Das Seltsame und das Gespenstische. Mark Fisher

Читать онлайн.
Название Das Seltsame und das Gespenstische
Автор произведения Mark Fisher
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783862872060



Скачать книгу

an der modernen Ästhe­tik orientierte Kunst entworfen haben, worin das Seltsame sowohl die Form als auch den Inhalt bestimmt. Tatsächlich beginnt das Märchen des Seltsamen mit der Seltsamkeit der ästhetischen Moderne – ihrer Fremdheit, ihrer Kombination vormals inkommensurabel geglaubter Elemente, ihrer Verdichtung, ihrer Herausforderung gewöhnlicher Modelle der Lesbarkeit – sowie mit all den Schwierigkeiten und Zwängen des Post-Punk-Sounds.

      Vieles davon, wenn auch indirekt und enigmatisch, verdichtet sich in The Falls Album Grotesque (After the Gramme) von 1980. Wenn wir uns daran erinnern, dass das Groteske in Parrinders Beschreibung ursprünglich auf »Formen aus menschlichen und tierischen Figuren, die mit Blattwerk, Blumen und Obst zu fantastischen Formen verschlungen waren, die in keinem Verhältnis zu den logischen Kategorien der klassischen Kunst standen« verweist, dann beginnen wir anderweitig unverständliche Bezüge plötzlich zu begreifen: »huckleberry masks // Hei­delbeermasken«, »a man with butterflies on his face // ein Mann mit Schmetterlingen auf seinem Gesicht«, »ostrich headdress // Straussenkopfschmuck« oder »light blue plant-heads // hellblaue Pflanzenköpfe«.

      Die Lieder auf Grotesque sind Märchen, aber sie werden nur halb erzählt. Die Worte sind Fragmente, als ob wir sie durch eine schlechte Verbindung hören, die ständig abbricht. Perspektiven werden entstellt; ontologische Unterscheidungen zwischen Autor, Text und Charakter werden vermischt und zerbrochen. Es ist unmöglich, die Worte des Erzählers scharf von direkter Rede zu unterscheiden. Die Lieder sind Palimpseste, schlecht aufgenommen, in absichtlicher Ablehnung der »Kaffeetisch«-Ästhetik, die der Bandleader Mark E. Smith im kryptischen Booklet denunziert. Der Aufnahmeprozess wird nicht wegretuschiert, sondern in den Vordergrund gerückt, Hintergrundrauschen und unentzifferbare Kassettengeräusche bestimmen die Lieder mit wie die improvisierten Nähte das Gesicht Frankensteins in einem Hammer-Film. Das Lied »Impressions of J Temperance« ist in diesem Zusammenhang typisch, eine Geschichte im Stile Lovecrafts, in der der »schreckliche Wiedergänger« (»hideous replica«) eines Hundezüchters (»brown sockets...purple eyes...fed with the rubbish from disposal barges // braune Höhlen...violette Augen...gefüttert mit Müll vom Entsorgungsschiff«) in Manchester herumstreunt. Dabei handelt es sich um eine seltsame Geschichte, allerdings eine, die mit den Methoden der ästhe­tischen Moderne, der Verdichtung und der Collage arbeitet. Das Ergebnis gleicht einer Ellipse: Der Text klingt, als sei er aus dem Kanal von Manchester gefischt worden, kaum noch zu erkennen unter Schlamm, Schimmel und Algen, und Steve Hanleys Bass wirkt wie das Pochen von Baggerarbeiten.

      In jedem Fall gibt es hier Gelächter, eine wilde Art der Parodie und des Spotts, von der man zögert, sie Satire zu nennen, vor allem in Anbetracht der blassen und zahnlosen Form, die die Satire in Großbritannien in den letzten Jahren angenommen hat. Bei The Fall scheint es hingegen, als sei die Satire an ihre Ursprünge im Grotesken zurückgekehrt. Ihr Gelächter stammt nicht aus dem gesunden Menschenverstand des Mainstreams, sondern aus einem gleichsam psychotischen Außen. Es ist eine traumartige Satire wie bei James Gillray, Beschimpfung und Spott steigern sich bis ins Delirium, ein (psycho)­tropologisches Herausrotzen von Assoziationen und Ani­mositäten, deren wahres Ziel nicht die Demaskierung irgendeiner Redlichkeit ist, sondern die Illusion, dass menschliche Würde überhaupt möglich sei. Es überrascht nicht, dass Smith in einer kaum hörbaren Zeile von »City Hobgoblins« auf Alfred Jarrys Theaterstück Ubu Roi (dt. König Ubu) anspielt: »Ubu le Roi is a home hobgoblin. // Ubu le Roi ist ein Kobold«. Für Jarry wie für Smith galt es, die Zusammenhanglosigkeit und Unvollständigkeit des Obszönen und Absurden gegen die falschen Symmetrien der praktischen Vernunft in Stellung zu bringen. Man kann sogar sagen, dass es die Bestimmung des Menschen ist, grotesk zu sein. Denn es ist das menschliche Tier, das deplatziert ist, der Freak der Natur, ohne einen Platz in der natürlichen Ordnung und trotzdem fähig, die Dinge der Natur in furchtbare neue Formen zu bringen.

