Tödliche Flaschenpost & Tausend Träume. Susanne Limbach

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Название Tödliche Flaschenpost & Tausend Träume
Автор произведения Susanne Limbach
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783942672252



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dabei“, sage ich leise.

      Ich küsse in Richtung des Grabsteines und gehe in mein altes Leben zurück.

      Unterwegs ziehe ich die Pumps aus und laufe barfuß weiter.

      Scheißspiel.

      Am Ende des Tages wusste sie nicht einmal mehr, wie sie hierher gekommen war. Dunkle Schatten, Kälte, ein modriger Geruch umgaben sie. Auch wenn sie ihre abgetragene, längst um ein paar Nummern zu kleine Jacke bis zum Hals zuzog, wollte die Kälte mit eisigen Fingern nach ihr greifen.

      Eine einsame Träne fiel auf ihre zerschlissene Jeans.

      Paula wischte sich die nächste Träne energisch aus dem Auge, zog die Nase hoch und steckte den Kopf wieder zwischen ihre zitternden Knie. Wenn sich doch dieses blöde Leben auch einfach so wegwischen ließe!

      Seit einer Stunde saß sie schon hier und fragte sich, wie sie aus alldem wieder herauskommen sollte.

      Plötzlich hörte sie dieses schlurfende Geräusch in dem langen, schwarzen und unheimlichen Tunnel. Bestimmt eine fette Ratte, die hungrig durch die Gänge des stillgelegten Stollens kriecht, dachte sie. Vor diesen kleinen Tieren hatte sie keine Angst.

      Warum suchst du dir keinen Job, verdammt noch mal? Du kannst dich nicht ewig besaufen und nur noch vor dem Fernseher hocken. Ich schufte mir hier die Hacken ab und nichts bleibt übrig. Mein Vater hat in der Zeche Minister Stein malocht, der hat sich nicht unterkriegen lassen, als sie dichtgemacht haben. Wir hatten auch nie viel, aber wir haben zusammengehalten. Wann habe ich mir zum letzten Mal ein paar Schuhe gekauft? Scheiße, warum willst du kein Malocher sein, warum nicht mal unter deiner Würde arbeiten, tu endlich was. Aber tu es, oder sollen wir ewig so weiter leben? Eine Führungsposition in der Chefetage muss es doch nicht sein, nicht für mich und schon gar nicht für Paula.

      Immer wieder hörte Paula die Wörter, die ihre Mutter gesagt hatte. Sah den gequälten Ausdruck in den haselnussbraunen Augen ihres Vaters, die früher listig und unberechenbar gefunkelt hatten. Die eine Überlegenheit und Standhaftigkeit ausgestrahlt hatten, denen niemand etwas anhaben konnte. Bis zu dem Fehler, den er bei einem seiner Geschäfte gemacht und sich damit übernommen hatte.

      Weswegen er ohne einen gewissen Alkoholpegel nicht mehr auskommen konnte.

      Daraufhin hatte er angefangen mit anderen Dingen zu spielen. Im Casino Hohensyburg hatte er sein allerletztes Geld verspielt.

      Davor hatte Paula Angst, vor der Hoffnungslosigkeit in den Augen ihrer Mutter und dem unausweichlichen und tödlichen Aufschlag ihres Vaters.

      Wieder das gleiche Geräusch, Paula sprang auf und starrte in das schwarze Loch. Am liebsten wäre sie hinausgelaufen, aber wo sollte sie hingehen? Kein Mädchen in ihrer Klasse wollte etwas mit ihr zu tun haben. Paula besaß keine Markenjacken, kein Handy und erst recht keinen iPod. Sie konnte mit den anderen Kindern nicht mithalten. Wohnte seit einem Jahr in einem schäbigen Hochhaus in der Nordstadt, einem Hochhaus, das Paula wie ein stinkendes Ungeheuer vorkam. Überall roch es nach Essensresten, Zigaretten, leeren Bierflaschen, altem Urin und Trostlosigkeit. Wenn sie nichts unternehmen würde, würde das Ungeheuer sie langsam, aber sicher auffressen.

      Da wohnen nur die Opfer, du Opfer, hatte Lea eines Tages zu ihr gesagt. Ein gemeines Mädchen aus ihrer Klasse, die im privilegierten Kreuzviertel wohnte. Sie war wirklich zu einem Opfer geworden, zu einem Hartz-IV-Opfer, wie ihre Mutter einmal geschluchzt hatte.

      Paula erinnerte sich noch an die glückliche Zeit, als ihr Vater immer in Anzug und Krawatte aus dem Haus gegangen war. Das war ein ganz anderes Leben gewesen.

      Sie hatten in einem Einfamilienhaus in Brackel gewohnt. Einem lustigen Haus, denn ihre Eltern hatten viel gelacht.

      Paula beschlich eine schreckliche Angst, denn sie konnte ihre beste Freundin Lotti nicht mehr besuchen, konnte mit ihrer Lieblingslehrerin nicht mehr sprechen. Sie besaßen auch kein Auto mehr. Ihr Leben war Paula fremd geworden. Selbst in diesem Zwielicht hier unten war es heller als in ihrem Kinderzimmer.

