Das Seltsame und das Gespenstische. Mark Fisher

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Название Das Seltsame und das Gespenstische
Автор произведения Mark Fisher
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783862872060



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sehen wir, warum das Seltsame ein bestimmtes Verhältnis mit dem Realismus unterhält. Lovecraft selbst hat oft sehr abschätzig über den Realismus gesprochen. Hätte er sich jedoch vollständig von ihm losgesagt, wäre er niemals der Fantastik von Dunsany und de la Mare entkommen. Präziser wäre es, zu sagen, dass Lovecraft den Realismus eingehegt oder verortet hat. In einem Brief von 1927 an den Herausgeber von Weird Tales sagt er das ganz explizit:

      »Nur die menschlichen Szenen und Charaktere müssen auch menschliche Eigenschaften haben. Die müssen mit schonungslosem Realismus dargestellt werden, (keinem billigen Romantizismus) aber wenn wir die Grenze zum unendlichen, furchtbaren Unbekannten überschreiten – das von Schatten heimgesuchte Außen –, dann müssen wir alles Menschliche und Irdische zurücklassen.«

      Die Kraft von Lovecrafts Erzählungen hängt von der Differenz zwischen dem Irdisch-Empirischen und dem Außen ab. Das ist ein Grund, warum sie so oft in der ersten Person geschrieben sind: wenn das Außen langsam einem menschlichen Subjekt zu Leibe rückt, dann treten seine unwirklichen Konturen stärker hervor; das »unendliche, furchtbare Unbekannte« einfangen zu wollen, ohne einen Bezugspunkt zur Realität zu haben, riskiert, banal zu werden. Lovecraft braucht die irdische Welt aus demselben Grund, wie ein Maler auf seiner Leinwand dem riesigen Gebäude eine menschliche Figur zur Seite stellt: um ein Größenverhältnis kenntlich zu machen.

      Eine vorläufige Bestimmung des Seltsamen mag daher mit dem merkwürdigen und unscharfen Wörtchen »aus« (out of) beginnen, das Lovecraft in zwei seiner Geschichten verwendet, »The Colour Out of Space« (dt. »Die Farbe aus dem All«) und »The Shadow Out of Time« (dt. »Der Schatten aus der Zeit«). Auf den ersten Blick bedeutet »aus« hier natürlich schlicht »von« (from). Aber man muss vor allem bei »The Shadow Out of Time«, noch eine zweite Bedeutung in Betracht ziehen, nämlich die Vorstellung, dass etwas entfernt, herausgeschnitten, herausgenommen wurde. Der Schatten besteht aus Zeit, er ist aus der Zeit herausgeschnitten worden. Dass bei Lovecraft Dinge von ihrem angestammten Platz entfernt werden, verbindet ihn mit der von den historischen Avantgarden verwendeten Collagetechnik. Aber es gibt auch noch eine dritte Bedeutung von »aus«, nämlich im Sinne von »außerhalb«. Der Schatten aus der Zeit ist in gewissem Sinn ein Schatten, der jenseits der Zeit liegt, wie wir sie normalerweise verstehen und erfahren.

      Um ein Gefühl des Jenseitigen zu erzeugen und das Außen greifbar zu machen, können sich Lovecrafts Geschichten nicht auf bekannte Figuren oder Überlieferungen stützen. Sein Schreiben hängt entscheidend mit der Produktion von Neuem zusammen. China Miéville schreibt in seinem Vorwort zu Lovecrafts At the Mountains of Madness (dt. Berge des Wahnsinns): »Lovecraft steht außerhalb jeder volkstümlichen Tradition: hier geht es nicht um die Modernisierung bekannter Figuren wie Vampir oder Werwolf (oder Garuda, Rusalka oder irgendeinen anderen traditionellen Kinderschreck). Lovecraft schafft ein Pantheon und Bestiarium sui generis.« Hinzu kommt eine weitere wichtige Dimension von Lovecrafts Schöpfungen: Das radikal Neue an ihnen wird vom Autor dementiert und verhüllt. Miéville fährt fort: »In Lovecrafts Narrativ [...] gibt es ein Paradox. Obwohl sein Begriff des Monströsen und seine Herangehensweise an das Fantastische vollkommen neu sind, tut er so als sei das nicht der Fall.« Wenn Lovecrafts Protagonisten mit seltsamen Wesen in Kontakt kommen, dann finden sie oft Parallelen zu Mythen und Überlieferungen, die Lovecraft selbst erfunden hat. Seine Rückprojektion eines neu entworfenen Mythos in tiefste Vergangenheit rufen hervor, was Jason Colavito mit Blick auf Erich von Däniken und Graham Hancock den »Kult der außerirdischen Götter« nennt. Lovecrafts nachträgliche Verankerung des Neuen in der Vergangenheit ist auch dafür verantwortlich, warum seine seltsamen Geschichten gleichsam aus der Zeit gefallen sind; so wie in der Erzählung »The Shadow Out of Time«, wo die Hauptfigur Peaslee unter architektonischen Relikten von ihm selbst geschriebene Texte findet.

