On the Road. Hans-Christian Kirsch

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Название On the Road
Автор произведения Hans-Christian Kirsch
Жанр Философия
Серия
Издательство Философия
Год выпуска 0
isbn 9783862870592



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sich für Sport interessierte, in der Lokalpolitik mitmischte, einer, der empfänglich war für Erklärungen, warum die Reichen immer reicher werden, die Armen aber ewig arm bleiben, mag gefunden haben, dass mit dieser Frau ein stabilisierendes Element in sein Leben kommen werde. Sie heiraten 1915. 1916 kommt ihr erstes Kind Francis Gerard zur Welt, zwei Jahre später wird eine Tochter, Caroline, genannt Ti Nin, geboren. Die Umgangssprache in der Familie ist Joual, das Patois der Frankokanadier, der Canucks, wie sie in den USA genannt werden.

      Die Einwanderer aus Kanada, die aus den steinigen Abhängen zu beiden Seiten des St. Lawrence in die breiten sanft rollenden Wiesen von Vermont und New Hampshire und die üppigen Täler von Massachusetts kommen, sind dort alles andere als beliebt. Man nennt sie verächtlich ›weiße Nigger‹. Sie sind bereit, in den Fabriken zu niedrigen Löhnen härter zu arbeiten als die Einheimischen, und sie sind geschäftstüchtiger als diese. Sie halten eisern zusammen, bleiben in ihren katholischen Pfarrgemeinden unter sich, dringen darauf, dass ihre Kinder französisch sprechen.

      Die alteingesessenen Puritaner halten sie für großsprecherisch, mit Illusionen und nostalgischen Träumen von illustren Vorfahren. Solche Erinnerungen leben auch bei den Kerouacs fort. Für Jack wird es später wichtig sein, angeblich von einem gewissen Baron Alexandre Louis Lebris de Kerouac abzustammen, einem bretonischen Adligen, der Landrechte in Kanada verliehen bekommen hatte und dessen Nachkommen angeblich Mohawk- und Caughnawaga-Indianer heirateten.

      Tatsächlich gibt es in den Vierteln der Canucks meist mehr Debile, Verrückte als anderswo, aber auch mehr Originale. Ins Abseits und in die Isolation gedrängt, entwickeln die Frankokanadier in den USA, ähnlich wie die Iren in den Jahrhunderten englischer Okkupation, ein ausgeprägtes Innenleben, oft erfüllt von bizarren Phantasien.

      Jean-Louis - erst später wird daraus Jack - Kerouac ist das letzte Kind, das Gabrielle zur Welt bringt.

      Sie gebiert es daheim, in einem großen Messingbett unter einem Kruzifix, an einem Tag, an dem es gerade Frühling zu werden beginnt.

      Es ist bezeichnend für Kerouacs Hang zu mystifizierenden Phantasmagorien, dass er in Doctor Sax seine Geburt beschreibt, als habe er ihr als Beobachter zugesehen:

      ›Über den weiten Kessel zum Hügel hin - in der Lupine Road im März 1922 um fünf Uhr am Nachmittag einer völlig in Rot getauchten Abendessenszeit, als schläfrig in den Kneipen der Moody und Lakeview Biere gezapft wurden und der Fluss mit seiner Eisfracht über gerötete verschlickte Steine hinwegrauschte, und an den Ufern das Röhricht zwischen Matratzen und alten weggeworfenen Stiefeln wogte und nasse Schneefladen träge von tiefgebeugten Zweigen schwarzer, dorniger, taugeölter Kiefern rutschten, und darunter der schwere Schnee an den Hängen, auf denen verirrte Sonnenstrahlen blitzten und die Schmelze des Winters sich vermischte mit den Fluten des Merrimack - wurde ich geboren.. [...] Ganz Auge war ich, kam und hörte die Flussröte; ich erinnere mich an diesen Nachmittag, schaute ihn durch die Perlenschnüre, die als Vorhang in der Tür hingen und durch Glas von einer universellen traurigen Röte tödlicher Verdammnis... der Schnee schmolz. Die Schlange hatte sich im Hügel eingerollt, nicht in meinem Herzen.‹3

      Urbane und kosmische Verbundenheit evoziert dieser Text, und wieder wird der Fluss erwähnt. Aber auch eine Traurigkeit, ja tödliche Verdammnis klingen an, und die Schlange, die ja eine Metapher für den Fluss ist, rollt sich im Hügel ein, nicht im Herzen des Neugeborenen. Das heißt: Trennung von der kosmischen Geborgenheit. Aber die Schlange des Flusses meinte auch die Schlange aus dem Paradies, die Versucherin des Menschen, Symbol des Bösen und der Sünde. Und ob ihm das bewusst sein mag oder nicht: Kerouac gibt in diesem Text über seine Geburt einen Hinweis auf ein fundamentales Problem seines Lebens: die Frage nach Gut und Böse, die Ängste über seine Sündhaftigkeit, sein Bedürfnis nach Erlösung.

