Das Seltsame und das Gespenstische. Mark Fisher

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Название Das Seltsame und das Gespenstische
Автор произведения Mark Fisher
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783862872060



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arbeiten Lovecrafts Geschichten selten mit Angst, das heißt wir fragen uns nicht, ob das Außen echt ist oder nicht. Am Ende von »The Door in the Wall« jedoch sind Redmonds Gedanken von »Fragen und Rätseln« verdüstert. Er kann die Möglichkeit nicht ausschließen, dass Wallace an einer »seltenen, aber nicht einmaligen Art von Halluzination« gelitten hat. Entweder handelt es sich bei ihm um einen Verrückten oder einen »Träumer, Seher und Phantasten«. »Wir sehen unsere leidliche Alltagswelt, die Bretterwand und den Schacht«, schließt Redmond unsicher. »Mit unserem Maßstab des Tageslichts gemessen, ging er aus der Sicherheit in das Dunkel, in die Gefahr und den Tod. Ob er aber das so sah?«

      Das führt uns zu einem dritten Unterschied zwischen Lovecraft und Wells: die Funktion des Wahnsinns. Bei Lovecraft ist jeder Wahn, der eine Figur befällt, eine Konsequenz des transzendentalen Schocks, der durch den Kontakt mit dem Außen entsteht; keinesfalls ist der Wahnsinn dafür verantwortlich, dass die Figuren die Wesen so wahrnehmen wie sie es tun (denn das würde natürlich ihren Status herabsetzen, sie wären dann lediglich Produkte des Deliriums). »The Door in the Wall« lässt die Frage nach dem geistigen Zustand des Protagonisten offen: Es ist möglich – obwohl er hinzufügt, dass es ihm »nicht ernst damit« sei –, dass Wallace verrückt oder verblendet ist oder die ganze Erfahrung aus verzerrten Kindheitserinnerungen zusammenfabuliert hat (die, um einen Gedanken aus Freuds Essay über Deck­erinnerungen aufzunehmen, dann Erinnerungen über die Kindheit, nicht aus der Kindheit wären). Auch Wallace selbst erwägt, ob er eine Kindheitserinnerung überhöht oder noch einmal erträumt hat, bis zu dem Punkt, wo sie völlig unkenntlich geworden ist.

      Der wichtigste Unterschied zwischen »The Door in the Wall« und Lovecrafts Geschichte besteht jedoch in der Art der Sehnsucht, die evoziert wird. Bei Lovecraft muss die positive Anziehungskraft des Außen immer unterdrückt oder invertiert, in Ekel und Furcht verwandelt werden. In »The Door in the Wall« strahlt die Faszination der anderen Welt gewissermaßen durch die Pforte hindurch. Die entscheidende Differenz bei Wells besteht nicht zwischen natürlich oder übernatürlich; wenig deutet darauf hin, dass die Welt hinter der Tür irgendwie übernatürlich ist, auch wenn sie sicherlich »verzaubert« ist. Vielmehr geht es um den Unterschied zwischen dem Alltäglichen und dem Numinösen. Wallaces Beschreibung der »unbeschreiblichen, durchscheinenden Unwirklichkeit (…), jener Abweichung von der gewöhnlichen Erfahrungswelt, die über allem lag« erinnert an Rudolf Ottos Beschreibung des Numinösen in Das Heilige (1917). Bei beiden entsteht die »unbeschreibliche Qualität einer »durchscheinenden Unwirklichkeit« immer in Begegnungen mit dem, was wirklicher als die »gewöhnliche Erfahrungswelt« ist. Das Reale fühlt sich nicht real an; es involviert eine gesteigerte Wahrnehmung, es trans­zendiert die Parameter unserer gewöhnlichen Erfahrung, doch für Wallace »wenigstens war die Tür in der Mauer eine wirkliche Tür; die durch eine wirkliche Mauer zu einer unvergänglichen, wirklichen Welt führte.«

      Michel Houellebecq nannte sein Buch über Lovecraft Against the World, Against Life (dt. Gegen die Welt. Gegen das Leben); doch vielleicht richtete sich Lovecrafts eigentliche Antipathie vielmehr gegen das Weltliche, gegen jene gemeinen Grenzen des Alltäglichen, die seine Erzählungen immer wieder aufsprengen. Der Angriff auf den Mangel des Weltlichen ist in jeden Fall ein treibendes Element von »The Door in the Wall«. »O wie schmerzlich diese Rückkehr war«, ruft Wallace aus, als er wieder »in diese graue Welt« versetzt ist. Wallace spürt, dass seine Depression daher rührt, dass er der Versuchung des Weltlichen erlegen ist.

