Berliner Industriekultur. Katja Roeckner

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Название Berliner Industriekultur
Автор произведения Katja Roeckner
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783940621511



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und Straßenbahnen, um nur einige Beispiele zu nennen. Ein Blick zurück in die Vergangenheit ist also durchaus hilfreich, um diese spezielle Situation des heutigen industriellen Bildes Berlins zu verstehen.

      Lange war es unbestrittener Konsens: Fabrikgebäude, die ihre Funktion als Produktionsstätten verloren hatten, wurden abgerissen. Wozu sollte man sich mit überflüssig gewordenen Zweckbauten beschäftigen? Nostalgische Gefühle hatte kaum jemand. Selbst für ehemalige Arbeiterinnen und Arbeiter waren diese Orte oft mit unangenehmen Erinnerungen verbunden: schwere, teilweise sogar gesundheitsgefährdende Arbeitsbedingungen, schlechte Bezahlung, Ohnmachtsgefühle beim Verlust des Arbeitsplatzes. Der langsame Abschied von der Industrie seit den I960er/I970er Jahren, das Abwandern vieler Produktionszweige ins Ausland, die Rationalisierung, Automatisierung und der folgende Arbeitsplatzabbau ließen allerdings industrielle Relikte in steigenden Zahlen anfallen und neue Nutzungskonzepte notwendig erscheinen.

      So regte sich langsam Widerstand gegen die umfassenden Abrisspläne in vielen Industrieländern, in Deutschland seit Ende der 1960er Jahre. Denn viele Städte drohten ihr Gesicht zu verlieren. Im Ruhrgebiet fehlten plötzlich die Zechentürme und -gerüste als Landmarken im flachen Terrain, in anderen Städten vermisste man schmerzlich die charakteristischen Schornsteine, Fassaden und die beeindruckenden »Kathedralen der Arbeit«. Industriebauten wurden zunehmend für ihre architektonischen Qualitäten geschätzt und als Kulturphänome wahrgenommen, als Ausdruck der Geschichte und des Geistes einer die Gesellschaft stark prägenden Epoche.

      In Deutschland war zweifellos das Ruhrgebiet in den 1970er Jahren der industriekulturelle Vorreiter. Schon früh wurden hier Fabrik- und Zechengebäude unter Denkmalschutz gestellt und erhalten oder Industriemuseen in stillgelegten Industrieanlagen eingerichtet. Der Montanregion wurde damit eine eigene kulturelle Identität zugestanden. Andere Städte und Regionen folgten – oder entwickelten zur gleichen Zeit eigene Herangehensweisen an die Zeugnisse des Industriezeitalters. Die Industriekultur ist heute stärker angesagt denn je: Das Ruhrgebiet mit Essen als Zentrum ist 2010 europäische Kulturhauptstadt.3

      Ungehobene Schätze, vernachlässigtes Industrieerbe: AEG-Halle in Berlin-Oberschöneweide

      In Berlin wurde und wird dieses Erbe vergleichsweise wenig beachtet, was mit der besonderen Situation durch die Teilung der Stadt leicht erklärbar wird.

      Viele Fabrikgebäude wurden hier in Ost wie West relativ lange weiter genutzt. Zudem hatte man vor und nach dem Mauerfall andere Probleme, die politische Situation stand hier stärker im Vordergrund. Und in einer Stadt mit dem kulturellen Reichtum wie der Spreemetropole hatte und hat es die Industriekultur schwer gegen andere Kulturbereiche: seien es hochkarätige Museen und Sammlungen, Galerien, Theater, Opern, eine vielfältige Subkulturszene oder die Welt des Films. Um sich seiner eigenen Identität zu vergewissern, ist Berlin längst nicht so stark auf die Industriekultur angewiesen wie beispielsweise das Ruhrgebiet.

      Dennoch prägt das Fabrikzeitalter die alte und neue deutsche Hauptstadt ganz besonders. Außerdem ist hier ein viel größerer Teil alter Industriegebäude als in den meisten deutschen Städten noch erhalten – ein wahrer Glücksfall angesichts der wechselvollen Geschichte des 20. Jahrhunderts mit seinen zahlreichen Brüchen. Wo gibt es schon solch ausgedehnte und auch ästhetisch beeindruckende Stadt- und Industriequartiere wie das ehemalige AEG-Gelände am Humboldthain, die Siemensstadt in Spandau oder die AEG-Stadt in Oberschöneweide?