      „Hallo, ist da jemand?“, rief Paula zögernd in den schwarzen Schlund, sie schlich ein paar Schritte vorwärts und starrte einen festen Punkt am Ende des Ganges an. Plötzlich huschte ein Lichtkegel an der hinteren Wand vorbei, sie schrie auf und wollte schon panisch ins Freie stürzen, als auf einmal ein schwarzes Gesicht mit leuchtenden Augen aus dem Tunnel auftauchte. Die Gestalt trug einen Schutzhelm auf dem Kopf und war von oben bis unten voll schwarzem Dreck. Eine Lampe, die auf seinem Kopf saß, blendete sie. Um den Hals trug er ein Tuch von undefinierbarer Farbe.

      „Glück auf, Mädchen“, sagte die Gestalt und ihre weißen Zähne blitzten aus dem schmutzigen Gesicht hervor.

      Wollte dieser komische Typ sie etwa auch noch verspotten, so wie Lea es jeden Tag machte?

      „Wo ist das Glück?“, fragte sie trotzig und ging vorsichtshalber einen Schritt rückwärts. Der Mann musste ein Bergarbeiter sein, das hatte sie mal in einem Bildband gesehen. Komisch, dachte sie, diese Zeche wurde doch schon lange dichtgemacht. Ihr Opa hatte auch als Bergarbeiter gearbeitet.

      „Watt machse denn nu hier, gibz keine Spielplätze mehr im Pott, odda warum bisse hier im Dunkeln am rumsitzen?“

      Paula starrte ihn mit offenem Mund an und überlegte immer noch, ob sie lieber das Weite suchen sollte.

      „Mach die Klappe zu, deine Milchzähne werden sauer“, sagte er und begann die Felswand abzuklopfen. Den Spruch hatte sie schon einmal gehört, der war auf jeden Fall uralt. Paula hockte sich wieder in ihre Ecke und griff heimlich in ihre Jackentasche, die bereits ein Loch hatte. Sie krallte sich an dem dünnen Heft fest, so als ob er durch den fadenscheinigen Stoff blicken könnte. Aber der schwarze Mann war so sehr mit seinem Abklopfen beschäftigt, dass er es gar nicht bemerkte.

      „Willze ein Büttaken mit Leebawuast oder lieber ne Käsekniffte?“, fragte er über die Schulter hinweg. Erst jetzt fiel ihr auf, wie hungrig sie eigentlich war. Ein Leberwurstbrot hatte sie schon seit Ewigkeiten nicht mehr gegessen, es gab zu Hause oft Schmalzbrote. Ab und zu war auch mal die abgepackte Mortadella aus dem Angebot dabei. Paula schüttelte es bei dem Gedanken an ihr morgiges Frühstück. Ihre Mutter schlief immer lange, weil sie neben ihrer Putzstelle beim Stadtplanungsamt auch noch bei Saturn putzen ging. Paula machte sich allein ihr Frühstück, aber meistens ging sie nüchtern aus dem Haus. Wollte sie noch nach Hause gehen? Vielleicht könnte sie mit zu ihm? Wenn es dort Leberwurstbrote gab, dann war er bestimmt ein glücklicher Mensch. Sie wünschte sich auf einmal, dass er ihr Großvater wäre, der urplötzlich aufgetaucht war, um ihr zu helfen. Der vermeintliche Großvater klopfte noch ein paar Mal die Wand ab und drehte sich wieder zu ihr. Schlich sich an ihre Seite, rutschte an der Wand hinab und schaute sie an.

      „Du hass doch nich etwa getz Angst, odda? Ich bin der Kallheinz, abba meine Kumpels sagen Kalle zu mir“, damit streckte er ihr seine tiefschwarze Hand entgegen und Paula ergriff sie mit einem Urvertrauen, das sie gar nicht an sich kannte. Normalerweise war sie Fremden gegenüber immer distanziert und vorsichtig.

      Aber dieser Kalle hatte etwas so Vertrauliches an sich. „Hasse was mitgehen lassen, odda warum versteckse dich auf Minister Stein, in meinem Schacht?“

      Paula erschrak, deshalb kam er ihr so vertraut vor, er sprach genauso wie ihr Opa.

      Der, wie ihre Mutter immer lächelnd gesagt hatte, vom alten Schlag gewesen war. Der einen kleinen Schrebergarten in Eving und ein verstimmtes Klavier besessen hatte.

      Sie zog ihr Notenheft aus der Tasche.

      „Es ist nur die günstige Version, die für Fortgeschrittene. Ich habe mal gespielt“, sehnsüchtig dachte Paula an ihren wunderbaren Klavierunterricht.

      „Wenn ich nur spielen könnte!“, fast hätte sie wieder geweint. Aber das war ihr vor Kalle zu peinlich. Sie klammerte sich an dem Heft fest wie an einem Rettungsanker. Schlug es dann ehrfürchtig auf und fuhr mit schmuddeligen Fingerkuppen und abgenagten Fingernägeln darüber.

      Augenblicklich formten sich die Noten zu einem Klang und vollendeten in einer