      Wenn Wallace seine Trauer beschreibt, scheint er ein Spielball des psychoanalytischen Todestriebes zu sein:

      »Es ist nämlich so – es handelt sich nicht um Geistererscheinungen und doch – es hört sich merkwürdig an, Redmond – ich bin heimgesucht. Ich bin durch etwas heimgesucht – das alles andere verblassen läßt, das mich mit Sehnsucht erfüllt...«

      Als Redmond über den ersten Kontakt von Wallace mit der Tür nachdenkt, stellt er sich »die Gestalt des kleinen Jungen« vor, »gleichzeitig angezogen und abgestoßen2 Genauso beschreibt Freud den Todestrieb: als die ambivalente Anziehung dessen, was unangenehm ist. Es waren Lacan und seine Anhänger, die die Geometrie des Todestriebes vervollständigt haben, die Art und Weise wie sich das Begehren erhält, indem es ständig das Objekt seiner Befriedigung verfehlt – genauso wie es Wallace misslingt, noch einmal durch die Tür zu gehen, obgleich es sich um seinen tiefsten Wunsch handelt. Die Faszination, die von der Tür und dem Garten ausgeht, nimmt all seinen weltlichen Befriedigungen und Erfolgen den Geschmack:

      »Nun, da ich den Schlüssel dazu habe, scheint es seinem Gesicht sichtbar aufgeprägt. Ich besitze ein Foto, auf dem dieser abweisende Blick eingefangen und verstärkt ist. Er erinnert mich an den Ausspruch einer Frau – einer Frau, die ihn sehr geliebt hatte. ›Plötzlich‹, sagte sie, ›verliert er das Interesse. Er vergißt dich. Er macht sich keinen Deut aus dir – während du ihm direkt vor der Nase sitzt...‹«

      Die Tür war immer eine Schwelle und wer sie übertrat, gelangte über das Lustprinzip hinaus und in das Seltsame hinein.

       »Der Körper, ein Wust aus Tentakeln«:

       Das Groteske und Seltsame bei The Fall

      »Das Wort grotesk hat seinen Ursprung in einem romanischen Ornamentdesign, das zuerst im 15. Jahrhundert entdeckt wurde, bei der Ausgrabung der Bäder von Titus. Benannt nach den grottoes, in denen sie gefunden wurden, bestanden die Formen aus menschlichen und tierischen Figuren, die mit Blattwerk, Blumen und Obst zu fantastischen Formen verschlungen waren, die in keinem Verhältnis zu den logischen Kategorien der klassischen Kunst standen. Einen zeitgenössischen Bericht über diese Formen finden wir bei dem lateinischen Schreiber Vitruv. Vitruv war als Beamter mit dem Bau von Rom unter Kaiser Augustus beauftragt, den sein Bericht Zehn Bücher über Architektur anspricht. Kaum überraschend geht er mit dem ›verderbten Mode‹ des Grotesken hart ins Gericht: ›Derlei aber gibt es weder, noch kann es geben, noch hat es gegeben‹, sagt der Autor über die Verschlingung aus Menschen, Tieren und Pflanzen: ›Denn wie kann ein Rohr in Wahrheit ein Dach tragen, oder ein Lampenständer den Giebelschmuck, oder ein schwacher und weicher Stengel eine sitzende Figur, oder wie können aus Pflanzen und Stengeln Blumen mit Halbfiguren hervorsprießen? Aber obwohl die Menschen solche Lügen sehen, tadeln sie dieselben nicht, sondern ergötzen sich daran und machen sich nichts daraus, ob etwas möglich ist, oder nicht.‹« Patrick Parrinder, James Joyce

      Wenn es sich bei Wells Geschichte um einen Fall des melancholischen Seltsamen handelt, dann können wir nun auch eine weitere Dimension betrachten, indem wir über sein Verhältnis zum Grotesken nachdenken. Wie das Seltsame entsteht auch das Groteske, wenn etwas deplatziert ist. Die Reaktion auf die Erscheinung eines grotesken Objekts kann Lachen oder Abscheu hervorrufen. In seiner Studie über das Groteske hat Philip Thomson darauf hingewiesen, dass das Groteske oft durch die Verbindung des Lächerlichen mit dem tief Ernsten charakterisiert wurde. Die Fähigkeit, andere zum Lachen zu bringen, zeigt, dass das Groteske vielleicht am Besten als eine bestimmte Form des Seltsamen zu verstehen ist. Es ist schwer, sich ein groteskes Objekt vorzustellen, das nicht zugleich seltsam ist, aber es gibt seltsame Phänome, die nicht zum Lachen sind – beispielsweise Lovecrafts Geschichten, bei denen der Humor eher zufällig ist.

      Das Zusammentreffen des Seltsamen und des Grotesken wird vielleicht nirgends deutlicher als in der Musik der Postpunk-Band The Fall. Ihr Werk – vor allem in der Zeit zwischen 1980 und 1982 – ist voll von Verweisen auf das Groteske und Seltsame. Die Methode der Band zu jener Zeit lässt sich durch das Cover der Single »City Hobgoblins« von 1980 verdeutlichen, auf dem wir eine urbane Szenerie sehen, voll von »emigres from old green glades // Emigranten der alten grünen Wiesen«; ein lüs­tern dreinblickender, fieser Kobold thront über einem verfallenen Wohnhaus. Doch anstatt die Figur bruchlos in das Foto zu integrieren, ist der schlecht gezeichnete Kobold zart in den Hintergrund platziert. Hier handelt es sich um einen Krieg der Welten, einen ontologischen Kampf, ein Kampf um die Mittel der Repräsentation. Aus der Perspektive der bürgerlichen Kultur und ihrer Kategorien darf und dürfte eine Gruppe wie The Fall aus der Arbeiterklasse, aber experimentell, populär und modern im Stil nicht