Gespenster meines Lebens. Mark Fisher

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Название Gespenster meines Lebens
Автор произведения Mark Fisher
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783862871483



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der an Allmachtsphantasien festgehalten wird. Veränderungen wer­­den nur als Niedergang und Scheitern erfahren; die Verantwortung dafür wird dem migrantischen Anderen angelas­tet. (Hier ist die Inkohärenz unübersehbar: Wäre die Allmacht des postkolonialen Melancholikers real, welchen Scha­den könnten Migranten anrichten?) Bei oberflächlicher Betrachtung ließe sich die hauntologische Melancholie für eine Variante der postkolonialen halten: noch mehr weiße Jungs, die über den Verlust ihrer Privilegien jammern… Doch hieße das anzunehmen, angesichts des Abhandengekommenen könne sich einzig Ressentiment der schlimmsten Art zeigen – oder bestenfalls eine Haltung, die Alex Williams »negative Solidarität« genannt hat, die nicht ein Mehr an Freiheit zelebriert, sondern stattdessen bejubelt, dass auch andere nun schlechter dastehen (was umso trauriger ist, als es dabei im Wesentlichen um die Arbeiterklasse geht).26

      Nostalgische Verklärung?

      Das bringt uns zurück zum Thema: Ist Hauntology, wie manche kritischen Stimmen unterstellen, bloß ein anderer Name für Nostalgie? Geht es nur um die Sehnsucht nach dem Sozialstaat und seinen Institutionen? In Anbetracht der Allgegenwart der oben beschriebenen formalen Nostalgie muss die Frage doch lauten: Nostalgie nach was? Es erscheint ein wenig seltsam, begründen zu müssen, warum die Feststellung, die Gegenwart stehe im Vergleich zur Vergangenheit nicht besonders gut da, nicht automatisch als nostalgisch zu beanstanden ist, doch angesichts des enthistorisierenden Drucks, den Werbung und populistische Diskurse aufbauen, ist es gleichwohl notwendig. Werbung und Populismus propagieren im Grunde die relativistische Illusion, Intensität und Innovation seien in der Kultur zu allen Zeiten gleich verteilt. Was letztlich Nostalgie so unerträglich macht, ist die verbreitete Tendenz, die Vergangenheit zu überschätzen; doch gerade die 1970er Jahre sind eine Zeit, die fälschlicherweise eher unterschätzt wird. So zeigt Andy Beckett in seiner politischen Geschichte jenes Jahrzehnts in Großbritannien überzeugend, wie eine mythengetränkte Dä­monisierung der Siebziger zur Grundlage des kapitalistischen Realismus wird.27 Wer sich nicht an die Vergangenheit erinnern kann, ist dazu verdammt, immer wieder die gleichen Mythen verkauft zu bekommen, während umgekehrt die allgegenwärtige Werbung uns verleiten will, die Gegenwart zu verklären.

      Waren die Siebziger in vielerlei Hinsicht besser, als der Neoliberalismus uns glauben lassen möchte, so müssen wir zugleich anerkennen, dass die kapitalistische Dystopie in der Kultur des 21. Jahrhunderts nicht bloß aufgezwungen ist, sondern auch auf stillgestellten Wünschen gründet. »Fast alles, wovon ich in den vergangenen dreißig Jahren befürchtete, es könnte eintreten, ist eingetreten«, bemerkt Jeremy Gilbert, und fährt fort: »Alles, wovor meine politischen Mentoren gewarnt hatten, seit ich ein Junge war und in den frühen Achtzigern in einer traurigen Sozialsiedlung in Nordengland aufwuchs, oder was ich ein paar Jahre später, auf der Oberschule, in linken Zeitschriften an harten Vorwürfen gegen den Thatcherismus las, kam letztendlich ganz genauso schlimm wie vorhergesagt. Und dennoch wünsche ich mir keineswegs, vor vierzig Jahren zu leben. Das scheint genau der Punkt: Eine solche Welt hatten wir befürchtet, in gewisser Weise haben wir sie aber auch gewollt.«28 Doch die Alternative Internet oder soziale Sicherheit ist keine. Hauntology verweist in diesem Sinn darauf, dass die verlorene Zukunft keine solchen falschen Alternativen erzwingt; der Spuk ist das Phantom einer Welt, in der all die Wunderwerke der Informations- und Kommunika­tionstechnologie sich mit Formen gesellschaftlicher Solidarität kombinieren lassen, stärker als alles, was der Sozialstaat je anbieten konnte.

      Die Popmoderne steht keineswegs für ein abgeschlossenes Projekt im Zenit seiner Vollendung, das keiner weiteren Ausarbeitung bedurfte. Gewiss, in den 1970er Jahren fand eine Öffnung der Kultur für Beiträge der arbeitenden Klassen in einem Maß statt, das heute kaum noch vorstellbar ist; doch zugleich gehörten in jenen Jahren Rassismus, Sexismus und Homophobie im Mainstream zum ganz normalen Alltag. Natürlich waren die Kämpfe gegen Rassismus und (Hetero‑)Sexismus zwischenzeitlich nicht auf ganzer Linie erfolgreich, doch gibt es im Hinblick auf hegemoniale Mus­ter signifikante Fortschritte, während andererseits der Neoliberalismus die sozialstaatliche Infrastruktur zerstörte, die eine stärkere Beteiligung der Arbeiterklasse an der Kulturproduktion erlaubte. Tatsächlich ist die Desartikulation von Klasse, »Rasse«, Gender und sexueller Orientierung ganz zentral für den Erfolg des neoliberalen Projekts. Die Folge ist groteskerweise, dass es scheint, als ob der Neoliberalismus in gewisser Weise eine Vorbedingung für die errungenen Erfolge antirassistischer und anti-(hetero-)sexistischer Kämpfe wäre.

