsleben. Was wir im Großen und Ganzen überwunden hatten, waren Konkurrenzkisten und Eifersucht, großartige Szenen, in denen sich jeder beweisen musste, und die Brutalität einer eheähnlichen Lebensweise. Ich hatte den Kram ja mal praktiziert, und mir wurde schlecht vor mir selbst, wenn ich daran dachte.
Da wir mit mehr Leuten engen Kontakt hatten, waren wir sensibler geworden, empfänglicher für andere Gedanken und Handlungen, wir verstanden einander besser und konnten uns mehr aufeinander einstellen. Wir lernten viel mehr Anschauungen, Ideen, Lebensweisen, Fantasien kennen als der Durchschnittsbürger. Während meiner Studiumszeit an der Hohen Universität hatte ich oft mit Leuten diskutiert, die den Normen entsprachen und sie verteidigten. Das ganze Geschwafel, dass man sich eben nur auf eine Person konzentrieren könnte, eine besondere Geborgenheit brauchte, darum auch nur eine(n) lieben könnte und so weiter, durchschaute ich jetzt als mühsame Verteidigung vorgelebter Erfahrungen, alles schon etliche Male und Generationen vorexerziert, ohne jeglichen neuen Erfahrungswert für jemanden, der sich nicht an die überlieferten Schemata zu halten gedachte, teilweise mit einem progressiven Touch (»du kannst auch ruhig mit nem anderen Typen schlafen«), und teilweise ebenso verlogen, wenn man sich die Praxis der Leute ansah, die mit so vielen und nichtssagenden Worten um sich warfen. Ich hatte die Lebensgewohnheiten dieser Klugscheißer kennengelernt, ihre versteckten Streitereien, ihre nur notdürftig verborgene Geilheit auf andere Frauen und Typen, den wöchentlichen Gruppensex und seine wissenschaftliche Begründung, die Konkurrenten, die sich am liebsten duelliert hätten, und es sehr hinterhältig und versteckt auch taten, die Gutgläubigen, die immer eins aufs Dach kriegten, weil sie die Spielregeln nicht beherrschten, die dummen Mitspieler und die Leidenden (oft Frauen), die Macker und Regisseure, immer potenzkräftig, problemlos und modern gekleidet, die Redner und Zuhörer, die Zupacker und die Always Loser -, bis der morsche Bühnenboden unter mir krachend nachgab, und Unwissenheit und Unsicherheit meine sicheren Begleiter wurden.
Dafür waren wir Ausgestoßene. Die Regs wussten, welches Potenzial in uns stecken konnte, in den Fragen, auf die es keine Antwort gab. Sollte es zum Vorschein kommen, würden wir radikal bekämpft werden. Es gab eine ungeschriebene, unausgesprochene Grenze, bis zu der wir uns bewegen durften. Und darüber hinaus war Sense.
Beim Frühstück fragte ich Lucky, ob er das Buch verstecken könnte, was ich bei mir hatte. Er war leicht erstaunt.
»Ja, sicher. Ich kenn genug Plätze. Aber ich wusste gar nicht, dass du noch welche liest.«
»Ich hab nie damit aufgehört.«
»Trotzdem begreife ich immer noch nicht, was du davon hast.«
»In den Index-Büchern steht zum Beispiel oft viel drin, was uns in der Schule oder an der Uni nicht erzählt oder falsch erzählt wird. Hauptsächlich so geschichtliche Sachen. Das ist heute oft ne richtige Fälschung. Hast du mal was von Gewerkschaften gehört?«
»Nee. Was soll das denn sein?«
»So genau weiß ich das auch nicht. Es stand mal in einem Roman über Arbeiter und die waren in einer Gewerkschaft organisiert. Und als ihnen die Löhne zu niedrig waren, hat es diese Gewerkschaft erreicht, dass sie mehr Geld kriegten.«
»Wie denn?«
»Tja, da hab ich auch nicht durchgeblickt«, musste ich zugeben. »Immerhin wird uns hier nie was davon gesagt, dass Arbeiter mal was gemacht haben.«
Lucky blieb skeptisch und Flie warf ein: »Woher willst du wissen, dass diese Geschichte nicht erfunden war, und das, was wir hier lernen richtig ist?«
»Weil ich das oft gelesen habe, dass es politische Bewegungen gab, die gegen die Regs gekämpft haben.«
»Meinst du wie die Gangs hier?«, fragte Flie.
»Seit wann kämpfen die denn?«, bemerkte das Mädchen mit dem merkwürdigen Namen Yuka. »Die tun doch nix.«
Ich sah sie jetzt das erste Mal bewusst an. Sie hatte kurzes braunes Haar und eine auffällige Narbe an der Nase. Sie trug ein kurzes Kleid mit lustigen Motiven aus irgendwelchen Comics.
»Und wie haben die gekämpft?«, bohrte Lucky nach. »Mit zehn Leuten und Steinen gegen Schocklader?«
»Mensch, das weiß ich doch nicht. Ich bin doch keine lebendige Bücherei!« Ich fühlte mich hilflos und wütend.
»Es greift dich doch keiner an«, beruhigte Yuka mich. »Wir können es uns eben nicht vorstellen.«
»Okay«, brummte ich. »Ich les ja auch noch andere Sachen.«
Flie musste krampfhaft lachen und prustete ihren Kaffee über den Tisch. Lucky brachte sich mit einem Satz in Sicherheit während Yuka die Brühe übers Kleid lief.
»Oh, Scheiße!«, rief sie, während ich nun auch noch lachen musste.
Daraufhin sah sie mich so komisch an, dass ich gar nicht mehr aufhören konnte zu lachen. Ich weiß nicht, was in dem Moment alles aus mir rausgekommen ist.
»Flie, ich brauch ein paar Klamotten von dir.«
Yuka ärgerte sich nicht mehr, hatte aber ihr Gesicht immer noch so komisch verkniffen. Lucky wischte den Tisch ab, Yuka ging sich umziehen und ich wühlte das Buch, das ich mitgenommen hatte, hervor. Flie nahm es mir aus der Hand.
»Zwanzig Sterne über mir«, las sie, während sie kaute. »Komischer Titel.»
»Es handelt von einem Typ, der zwanzig verschiedene Welten besucht und auf keiner leben kann«, versuchte ich zu erklären.
Lucky verzog das Gesicht. »Das ist ja schlimmer als hier. Wir haben wenigstens nur eine Welt, mit der wir fertig werden müssen.«
»Es geht auch mehr um die Lebensformen, die da beschrieben werden«. Ich war schon wieder in so ner Verteidigerrolle.
»Leider gibt's die ja nicht. Was hat es also für einen Sinn, sich damit zu beschäftigen?«
Wollte Flie schon wieder ne Diskussion anfangen? Yuka kam wieder rein. Sie hatte sich ne Hose und nen Pullover von Flie angezogen.
»Es könnte solche Lebensformen aber geben«, nahm ich den Faden wieder auf.
»Siehst