Tödliche Flaschenpost & Tausend Träume. Susanne Limbach

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Название Tödliche Flaschenpost & Tausend Träume
Автор произведения Susanne Limbach
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783942672252



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wie eine Sonette in der modrigen Luft. Sie erzählte von früher, von ihrem Zuhause, von den Freundinnen und den pingeligen, aber gutmütigen Nachbarn. Von Erdbeereis im Hörnchen, Urlaub an der Ostsee, Omas Biersuppe und Brausebonbons mit Himbeergeschmack.

      Die leeren Bierflaschen im Schlafzimmer, den ewig laufenden Fernseher, den Geruch nach abgestandenem Zigarettenqualm und die abgelaufenen Joghurts im Kühlschrank ihres jetzigen Lebens, erwähnte sie nicht.

      Und auch Kalle fing zu erzählen an.

      „Ich war schon imma aufm Pütt, hab ständig schwarzen Ruß unterm Auge. Ich wohne in Bochum, inne Zechensiedlung, wo alle Häuser grau und gleich aussehen. Es brodelt ständig hier im Revier, mal im Hochofen, mal im Erbsensuppenpott, odda auch ma inne Kneipe. Wenn der Himmel glutrot iss, sagen wir widda, Christkind backt Plätzcken.“

      Paula versank in seinen Geschichten, die sie wesentlich spannender als die acht Bände von Harry Potter fand. Die hatte sie sich in der Schulbibliothek einmal ausgeliehen.

      Er erzählte mit seinem Ruhrpottdialekt. Von der Früh- und Nachtschicht, von seinen Kumpels, mit denen er die Hälfte seines Lebens verbrachte. Den aufgehängten Broten in ihren fest zugeschnürten Stoffbeuteln, damit sich keine Ratten darüber hermachen konnten. Dem sturen Steiger, der immer nur herummotzte und den sie alle heimlich Karlarsch nannten. Von der Waschkaue, in denen sie laut die aktuellen Hitparadenlieder sangen, von dem Bienenstich, den nur Willis Frau so vorzüglich backen konnte und dem Stielmus, deren vordersten Platz nun unangefochten die Frau von Jupp hielt. Von der monatlichen Lohntüte, die so manch einer schon nach acht Tagen wieder leer gemacht hatte und sich hier und da mal einen Heiermann leihen musste.

      Was war denn ein Heiermann?, dachte Paula. Kalle erzählte auch von der Hitze unter Tage und dem Dreck, der wie eine zweite Haut zu ihm gehörte und seinem Alltag den nötigen Bestand und Halt lieferte. Der ihm den nötigen Respekt für seine Zeit unter Tage zollte, ihn wachsam sein ließ und ihn zu einem Teil des Ganzen machte.

      Nach einer weiteren Stunde musste Paula sich wirklich auf den verhassten Heimweg machen, mit dem Versprechen, am nächsten Tag wieder herzukommen.

      Was sie auch tat.

      So wurden sie zu einem Team. Sie hatte endlich jemanden, mit dem sie reden konnte, der ihre Ängste verstand und ihr Mut für die Zukunft machte.

      Der ihr befahl, niemals aufzugeben und die Kumpels nie im Stich zu lassen. Manchmal fragte sie sich, von welchen Kumpels er denn redete. Sie sah jedenfalls nie einen, der ihm nur im Entferntesten ähnlich sah. Sie wollte ihn auch nicht fragen, in welcher Sohle seine Kumpels gerade waren. Das war ihr egal, sie schöpfte wieder neuen Lebensmut und besuchte bald eine Klavier-AG in der Schule, die vom Förderverein unterstützt wurde. Auch wenn Lea spottete, lachte Paula nun umso lauter und ließ sie verwirrt hinter sich stehen. Sie bekam neues Selbstvertrauen. Wenn ihre Mutter wieder zu jammern anfing, dass sie eine neue Hose brauche, sagte Paula nur: „Du hast doch mich“, legte die Arme um ihren Hals und küsste sie auf die Wange.

      Ab und zu blitzte wieder die alte, die couragierte Mutter hinter ihren traurigen Augen hervor und applaudierte Paula.

      Und plötzlich wusste sie, es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis ihre Familie wieder Halt finden würde, auch wenn der Abgrund immer noch mit schlüpfrigen Stellen lockte.

      Ihre Mutter und sie würden sich festhalten können.

      Jeden, den sie auf der Straße traf, begrüßte sie mit „Glück auf!“

      Die Leute, die zu Anfang nur kopfschüttelnd an ihr vorübergingen, lächelten und grüßten sie bald zurück.

      Einer muss immer den Anfang machen, dachte Paula.

      Deshalb rief sie schon von Weitem laut „Glück auf“ in den verlassenen Schacht und wartete auf Kalle, auf ihren Freund, ihren Kumpel.