      China Miéville argumentiert, dass diese Innovation bei Lovecraft unter dem Eindruck des Ersten Weltkrieges entstanden sei: der traumatische Bruch mit der Vergangenheit habe das Neue hervortreten lassen. Aber vielleicht ist es hilfreich, Lovecrafts Werk als Auseinandersetzung mit dem Trauma überhaupt zu verstehen, insofern als es sich mit Rissen im Gewebe der Erfahrung beschäftigt. Einige Bemerkungen von Freud in Jenseits des Lustprinzips legen nahe, dass er davon ausging, dass das Unbewusste jenseits von Kants »transzendentalen« Kategorien Raum, Zeit und Kausalität operiert, die die Wahrnehmung und das Bewusstsein regieren: »Der Kantsche Satz, daß Zeit und Raum notwendige Formen unseres Denkens sind, kann heute infolge gewisser psychoanalytischer Erkenntnisse einer Diskussion unterzogen werden.« Eine Möglichkeit, die Funktionen des Unbewussten zu begreifen und zu verstehen, wie genau dieser Bruch mit Zeit, Raum und Kausalität vonstatten geht, bestand im Studium der Psyche von Traumatisierten. Das Trauma kann als eine Art transzendentaler Schock begriffen werden, was wiederum Lovecrafts Schriften treffend beschreibt. Das Außen liegt nicht in der »empirischen« Außenwelt, sondern in der transzendentalen Außenwelt; das heißt es geht nicht nur darum, dass etwas zeitlich und räumlich fern ist, sondern um etwas, das jenseits unserer gewöhnlichen Erfahrung und jenseits unseres gewöhnlichen Verständnisses von Zeit und Raum selbst liegt. Immer wieder betont Freud, dass das Unbewusste weder Zeit noch Raum kennt. Daher das an M.C. Escher gemahnende Bild in Das Unbehagen in der Kultur, worin Freud das Unbewusste mit der Stadt Rom vergleicht und als Ort beschreibt, in dem »nichts, was einmal zustande gekommen war, untergegangen ist, in dem neben der letzten Entwicklungsphase auch alle früheren noch fortbestehen.« Freuds seltsame Geometrie zeigt deutliche Parallelen zu Lovecrafts Erzählungen und ihren ständigen Verweisen auf nicht-euklidische Räume. Man betrachte zum Beispiel die Beschreibung der »Geometrie des im Traum geschauten Ortes« in »Call of Cthulhu« (dt. »Cthulhus Ruf«): »abnorm [...], nicht euklidisch und auf ekelerregende Weise an Sphären und Dimensionen fern der unseren gemahnend.«

      Es ist wichtig, Lovecraft nicht zu schnell eine Idee des Undarstellbaren unterzuschieben. Zu oft nimmt man ihn für bare Münze, wenn er seine eigenen Wesen und Gestalten »unnennbar« oder »unbeschreiblich« nennt. Wie China Miéville ausführt, bezeichnet Lovecraft ein Wesen immer dann als »unbeschreiblich«, wenn er anfängt, es detailliert zu beschreiben. Ebenso wenig ist Lovecraft zögerlich bei der Verleihung von Namen, auch wenn er das in der Geschichte »The Unnameable« (dt. »Das Unnennbare«) verspottet, aber zugleich verteidigt. Neben der Behauptung und ihrer anschließenden Widerlegung gibt es jedoch noch ein drittes Moment: Nachdem, ers­tens, etwas als »unbeschreiblich« bezeichnet wird und, zweitens, die Beschreibung erfolgt, resultiert daraus, drittens, eine Art Unbildlichkeit. Denn trotz aller Details oder vielleicht gerade deshalb, erlauben Lovecrafts Beschreibungen dem Leser nicht, die logorrhoische Schizophonie der Adjektive zu einem geistigen Bild zu verdichten. Deshalb hat Graham Harman den Effekt solcher Passagen mit dem Kubismus verglichen. Wenn Lovecraft in »Dreams in the Witchhouse« (dt. »Träume im Hexenhaus«) von einer »Ansammlung von Würfeln und Flächen« spricht, wird dieser Vergleich noch eindrücklicher. Tatsächlich kommen in einer ganzen Reihe seiner Erzählungen kubistische und futuristische Techniken und Motive zum Tragen, meistens als (vorgebliche) Hassobjekte. Doch selbst wenn er der modernen Kunst feindlich gegenüberstand, hat Lovecraft doch erkannt, dass sie zur Darstellung des Außen genutzt werden kann.

      Bis jetzt hat sich meine Auseinandersetzung mit Lovecraft auf das konzentriert, was in den Geschichten geschieht. Doch einer der wichtigsten Effekte des Seltsamen entsteht bei Lovecraft zwischen seinen Texten. Die Systematisierung von Lovecrafts Erzählungen zu einem »Mythos« wurde zwar von seinem Anhänger August Derleth geleistet, doch der Zusammenhang zwischen den Geschichten, die Art und Weise, wie sie eine konsistente Realität bilden, ist entscheidend, um zu verstehen, was an Lovecrafts Werk einzigartig ist. Es mag so aussehen, als würde Lovecraft solche Konsistenz ähnlich herstellen wie Tolkien, doch erneut zeigt sich, wie wichtig das Verhältnis zu unserer Welt ist. Indem die Erzählungen in Neuengland spielen statt in einem unberührten, fernen Land, durchkreuzt Lovecraft das hierarchische Verhältnis zwischen Fiktion und Realität.

      Dass bei Lovecraft authentische Geschichte und ausgedachte Forschung nebeneinander stehen, führt zu ontologischen Verwirrungen, ähnlich wie in der »postmodernen« Literatur von Alain Robbe-Grillet, Thomas Pynchon oder Jose Luis Borges. Indem Lovecraft echte Phänomene so behandelt als hätten sie