Kontrolle. Frank Westermann

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Название Kontrolle
Автор произведения Frank Westermann
Жанр Языкознание
Серия Andere Welten
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783862871803



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hatte, denn darauf stand eine hohe Strafe. Schließlich wurde sie gepackt und zum Ausgang gezerrt, wobei ein Mann, der unbeabsichtigt im Weg stand, von den Automaten niedergeschlagen wurde. Keiner sagte ein Wort. Wir waren alle abgestumpft und wehrlos. Fast jeden Tag war man Augenzeuge solcher Vorfälle. Nur ein Kind fing an zu weinen, wurde aber schleunigst von seiner Mutter wieder beruhigt. Yuka und ich versuchten, den am Boden liegenden Mann wieder auf die Beine zu kriegen. Ein Typ reichte uns schweigend ein Taschentuch, mit dem wir das Blut abwischen konnten. Langsam erholte er sich wieder. Er sah uns nur erstaunt an und stieg an der nächsten Station aus. Hätte er sich was gebrochen, kein Krankenhaus hätte ihn aufgenommen, und er hätte Schwierigkeiten gehabt, einen Arzt zu finden, der ihn behandelte. Jemand, der durch die Kontrollorgane in Schwierigkeiten geriet, hatte keinen Anspruch auf Hilfe.

      Wir brauchten bestimmt ne Stunde Fahrtzeit, und als wir ausstiegen, fühlte ich mich elend und dreckig und wäre am liebsten wieder umgekehrt. Ich kannte die Gegend nicht, aber es sah aus wie überall. Graue Hochhäuser mit kleinen Fenstern. Bei vielen konnte man die obersten Stockwerke nicht mehr erkennen. Mir schwindelte leicht, und ich sah mich nach Yuka um, die ein ganzes Stück vorausgegangen war.

      »Man merkt dir an, dass du ne Zeit weg warst«, sagte sie neugierig. Doch ich wollte nicht darüber reden. Ich wusste auch nicht, was ich dazu sagen sollte.

      »Was machst du denn auf'm Bau?«, fragte ich sie.

      »Ich zeichne Pläne, bediene ein paar Maschinen und koch Kaffee für den Chef.«

      »Schöner Job«, murmelte ich.

      »Ich will auch sehen, dass ich ihn behalte, wenn ich nicht zu viel Zugeständnisse machen muss.»

      Ich verstand, was sie meinte.

      Nach einem zehnminütigen Fußweg durch diesen Häuserdschungel kamen wir zu der Baustelle. Ein riesiges Gelände, vollgepfropft mit Sand, Beton, Plastikmaterial und ungeheuren Maschinen, die brummende, wütende Arbeitsgeräusche von sich gaben.

      viele Arbeiter konnte ich nicht entdecken. Wahrscheinlich lief das meiste vollautomatisch und computergesteuert. Yuka führte mich zu einem Wellblechschuppen gleich vorne an.

      »Lass mich allein reingehen. Du weißt ja, als Frau …«

      Ich wusste. Auch das alles gab es noch immer. Mit einem netten Lächeln konnte eine Frau immer noch mehr erreichen als eine ganze Horde Männer mit einem Sack voll Argumenten. Das sollte allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Frauen in allen Belangen den Männern untergeordnet waren. Sie bekamen zwar für gleiche Arbeit gleichen Lohn, aber das besagte nichts, da sie nur in den seltensten Fällen die gleiche Arbeit bekamen. Sie hatten in der Regel die stupidesten und monotonsten Arbeiten zu verrichten, die natürlich auch am schlechtesten bezahlt wurden. Der Slogan war nur dazu da, der Regierungspropaganda von der Gleichberechtigung zu helfen.

      Ich lehnte mich an die Hütte und versuchte mich an den Gedanken zu gewöhnen, dass ich hier arbeiten sollte. Ich konnte es nicht. Es hatte alles nichts mit mir zu tun. Ich konnte mich mit nichts und niemandem identifizieren. Alle Gefühle in mir reagierten mit Abwehr. Ich konnte mir tausendmal sagen, dass es besser war, als die anderen Jobs, die ich gemacht hatte. Es half nichts. Ich fluchte lautlos herum und danach überkam mich wieder das Gefühl einer wahnsinnigen Einsamkeit und Leere. Ich war hilflos, wir alle waren hilflos. Und Hoffnung hatte ich auch keine - worauf auch? Aber ich wollte irgendwie leben. Es gab Leute, mit denen ich alles irgendwie über die Runden bringen konnte. Wir waren doch irgendwie eine merkwürdige Gemeinschaft, wo sich alle gegenseitig halfen und wieder auf die Füße stellten.

