Bilder aus dem Berliner Leben. Julius Rodenberg

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Название Bilder aus dem Berliner Leben
Автор произведения Julius Rodenberg
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783864080883



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wimmelt von Kindern, die sich beim Spiele vergnügen: Kinder aus dem Volk, Mädchen im Kattunkleidchen, Knaben in linnenen54 Jacken. Die Mütter haben meist ernste, schmächtige Gesichter, auf denen die Spuren der Arbeit und des Nachtwachens zu lesen sind. Sie hören früh auf, jung zu sein. Alte Frauen sitzen mit dem Strickstrumpf auf den Bänken oder im Gras unter den Bäumen. Das sind Erscheinungen, die man nicht im Tiergarten sieht. Der Friedrichshain hat nicht das Privileg der Jahrhunderte wie der Tiergarten. Dieser war ein alter, königlicher Forst und misst heute noch eine bis zwei Stunden im Umfang. Von unsren aristokratischen Quartieren begrenzt oder umgeben, gewährt er in seinem Schoße zu gewissen Stunden des Tages den Anblick der Eleganz, zu andren den der vornehmen Ruhe. Von ganz verschiedener Art ist der Friedrichshain: eine Schöpfung der Stadt, zur Säkularfeier55 der Thronbesteigung Friedrichs des Großen, dient er nicht dem Luxus, sondern allein dem Wohlergehen und der Gesundheit eines großen Teiles unserer Bevölkerung. Er trägt den Geruch des Grüns, den Sauerstoff der Waldluft in enge, dichtbewohnte Straßen. Auch unterschätze man nicht die moralische Bedeutung, welche die Nachbarschaft eines solchen Stückes Natur für den Großstädter hat. Der »Hain« ist eine Wohltat für diese Gegend und ihr Stolz. Denn obgleich von geringerer Ausdehnung als der Park im Westen, entbehrt er doch keineswegs der landschaftlichen Reize. Seine Bäume stehen in der Fülle der Kraft, und sein hügeliges Terrain bildet eine wechselnde Szenerie, wie man sie nicht bald zum zweiten Mal in Berlin hat. Gutgepflanzter Rasen gleitet sanft an den Abhängen nieder und bedeckt mit seinem hellgrünen Sammet56 weite Flächen; beständig öffnen sich neue Durchblicke, man wandert bergauf, bergab durch duftendes Gesträuch und kommt zuweilen an Stellen, so lauschig und einsam, dass man meint, das Reh müsse heraustreten an den Rand der Lichtung. Dann wieder in einer Staubwolke, welche die Sonne vergoldet, bewegen sich Hunderte kleiner Gestalten: Kinder sind es, die hier in der Mitte des Hains, um das Bronzebild unseres Königs, des großen Friedrich, den Ringelreihen tanzen, Festungen aus Sand bauen, sich haschen und entlaufen. Ehepaare und Liebespaare (denn auch diesen ist der »Hain« geheiligt) füllen die Bänke des Rondells; nicht weit davon ist ein hübsches Zelt errichtet, in welchem Milch zu haben ist, frisch von der Quelle, und auf einer Anhöhe, mit den Laubmassen und Wiesen zu seinen Füßen, steht in freier und luftiger Lage das städtische Krankenhaus57, dessen rotes Mauerwerk weithin sichtbar ist durch das Grün, dessen stiller, weißer Hof auch die Kinder zur Ruhe mahnt, wenn sich eines von seinem Spielplatz hierher verirrt.

      Noch ein stiller Ort ist hier und nicht leicht zu finden durch das umgebende Gebüsch, aber immer noch besucht in den Sommerabendstunden, wenn das langsam scheidende Licht die Herzen milder stimmt und die Seelen versöhnlicher. Es ist der Begräbnisplatz58 der in den Märztagen des Jahres 1848 gefallenen Kämpfer aus dem Volke. Wie trauerte Berlin, als dieser Zug von 183 Särgen, von der neuen Kirche her, durch seine Straßen ging, er voran, der furchtlose Geistliche, Dr. Sydow, den ich in seinen letzten Lebensjahren noch so gut gekannt und so manchmal gesehen habe, wenn er, auch in seinem hohen Alter noch eine imposante, ehrfurchtgebietende Erscheinung, mir gegenüber, auf dem Balkon seiner Wohnung am Matthäikirchplatz, ein schwarzes Käppchen auf dem Silberhaar, friedlich zwischen seinen Blumen saß und – am Tag des Herrn – andächtig dem Orgelklang und Choral lauschte, die aus der benachbarten Kirche so lieblich durch den Sonntagmorgen tönten. Damals, an jenem Märzmittage, war seine Stimme laut und gewaltig, als er diese Toten wie »Samenkörner der Zukunft« in die Erde senkte; doch die Stimme ist verhallt, und still auch ist es hier geworden. Den Soldaten, welche die Opfer dieser unseligen Kämpfe wurden, ist ein Nationaldenkmal errichtet worden im Park der Invaliden; diese hier haben kein anderes Denkmal als halbeingesunkene Gräber und da und dort einen verwelkten Kranz. Und es ist gut so; denn was wäre zu sagen von der eisernen Notwendigkeit, welche den einen Ruhm und den andern nichts gewährt als Vergessenheit? »‘s gibt Gräber, wo die Klage schweigt.«59 Ein immerwährendes Dunkel herrscht hier unter den dicht verschlungenen Zweigen, die selbst den Strahlen der Abendsonne den Zugang wehren und nur einen vereinzelten Tropfen des roten Lichts auf Kreuz oder Leichenstein versprengen. Denn ohne Unterschied der Konfession ruhen die Toten hier, meist Männer aus den niederen und mittleren Ständen, Arbeiter jeder Art, Maschinenarbeiter, Kattundrucker, Buchdrucker, Buchhalter – nicht wenige darunter, die den Anfang der Zwanzig kaum überschritten. Von vielen, die hier bestattet worden, waren die Namen nicht mehr zu ermitteln – es sind die Gräber der »unbekannten Männer«. Ebenso sind viele von den Inschriften unleserlich geworden, aber wo man sie noch entziffern kann, ist die Geschichte, die sie erzählen, rührend und kurz. »Hier ruhet mein lieber Mann« – »dem gefallenen Bruder« – »unserm guten Sohn, gestorben den 18. März 1848 für Freiheit und Recht an einem Schuss durch die Brust.« Auch ein Mädchen liegt hier unter den Männern: »Unsere innigst geliebte Tochter und Schwester«. Wer war sie? Führte Hass sie auf die Barrikade oder Liebe, oder hat blinder Zufall die Kugel gelenkt, die sie getötet? Und wer löst mir folgendes Rätsel: »N. N., wurde am 18. März 1848 in der Wohnung seines Stiefbruders von einem Manne durch einen Schuss tödlich verwundet und starb am 20. März 1848.« Eine Buche, die in der Mitte der Gräber steht, streckt ihre Äste fast über den ganzen kleinen Raum. Ebereschen lassen ihre Zweige herabhängen, und Fliedergebüsch schließt sich an beiden Seiten zum Dach. Ein hölzernes Türchen verwahrt den Eingang, und auf den Planken neben demselben hat sich ein Pärchen niedergelassen, das von allen Plätzen des Friedrichshains sich diesen ausgewählt hat, um ungestört – zu lesen. Das Buch, welches sie in der Hand halten, scheint mir so wenig jenes von Lanzelot und Ginevra60 zu sein, als die beiden, die es lesen, Ähnlichkeit haben mit Francesca und Paolo61. Dennoch ahne ich, was geschehen wird, sobald die letzten Spaziergänger sich von den Gräbern entfernt haben. »An jenem Tage lasen wir nicht weiter.«62