      Bis auf gewisse Meinungsverschiedenheiten in religiösen Fragen zwischen Leo und Gabrielle ist es eine harmonische Familie, in die der Junge hineingeboren wird. Eine Familie mit Eltern und Geschwistern, die Geborgenheit und Sicherheit geben, in der man Späße kennt, Geselligkeit liebt, gutes deftiges Essen auf den Tisch kommt. Freilich lebt Leo vorwiegend in seiner Männerwelt: in der Werkstatt, vor dem Tresen im Wirtshaus, auf dem Sportfeld. Zu dieser Zeit ist er noch voller Vitalität, gut gelaunt, von einer Großzügigkeit, die Gabrielle abgeht. Sie fühlt sich dafür zuständig, das Geld zusammenzuhalten und für das Seelenheil ihrer Lieben zu beten. Sie füllt das Haus mit Bildern der heiligen Thérèse von Lisieux, einer Karmeliterin, die mit vierundzwanzig Jahren an Tuberkulose starb. Gabrielle bringt ihren Kindern Gebete an diese Heilige bei, und viele Jahre später wird Jack Kerouac auf dem Höhepunkt seines literarischen Erfolges gegenüber dem Lyriker Philip Whalen bekennen, welchen Trost und Zuflucht für ihn die Gebete zu Thérèse und dem ›kleinen Lämmchen Jesus‹ bedeuten. Gewiss liegt in der von der Mutter zelebrierten Heiligenverehrung eine Wurzel für Kerouacs intensives Bedürfnis nach religiöser Erlösung.

      Seit September 1938 geht Jean-Louis in eine von Ordensschwestern geleitete Pfarrschule. Seine Lehrerin erscheint dem nervösen kleinen Jungen als ›ein großer schwarzer Engel mit gewaltigen flatternden Schwingen‹.4

      Gabrielle ist immer bereit, sich für die Familie zu opfern, kann aber ihre Opfer auch eiskalt vorrechnen und mit Herrschaftsanspruch einklagen. Als Widerpart zu ihr, dem Gefühlsseligkeit und Stallwärme verbreitenden Muttertier, verkörpert der Vater in dieser Familie das Element des Gewagten-Unangepassten. Aber auch etwas Unseriöses haftet Leo an. Ein Besserwisser, ein Schwadroneur, ein Hansdampf in allen Gassen. Man zieht häufig um, und die verschiedenen Wohngegenden kennzeichnen einen allmählichen sozialen Abstieg. Die längsten Zeitabschnitte seiner Kindheit verbringt Jean-Louis oder Jack in dem eher etwas schäbigen Viertel der Canucks, in Pawtucketville. Über das Familienidyll, wie es sich Gabrielle, die nun zeit ihres Lebens Mémère genannt wird, wünschen würde, fallen immer bedrohlichere Schatten. Nicht nur aus Adelsstolz hat Jack später auf das Motto im Familienwappen der Keroaucs verwiesen, das lautet ›Aimer, Travailler et Souffrir‹.5

      Tatsächlich treffen die Stichworte ›Lieben, Arbeiten, Leiden‹ auf die Generation seiner Eltern und auf sein eigenes Leben zu.

      Bezeichnenderweise sind seine frühesten Kindheitserinnerungen die an einen hungrigen Gassenjungen, der Plourdes hieß und den der Bruder mit heimbrachte, um ihn mit Mémères Butterbroten zu füttern. - Plourdes: Jack wird diesen Namen nie vergessen, weil er für ihn alle Verzweiflung, die offen zutage liegende schmerzende Hoffnungslosigkeit und den kalten, entmutigenden Kummer von Lowell enthält.

      Eine andere frühe Erinnerung ist die an das (traurig braune Haus in der Beaulieu Street, an Erde, Zeit und Gräber).6

      Angeblich steht das Haus auf einem alten Friedhof, und der Dreijährige hört Geistergeschichten über das Gebäude von seinem Bruder Gerard. Kein Wunder, wenn Nins Puppen manchmal plötzlich wackeln oder das Geschirr in der Küche scheppert. Gerard erklärt dies mit der Tätigkeit der Totengeister, die unter dem Haus wohnen. Auch die frühe Erfahrung des Magisch-Unheimlichen führt zur Frage nach der Macht von Gut und Böse. Offenbar hat sich der kleine Jack, dazu angeleitet von seinem älteren Bruder, daran gewöhnt, solche spiritistischen Phänomene als die sich in der Realität manifestierenden Kundgebungen böser Mächte aufzufassen.

      In der Grundschule liest Jack die populären Kinderbücher seiner Zeit, alle von geringem literarischen Wert, aber von Lehrern und Eltern als Unterstützung ihrer moralischen Vorhaltungen sehr geschätzt.

      Bald aber fühlt er sich weit mehr von den Groschenheften angezogen, die Street & Smith und andere Verleger wöchentlich herausbringen. Man bekommt sie am Zeitungskiosk, aber auch in Lebensmittelgeschäften, in Lowell spas genannt, zu kaufen. Der Romanheld, der Jack am meisten imponiert, ist Lamont Cranston, The Shadow, der darum weiß, wie viel Böses im Bewusstsein der Menschen verführerisch sein Unwesen treibt. Er hat die Macht, die Gedanken der Menschen mit einem Nebel zu überziehen, um dann den Kampf gegen das Böse besser führen zu können.

      An Frühlings- und Sommertagen erstrecken sich Jacks von den ›Shadow‹-Geschichten inspirierte Tagträume von den Sandbänken des Merrimack zu den Wäldern von Dracut, von den Villen in der Wannalancet Street bis zum Waisenhaus auf dem Hügel, das er in ein Schloss verwandelt, bevölkert von Vampiren und den Erzfeinden seines Shadow-Helden, des Doctor Sax.