      Hauntology sehnt sich nicht nach einer bestimmten Zeit, sondern es geht dabei um das Wiederanknüpfen an Prozesse der Demokratisierung und Pluralisierung, wie Gilroy sie ein­fordert. Wir sollten uns vielleicht erinnern, dass der Sozialstaat nur im Rückblick als eine abgeschlossene Totalität erscheint; zu seiner Zeit hingegen war er ein Kompromiss, und die Linke sah in ihm bestenfalls einen provisorischen Brückenkopf für weitere Erfolge. Verfolgen sollte uns daher nicht das Nicht-mehr jenes einst real existierenden Sozialstaats, sondern vielmehr das Noch-nicht einer materiell nie eingetretenen Zukunft, die zu erwarten die Popmoderne uns gleichwohl lehrte. Diese Gespenster – die Gespenster einer verlorenen Zukunft – spuken in der formalen Nostalgie der Welt des kapitalistischen Realismus.

      Unverzichtbar für eine Annäherung an jene verlorene Zukunft bleibt die populäre Musikkultur. Die Betonung liegt dabei auf Kultur, denn es ist das gesamte kulturelle Umfeld (Mode, Diskurse, Cover-Art), das ebenso wichtig wie die Musik selbst ist, wenn es darum geht, verführerische, unbekannte Welten zu beschwören. Das Nicht-Befremden in der Musikkultur des 21. Jahrhunderts (die schreckliche Rückkehr von Multimillionären der Branche wie auch der Jungs von nebenan in den Pop-Mainstream; das Ansehen, das in der Pop-Unterhaltung »Realität« genießt; der zunehmende Hang der Akteure, was Kleidung und Aussehen angeht, als digital oder chirurgisch retuschierte Versionen gewöhnlicher Menschen aufzutreten; die übertriebene, bisweilen akro­batische Darstellung von Gefühlen beim Singen) spielt eine bedeutende Rolle, uns zu konditionieren, das Normalitätsmodell des Konsumkapitalismus anzuerkennen. Michael Hardt und Antonio Negri weisen darauf hin, dass in Auseinandersetzungen um »Rasse«, Gender und sexuelle Orientierung ein revolutionärer Standpunkt weit über die Forderung nach einer Anerkennung verschiedener Identitäten hinausgeht. Der »revolutionäre Prozess der Abschaffung von Identität ist monströs, gewaltsam und traumatisch. Versuche nicht dich selbst zu retten – tatsächlich muss dein Selbst geopfert werden! Das heißt nicht, dass die Befreiung uns in ein Meer der Indifferenz ohne Identifikationsobjekte wirft, aber die bestehenden Identitäten werden nicht mehr als Anker dienen.«29 Ganz zu Recht warnen Hardt und Negri vor den traumatischen Dimensionen dieser Transformation, doch birgt eine solche, wie die beiden Autoren ebenfalls unterstreichen, zugleich glückliche Aspekte. Im gesamten 20. Jahrhundert war die Musikkultur ein wichtiges Labor, um die Menschen darauf vorzubereiten, eine Zukunft zu begrüßen, die nicht länger weiß, männlich oder heterosexuell wäre, eine Zukunft, in der die Absage an Identitäten, die ohnehin nur dürftige Fiktion waren, beglückend und befreiend wirkte. Im 21. Jahrhundert hingegen beschränkt sich die populäre Musikkultur darauf – und die zunehmende Verschmelzung von Pop und Reality-TV ist in dieser Hinsicht bezeichnend –, die spätkapitalistische Subjektivität lediglich widerzuspiegeln.

      Es sollte an dieser Stelle bereits deutlich geworden sein, dass der Terminus Hauntology verschiedene Bedeutungen trägt. Es gibt den spezifischen, im Hinblick auf die populäre Musikkultur verwendeten Sinn, und ebenso gibt es die stärkere allgemeine Bedeutung, in der Hauntology sich auf Persistentes, Repetitives oder Präfiguratives bezieht. Und es gibt mehr oder weniger gutartige Varianten von Hauntology. Das vorliegende Buch wird sich zwischen diesen verschiedenen Bedeutungen bewegen.

      Das Buch handelt zudem von den Gespenstern meines Lebens, im hier Vorgetragenen gibt es daher notwendigerweise eine persönliche Dimension. Doch nehme ich das alte Motto »Das Persönliche ist politisch« als Aufforderung, nach den kulturellen, strukturellen und politischen Bedingungen der Subjektivität zu fragen. Die produktivste Art, das Persönliche politisch zu verstehen, ist, das Persönliche als nicht persönlich anzusehen. Es ist für uns alle elend, wir selbst sein zu müssen (und mehr noch, gezwungen zu sein, uns selbst zu vermarkten). Kultur und Kulturanalyse hat ihre Bedeutung nicht zuletzt dadurch, dass sie uns vor uns selbst zu entkommen erlaubt.

      Der