Tödliche Flaschenpost & Tausend Träume. Susanne Limbach

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Название Tödliche Flaschenpost & Tausend Träume
Автор произведения Susanne Limbach
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783942672252



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keine sechs. Nein, Nina ist keine Schlampe, sie überredet mich zu nichts, wenn sie in den Brunnen springt, springe ich noch lange nicht hinterher.“

      Vorwurfsvoll schleuderten die Worte mir entgegen und es gab kein Schutzschild, das mich vor ihnen geschützt hätte.

      Diese Jetztzeit ist mir so fremd, manchmal habe ich das Gefühl, die Hauptdarstellerin in einem scheußlichen Plot ohne Happy End zu sein.

      Vorsichtig ziehe ich die Linien meiner Lippen nach und male sie mit dem Lippenpinsel kräftig aus. Der perfekte Glücksmund hebt sich deutlich von meiner Inszenierung ab.

      „Hoffentlich hast du meinen schwarzen Anzug gebügelt.“

      Bruno stampft ins Zimmer, reißt die Kleiderschranktür mit Schwung auf, lacht über seinen eigenen Witz und fällt fast hinten über.

      „Brauche ich auch noch eine Krawatte?“

      „Du kannst auch im Jogger gehen.“

      Bruno, der pragmatische Fünfundvierziger, der nie ein Ladykiller sein wollte. Bruno, der seine Familie über alles liebt und doch wenig Zeit mit ihr verbringen kann. Der falsch unter der Dusche singt und immer den richtigen Ton trifft. Der in allen zwanzig Rosen steckt, obwohl er ihren Geruch nicht ausstehen kann.

      „Laura hat Schluss gemacht.“

      „Mit Daniel, das war doch ein ganz patentes Kerlchen“, überrascht zieht er seine dichten Augenbrauen hoch und schält sich dabei umständlich aus seinem Pullover.

      „Mit Patrick. Daniel ist leider schon längst Geschichte“, kopfschüttelnd beobachte ich den Mann im Spiegel.

      „Anna, lass sie einfach mal in Ruhe, sie muss sich selbst finden.“

      „Und die Steine wirft sie mir, auf ihrem Weg dorthin, genau vor die Schienbeine.“

      „Du musst Geduld mit ihr haben, sie provoziert dich nur, will selbst entscheiden können. Du nimmst ihr die Luft zum Atmen, lass sie endlich frei!“

      Dieses Wort möchte ich nicht hören, sie ist doch mein kleines Mädchen, mein Baby, das mir niemals schlaflose Nächte bereitet hat. Mein Kind, auf das ich immer zählen konnte. Das stets pünktlich, lieb und ehrlich war.

      „Sagt dir der Name Zumba etwas?“, frage ich ihn und ernte eine hochgezogene Augenbraue.

      „Kann man das essen? Dann hört es sich schön scharf an.“

      Typisch.

      Eine weitere Erinnerung rast wie ein Intercity in das Zimmer und ich sehe die Bilder ganz deutlich vor mir. Laura läuft weinend durch ihren Kindergarten, weil sie ihre Gruppe einfach nicht mehr finden konnte. Eine Erzieherin entdeckt sie unter der Treppe hockend und schluchzend. Sie nimmt Laura an die Hand und sie gehen gemeinsam durch alle Räume des Kindergartens, bis plötzlich ein erleichtertes „Ja, hier ist mein Hause“ ertönt. Diese Geschichte hatte sich im ganzen Dorf herumgesprochen und wir nannten auch unser Haus seitdem nur noch „Hause“.

      Die Vorhänge bauschen sich im Wind und lassen die Erinnerung als alte Dampflok davonzischen. Ich möchte mich am liebsten in ein Abteil hineinsetzen. Traurig blicke ich ihnen hinterher: den Pantoffeln mit Filznase, den bunten Socken mit Loch, den Barbiepuppen mit Glitzerklamotten und dem König der Löwen.

      „Die Lehrerin hat mich heute Morgen angerufen, sie stört ständig den Unterricht, gibt patzige Antworten, ihre Noten fallen immer mehr ab, sie hat eine Mitschülerin verprügelt und sie macht manchmal blau“, sage ich stattdessen schon fast verzweifelt.

      „Wir reden morgen mit ihr, wir sind immer noch eine Familie, sie ist genau wie du, provozierend und unsicher, immer auf der Suche nach ein bisschen Spaß, nach Action. Du magst es doch auch nicht ruhig und langweilig, warum beschwerst du dich denn, sie hat dein Blut.“ An seinem warmen Händedruck auf meinen verspannten Schultern bemerke ich, dass er längst hinter mir steht und mein Spiegelbild anlächelt.

      „Ja, das waren wir vielleicht einmal“, flüstere ich.