      „Keine Kohle, nee datt gaabes bei uns nich, höchstens zu wenig Mettwurst im Eintopf. Man muss mit dem auskommen, watt man hatt und nich, watt man haben will. Watt man sich nich erlauben kann. Kär, watt haben wir imma malocht inne Schicht.“

      Kalle hatte dieses Mal einen besonders prall gefüllten Stoffbeutel bei sich und breitete seine Schätze direkt vor Paulas Füßen aus. Sie aßen Fleischwurstbrote mit Gürkchen, Mettbrötchen mit Zwiebeln und Käsestullen mit Butter.

      Zwischen lautem Geschmatze und leisen Rülpsern erzählte Kalle wieder von einer Schicht, die ihm fast seinen besten Kumpel gekostet hätte.

      „Datt war eigentlich ein ganz normaler Tach, einer, an dene widda an Gott glaubs. Ein Tach, der ne schnelle Schicht und ein frisch Gezapftes am Abend versprach. Es ging widda im Heidentempo inne achte Sohle, ich hatte gleich sonn flaues Gefühl inne Magengegend, als ich meinen Riecher so inne Luft gehalten hab. Datt riecht nach Ärger, hab ich so bei mir gedacht und schon gabs einen Rumms sach ich dir, da wären dir vor lauter Angst die Zwiebeln aussm Mett gesprungen. Ich renn in den Schacht und brülle los, Karlarsch brüllt hinter mir her, abba ich renn weiter, huste, spucke, weil ich nur noch den verdammten Staub einatme. Renn weiter, nur noch nach Gefühl. Eine Decke iss eingestürzt, wie Streichhölzer sind die Holzbalken eingeknickt. Verdammich, denke ich bei mir und brülle nur noch Jupp, wo bisse, sach watt, gib mir Zeichen! Karlarsch war der Erste am Aufzug, der Erste, der mit ein paar Kumpels widda hochgefahren iss. Da iss keiner mehr, höre ich die anderen. Ich abba weiter, Jupp musste hier irgendwo sein. Ich kriech getz, meine Knie spüre ich schon nich mehr, so wund sind die. Noch immer knackt und kracht es über mir und ehrlich gesacht, hätt ich mir beinah inne Hose geschissen, abba ich robbe weiter, huste, spucke, blinzle den Staub ausse Augen. Da seh ich watt und höre ein Stöhnen, Jupp. Der liecht unter einem Haufen Schutt und kann sich nicht selbst befreien.

      Ich brülle ihn an und schaufle mit bloßen Händen den Berch Schutt weg. Dann ziehe ich meinen Kumpel ausse Gefahrenzone und wir stolpern zurück, hinter uns rummst es wieder ohrenbetäubend.“

      Paula kaute mit offenem Mund und angezogenen Knien, Kalle schilderte weiter in spannenden Tönen die Flucht aus der achten Sohle und die Rettung seines Freundes Jupp.

      „Der wär glatt krepiert, wenn ich, wie Karlarsch, die Fliege gemacht hätte“, sagte er stolz und Paula bewunderte ihn noch mehr dafür.

      „Ich habe auch etwas zu berichten“, sagte Paula mit leuchtenden Augen.

      „Mein Vater hat eine Stelle im Museum der Zeche Zollern bekommen, er hat sich wieder im Griff, will seine Chance nutzen und aus dem Kreis ausbrechen. Er hat mich in den letzten Monaten beobachtet und erkannt, wie schwach er gegen seine kleine Tochter geworden war. Und hat meine gute Laune als Ansporn für sich genommen. Meine Mutter durfte ihm sogar die Haare schneiden. Sie haben das alte Klavier meines Opas stimmen lassen und mir geschenkt. Mein Vater sagte, dass unsere Eltern alle aus dem Pütt stammten und wir jetzt die Metropole Ruhr sind. Wir sind moderner geworden und können stolz auf unsere Region sein, auch in unserem Leben können und müssen wir ständig sanieren.“

      „Glück auf“, antwortete Kalle lächelnd und wurde plötzlich still.

      Abrupt, unheimlich und fremd.

      Paula gefror das Lächeln im Gesicht, aber sie konnte nicht mal genau sagen, warum.

      „Ab morgen bin ich nich mehr hier, muss widda ganz tief runter“, flüsterte er leise und blickte zu Boden: „Du komms auch getz ohne mich klar, da bin ich sicha. Du hass deine Familie gerettet, hast sie auch ausse achte Sohle widda hochgeholt. Familie ist das Wichtigste im Leben, du bissn echta Kumpel.“

      Paula starrte ihm hinterher, als er in den dunklen Schacht ging, unfähig, ihn aufzuhalten. Immer kleiner wurde seine Gestalt und die Grubenlampe verblasste, bis nur noch ein blassgelber Schimmer an den Wänden tanzte und schließlich einen dunklen Schacht hinterließ.

      Sie ging langsam zurück und trat in die helle Julisonne. Atmete tief ein und hätte fast eine Gruppe Rentner übersehen, die direkt auf den Eingang zuhielt.

      Noch nie war sie hier einer Menschenseele begegnet.

      „Glück auf“, grüßte sie und sah erst jetzt, dass alle Kerzen in den Händen hielten und sich