      Der Sound von Grotesque ist eine scheinbar unmögliche Kombination von Chaos und Strenge, eine Verbindung des Geistig-Literarischen mit dem Idiotisch-Physi­schen. Das ganze Album ist vom Gegensatz zwischen dem Alltäglichen und dem Seltsam-Grotesken strukturiert, als sei es die Antwort auf eine waghalsige Vermutung. Was, wenn der Rock’n’Roll im Herzen der Indus­trialisierung in England geboren wäre, statt im Mississippi-Delta? Der Rockabillysound von »Container Drivers« oder »Fiery Jack« wäre verlangsamt von Fleischpastete und Soße, Fluchtfantasien im Keim erstickt von einem Humpen Bier und einer Tasse schlierigem Tee. Rock’n’ Roll wäre das Kabarett der Arbeiter, vorgeführt von einem gescheiterten Gene-Vincent-Imitator in Prestwich. Doch solche Spekulationen gehen fehl. Rock’n’Roll brauchte die endlosen Highways; er hätte niemals in England entstehen können, in seinen chaotischen Ring­straßen und klaustrophobischen Ballungsgebieten. In dem Lied The N.W.R.A. (»The North Will Rise Again« / »Der Norden wird wieder auferstehen«) wird der Konflikt zwischen der beengenden Weltlichkeit Englands und dem Grostesk-Seltsamen am deutlichsten zur Sprache gebracht. Alle Motive des Albums verdichten sich in diesem Song, einem Märchen über kulturpolitische Intrigen, das wie ein absurder Mulch aus T.S. Eliot, Wyndham Lewis, H.G. Wells, Philip K. Dick, Lovecraft und John le Carré klingt. Das Lied erzählt die Geschichte von Roman Totale, einem Hellseher und ehemaligen Kleinbühnendarsteller, dessen Körper voll von Tentakeln ist. Oft wird gesagt, dass es sich dabei um eines der »Alter-Egos« von Mark E. Smith handelt; tatsächlich steht Smith in derselben Beziehung zu Totale wie Lovecraft zu Randolph Carter. Bei Totale handelt es sich eher um einen Figurentypus statt um eine echte Person. Deswegen hat Totale natürlich keinen fest umrissenen Charakter, sondern ist vielmehr der Träger eines Mythos, ein intertextuelles Konglomerat von Pulp-Frag­menten:

      »So R. Totale dwells underground / Away from sickly grind / With ostrich head-dress / Face a mess, covered in feathers / Orange-red with blue-black lines / That draped down his chest / Body a tentacle mess / And light blue plant-heads. //

       Also R. Totale wohnt unter der Erde / Fernab der kranken Schinderei / Mit einem Straussenkopfschmuck / Einem dreckigen Gesicht, mit Federn bedeckt / Orangerot mit schwarzblauen Runzeln / Bis zur Brust behangen / Der Körper, ein Wust aus Tentakeln / Und einem hellblauen Pflanzenkopf.«

      Die Form von »The N.W.R.A.« ist von organischer Ganzheit so fern wie Totales abscheulicher Tentakelkörper von der menschlichen Figur. Es ist ein groteskes Machwerk, eine Collage, in der nichts zusammenpasst. Vorbild des Liedes ist eher die Novelle statt das Märchen; die Geschichte wird episodisch erzählt, aus verschiedenen Blickwinkeln, mit einem vielstimmigen Gewaltstreich verschiedenster Stile und Register: komisch, journalistisch, satirisch, romanhaft, wie als wäre Lovecrafts »Cthulhus Ruf« vom James Joyce des Ulysses noch einmal geschrieben und in zehn Minuten gepresst worden.

      Soweit sich erkennen lässt, steht der Protagonist Totale – von Beginn korrumpiert und betrogen – im Zentrum einer Verschwörung, um den Norden wieder zu alter Glorie zurückzuführen, vielleicht zurück in die viktorianische Zeit der ökonomischen und industriellen Vorherrschaft; vielleicht sogar noch weiter zurück, vielleicht zu einer Größe, die alles übersteigt, was es jemals gegeben hat. Mark E. Smiths Vision des Nordens ist mehr als eine lokale Tirade gegen das Kapital, sein Norden steht vielmehr für alles, was der gute Geschmack der Stadt unterdrückt: das Esoterische, das Unnormale, das vulgär Erhabene, will sagen: das Seltsame und das Groteske selbst. Totale, geschmückt mit einem widersinnig-grotesken Kos­tüm eines »Straußen-Kopfschmucks«, »Federn / oran­ge-rot mit blau-schwarzen Runzeln« und »hellblauen Pflanzenköpfen«, ist der Möchtegern-Elfenkönig dieser seltsamen Revolte. Er endet als ihr Fischerkönig, zurückgelassen wie eine modernistische Pulp-Version von Miss Havisham inmitten der Reste eines Karnevals, der niemals stattfinden wird, das geifernde Totem eines erfolglosen Kampfes gegen den sozialistischen Realismus, der visionäre Führer, zurückgestutzt auf einen heruntergekommenen Kabarettisten, während die Psychotropen ver­blassen und der Eifer verhallt.

      Mit dem 1982er Album Hex Enduction Hour kehrt Smith zur Form des seltsamen Märchens zurück, eine weitere Platte, die voller Anspielungen auf das Seltsame ist. In dem Song »Jawbone and the Air Rifle« beschädigt ein Wilderer aus Versehen eine Grabstätte und buddelt einen Kieferknochen aus:

      »And here is a jawbone cacked in muck / Carries the germ of a curse / Of the Broken Brothers Pentacle Church //

      Und hier ist