      Yuka kam heraus und sagte mir, dass ich morgen anfangen könnte. Ich sollte die Maschinen sauber halten und andere solche Dreckarbeiten verrichten. Der Boss wollte mich nicht mal mehr sehen heute. Ich war nur eine Nummer, ein weiterer Arbeitssklave. Yuka bestätigte mir, dass hier sowieso nicht viele arbeiteten. Es war ja auch alles genormt und vorgegeben, sodass es leicht von den Maschinen allein erledigt werden konnte. Menschliche Fantasie oder Eigeninitiative waren unerwünscht.

      Auf dem Rückweg fiel mir etwas ein.

      »Arbeit habe ich ja jetzt«, sagte ich langsam zu Yuka. »Aber keine Wohnung. Und bei Flie und Lucky kann ich auch nicht immer wohnen. Ich komme mir da schon etwas blöd vor. Schließlich habe ich schon mal zwei Monate da gewohnt. Und das ist doch ein bisschen reichlich.«

      »Und bei deinen Eltern?«

      »Das geht auf keinen Fall!« Ich zuckte richtig zusammen.

      »Da würde ich es nicht mal zwei Tage aushalten.»

      »Ist wohl reichlich schlimm?«

      »Mit meiner Mutter gehts ja noch. Aber der Alte … weißt du, er versteht einfach nichts. Er kann seine Vorstellungen und Ansichten um keinen Deut mehr ändern. Und so geraten wir uns nach zehn Minuten immer in die Wolle, wenn wir uns unterhalten. Ich müsste mich da total zurückhalten oder unterordnen und das kann ich nicht. Und meine Mutter gibt ihm am Ende immer Recht oder verteidigt ihn, obwohl sie sonst manchmal versucht, sich in meine Sachen reinzudenken. Aber sie hat eben ihre Normen und aus denen kommt sie nicht raus.«

      »Hm. Bei mir ist es so ähnlich, nur andersherum. Mein Vater ist manchmal sogar richtig lieb und weiß ziemlich gut über mich Bescheid.«

      Sie lächelte, als fiele ihr dabei was ein.

      »Du kannst ja ne Zeit bei mir wohnen, bis du was Eigenes hast«, schlug sie vor.

      »Ja, aber …« Ich kam mir wirklich etwas bescheuert vor. Das hatte ich ja nun nicht gewollt. Oder?

      »Oh, es macht nichts«, sagte sie fröhlich. »Ich hab ne ziemlich große Wohnung. Zwar nur ein Zimmer, aber wir werden das schon hinkriegen. Hast du was zum Schreiben?«

      Ich nickte. Sie war auf einmal furchtbar lebendig. Da kam ich überhaupt nicht mit, denn mir war das Ganze noch immer unangenehm. Wir waren schon wieder beim Bus-Stop angelangt, und sie schrieb mir ihre Adresse auf. Dann kam auch schon der Bus. Da ich erst mal gar nicht wusste wohin, blieb ich stehen. Sie gab mir noch schnell einen Kuss und rief aus der Tür:

      »Tschau, Speedy. Ich bin heute Abend zuhause.«

      Dann war sie weg - und alles noch etwas vertraute mit ihr. Ich merkte, dass ich sie eigentlich recht gerne mochte. Ich hatte zwar schlechte Erinnerungen an zusammen mit ner Frau wohnen, aber jetzt kam es mir gar nicht mehr so schlecht vor. Und außerdem war der Vorschlag von ihr gekommen und so war ich für sie wohl nicht irgendein blöder Macker.

       What do you get for pretending the danger's not real

       Meek and obedient you follow the leader

       Down well trodden corridors into the valley of steel

       What a surprise!

       A look of terminal shock in your eyes

       Now things are really what they seem

       No, this is no bad dream.

      Pink Floyd - »Sheep«

       4.

      Ich wollte mich irgendwo ausruhen - wovon wusste ich auch nicht recht. Aber es war kein Platz da zum Hinsetzen. Leute strömten um mich herum, ich wurde gestoßen und gedrängt. Ich musste weg von der Straße, bevor es Feierabend wurde. Der Gedanke, was ich zu tun hatte, war schon länger in meinem Kopf gewesen, doch ich hatte es bisher abgelehnt, mich damit zu befassen. Jetzt musste ich es.

      Es blieb nichts anderes zu tun, als zu meinen Eltern zu gehen. Einerseits, weil ich Geld brauchte, um wenigstens die erste Zeit über die Runden zu kommen, bevor ich den ersten Lohn bekam. Alle anderen Leute, die ich kannte, hatten ebenso wenig Geld wie ich. Außerdem hatte ich bei vielen von ihnen schon Schulden, die ich auch wenigstens teilweise zurückzahlen wollte. Andererseits fühlte ich mich noch immer verpflichtet, mich ab und zu bei meinen Eltern