      Nun den Hügel hinab, und wir sind wieder in der vollen Bewegung des Sonntags vor dem Tore, in der Landsberger Allee. Dies ist eine jener Berliner Vorstadtstraßen, die sich unbemerkt ins freie Feld verlaufen. Eine bejahrte Windmühle mit einem Müllerhäuschen steht neben einem ungeheueren Eckhaus neuester Konstruktion, welches zwanzig Fenster Front und fünf Stockwerke hat, gegenüber ist Baugrund, über welchem sich ein unbegrenzter Horizont wölbt. Die Schornsteine des böhmischen Brauhauses63, zierlich wie die Türmchen der Alhambra, ragen in die Luft neben den gewaltigen Schloten der Patzenhoferschen Brauerei64. Gärten sind rechts und links, in welchen Tausende Platz finden können und heut, an dem warmen Sommersonntagabend, wohl auch Platz gefunden haben. Wandernde Massen bedecken das Trottoir. Vier, fünf Weißbierlokale liegen hier in einer Reihe nebeneinander, jedes mit dem altehrwürdigen Motto: »Hier können Familien Kaffee kochen.« Die Zeit des Kaffees ist indessen vorüber und die des Abendbrotes gekommen. An langen Tischen unter den Kastanien haben sich ganze Haushaltungen niedergelassen und sprechen dem Imbiss zu, welchen die sorgliche Mutter aus Körben und Papieren heraus wickelt. Denn in diesen Lokalen bringt man sich sein Essen mit. Außerdem kann man im Garten und vor demselben alles Mögliche zur Vervollständigung des Mahles haben: in dem Bretterhäuschen am Eingang »warme Würstchen« frisch aus dem brodelnden Kessel, in der Bude gegenüber Kuchen und Gebäck, von der Alten auf der Straße Radieschen. »Et sind de letzten vor dies Jahr«, sagt sie, »aber et ist ooch wat Juts.« Die »Weiße«65 geht von Hand zu Hand; selbst die Kinder, die sich im Hintergarten tummeln, kommen zuweilen gelaufen und nehmen einen Schluck, wobei sie das große Glas ganz kunstgerecht zu führen wissen. Neben dem Hausherrn steht noch ein Kümmel extra, neben der Hausfrau liegt nicht selten ein Milchfläschchen für den mitgebrachten Säugling, und fast auf jedem Tische sieht man einen Blumentopf. Im Hintergarten ist die Schaukel, die Würfelbude, die Kegelbahn, die Rutschbahn, die Kaffeeküche mit Waschkörben voll Tassen und Kannen, und ein Verschlag, hinter welchem Hühner gackern, Tauben fliegen und ein Hund an der Kette liegt. »Der Hund beißt«, ist mit großen Buchstaben an die Bretterwand geschrieben. Zufrieden und müßig sitzen diese Leute beisammen. Die Frauen stricken, die Männer spielen Karten. Kein übermäßiger Lärm und Tumult ist hier wie vor den Toren im Norden und Süden Berlins; und am Montag, wo doch sonst überall »blau« gemacht wird, sind diese Lokale fast leer. Die Bevölkerung des Nordostens ist eine gesetzte. Man sieht es diesen Familien wohl an, dass sie, wenn nicht Überfluss, doch auch keinen Mangel haben, dass das Handwerk sie nährt. Ihre Vergnügungen sind von einer ruhigeren und solideren Beschaffenheit als diejenigen der meisten andern Vorstädte, und die Landsberger Allee hat nichts von dem jahrmarktsartigen Aussehen der Hasenheide und wenig