      „Sie ist ein kleines Mädchen, das erwachsen werden will und nicht weiß, wie das geht“, sagt er und küsst mich in den Nacken.

      „Maaaaaaammmmmaaaa“, Lauras schriller Schrei hallt durch das ganze Haus, wir zucken erschrocken zusammen und starren auf die Tür. Schon stürmt sie hindurch, blickt auf den Rosenstrauß und peilt uns mit rasiermesserscharfem Blick an.

      „Geile Blumen, von dir, Papa?“

      Bruno lächelt geschmeichelt und ich hätte am liebsten geheult.

      Sie hat sich schon wieder die Haare gefärbt.

      „Ich dachte, ich hätte euch verpasst“, sagt sie, noch ganz außer Atem. „Dennis holt mich erst morgen ab, wir gehen ins Kino, der absolut coolste Typ der Schule, megagenialer Style, heute Abend hätte ich noch frei … Ähhhh, für euch.“

      Fassungslos starren wir in ihre ausgestreckte Hand, in der zwei glanzlose Ringe liegen.

      „Okay, die sind jetzt nicht von Joop, aber auch nicht aus dem Kaugummiautomaten. Sie werden glänzen, wenn ihr sie tragt.“

      Hinter diesen hellblauen Teenageraugen entdecke ich plötzlich eine fast erwachsene Frau und die Erkenntnis trifft mich wie eine Keule. Sie hat nicht vergessen, dass uns die Eheringe vor zwei Jahren aus einem Hotelzimmer gestohlen wurden.

      Tränen ziehen eine helle Spur durch mein restauriertes Gesicht. Sie steckt uns die Ringe an, ich versuche den viel zu großen Ring an meinem Finger zu halten, während Bruno seinen über den Finger quetscht, ohne dabei das Gesicht schmerzhaft zu verziehen. Sie strahlt und ich weiß wieder, wie wunderschön sie ist. Bruno küsst sein Ebenbild auf die Wange und blickt dabei verstohlen auf die Uhr. Unser Tisch wird heute für drei gedeckt und mit einem Familienband aus robustem Damast verziert sein.

      „Hier ist mein Hause, Mama“, sagt sie zu mir und lächelt immer noch.

      Ich schließe Laura ganz fest in meine Arme, sie lässt es endlich zu, drücke ihren schmalen Körper immer fester an mich, um sie loszulassen.

      Sie saß auf ihrer Fensterbank, denn von dort hatte sie einen schönen Blick in den Garten. Ihre Mutter hatte ihn mit englischen Rosen und zu Kugeln geschnittenem Buchsbaum verziert. Alles blühte noch in voller Pracht, der September war fast vorüber.

      Julia hatte den Knopf ihrer Jeans offen gelassen und zuckte leicht zusammen. Der kleine Silberring in ihrem Bauchnabel brannte noch ein wenig, wenn sie mit den Fingern daran drehte. Endlich hatte sie die Erlaubnis ihrer Mutter bekommen und sich ein Piercing machen lassen, so wie ihre Freundinnen Anna und Lisa eines besaßen. Sie teilte alles mit ihren Freundinnen, in guten wie in schlechten Zeiten, sagten sie sich immer.

      Auf ihrem Glastisch summte schon wieder ihr Handy, jemand versuchte den ganzen Nachmittag, sie zu erreichen. Vielleicht war es Florian, der Neue in ihrer Klasse?

      Julia musste schmunzeln, wenn sie an ihn dachte und in ihrem Bauch flatterten tausend kleine Schmetterlinge. Sie hatte sich für heute Abend mit ihren Freundinnen in der Disco verabredet, ob er auch da sein würde?

      Sie traute sich nicht, einen Blick auf das Display ihres Handys zu werfen, weil sie insgeheim hoffte, dass er es sein würde. Aber sie war seit einem Jahr mit Benedikt zusammen. Eigentlich war sie glücklich, er war nett und erfüllte ihr jeden Wunsch. Er wolle ewig mit ihr zusammenbleiben, das sagte er ihr immer wieder. Es war schön mit ihm, aber langweilig.

      Er war für drei Wochen auf einem Lehrgang in München. Er war weit weg, warum also sollte sie zu Hause bleiben?

      Sie rutschte von der Fensterbank und suchte sich ein bauchfreies Oberteil aus ihrem Kleiderschrank. Heute morgen hatte sie sich eine Hüfthose gekauft, die ihr Piercing richtig zur Geltung bringen würde. Mit ihrer Zahnbürste im Mund schaute sie wieder aus dem Fenster und streifte den Garten ihrer Nachbarin. Die arme alte Frau Boisenberg hatte vor einem halben Jahr ihren geliebten Mann verloren. Julia hatte ihn auch sehr gemocht. Als sie noch klein gewesen war,