      Zu diesem kulturellen Erbe Berlins erschienen bereits in den 1980er Jahren zwei reichhaltig ausgestattete Bände (»Exerzierfeld der Moderne« und »Die Metropole«), das Deutsche Technikmuseum Berlin pflegt und präsentiert umfangreiche Sammlungen zur Berliner Industrie. Zudem hat das Landesdenkmalamt mehrere Schriften und Verzeichnisse über herausragende Berliner Industriequartiere veröffentlicht. Jüngst ist ein Verzeichnis samt Kurzbeschreibungen der 115 wichtigsten Bauten des Industriezeitalters in Berlin erschienen.4 Einen kleinen Beitrag zur Entdeckung eines ausgewählten Ausschnitts dieser spannenden Facette der Berliner Kultur, Geschichte und Gegenwart möchte das vorliegende Buch ebenfalls liefern.

      Geschichtstour

      1

      Geschichtstour 1: ›Feuerland‹ und die AEG am Humboldthain

      Bertolt-Brecht-Gedenkstätte, noble Restaurants und schicke Büros der neuen Kreativdienstleister prägen heute die Szene in Berlin-Mitte. Doch dass an der Chausseestraße vor dem ehemaligen Oranienburger Tor die ersten Fabriken Berlins standen, ist kaum noch bekannt. ›Feuerland‹ nannten die Berliner das Viertel bald: Die rauchenden Schornsteine und vor allem der nächtliche Feuerschein der vielen Eisengießereien wirkten beeindruckend und beängstigend zugleich. Vor 200 Jahren begann hier für Berlin eine neue Ära: Mit der massenweisen Produktion von Dampfmaschinen und Lokomotiven startete die preußische Metropole ins Industriezeitalter.

      Den Anfang machte der Staat, ganz im Reformeifer der Zeit: 1804 nahm die Königliche Eisengießerei Berlin – kurz: Berliner Eisen – in der Invalidenstraße den Betrieb auf. Die Gegend lag damals noch vor den Toren der Stadt, zwischen unbebauten Feldern.

      Das Schinkel’sche Nationaldenkmal beispielsweise ist ein Werk von Berliner Eisen. Man kann es noch heute auf dem Kreuzberg im gleichnamigen Bezirk bewundern. Vom Gebäude der Königlichen Eisengießerei dagegen, auf deren Gelände an der Invalidenstraße 43 heute das Naturkundemuseum steht, ist nichts erhalten. Das Beuth’sche Gewerbeinstitut in der Klosterstraße, eine Vorgängerin der heutigen Technischen Universität Berlin, zog wegen der guten Ausbildung viele künftige Industriepioniere in die Stadt. So auch Franz Anton Egells, bei dem der spätere ›Lokomotivenkönig‹ August Borsig seine Lehrjahre absolvierte.

      Der Grundpfeiler der Berliner Industrie war also mit dem Maschinenbau in ›Feuerland‹ gelegt. Doch von dieser Keimzelle ist außer wenigen Spuren nichts erhalten. Schon ab 1850 wurde es für die immer größeren Fabriken zu eng, die Stadt wuchs, und so wanderten sie an den damaligen Rand der Stadt, an den Humboldthain und nach Moabit, später auch sehr viel weiter in die als reine Industriestandorte neu geplanten ›Städte in der Stadt‹ Borsigwerke Tegel, Oberschöneweide und Siemensstadt. Die ehemaligen Industriegrundstücke vor dem Oranienburger Tor wurden dringend für den Bau von Wohnhäusern –Mietskasernen – gebraucht. Berlin gewann in rasantem Tempo an Einwohnern, die zu Tausenden täglich in die aufstrebende Metropole kamen, um hier ihr Glück zu suchen – und auch dringend als Arbeitskräfte benötigt wurden.

      1 – Maschinenbauanstalt Egells

      2 – Borsig’sches Verwaltungsgebäude

      3 – Edisonhöfe

      4 – AEG am Humboldthain

      5 – Mietskasernen

      Station 1: Die Maschinenbauanstalt und Neue Eisengießerei von Franz Anton Egells

      Novalisstraße 10 (Hof)

      Verkehrsanbindung:

      Station Oranienburger Tor, U-Bahn: U6, Straßenbahn: M1, M12

      Station U Oranienburger Tor / Torstraße, Straßenbahn: M6, Bus: 240

      Die Tour beginnt im Hof der Novalisstraße 10. In diesem sehr ruhigen Teil von Berlins Mitte, bis 1990 zum Ostteil der Stadt gehörend, liegt eines der ältesten erhaltenen Fabrikgebäude der Stadt. Franz Anton Egells (1788–1854) ließ hier 1823 die damals größte Maschinenbauanstalt Berlins errichten, bald ergänzt durch die erste private Eisengießerei Berlins. Der Firmenchef und seine Ingenieure und Arbeiter konstruierten und bauten Lokomotiven. Bald spielte das Geschäft mit Dampfmaschinen die größte Rolle. So wurde Preußen unabhängig von teuren Importen aus England. Egells hatte in der Königlich Preußischen Eisengießerei gelernt und