Gespenster meines Lebens. Mark Fisher

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Название Gespenster meines Lebens
Автор произведения Mark Fisher
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783862871483



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nicht zuletzt die Absicht, Geistergeschichten aus einem viktorianischen Umfeld herauszulösen und auf heutige belebte oder auch gerade verlassene Schauplätze zu verlagern. Ihr erwähnter letzter Auftrag führt die beiden Agenten zu einer kleinen Tankstelle. An den Fenstern und Wänden der Werkstatt und des angrenzenden Cafés prangen Firmenlogos: Access, 7 Up, Castrol GTX, LV. Dieser »Zwischenort« ist ein Paradebespiel dessen, was der Anthropologe Marc Augé 1992 in seiner gleichnamigen Studie Non-lieux, »Nicht-Orte«, nennen soll­te – typische Orte des Transits wie Einkaufszentren oder Flughäfen, wie sie die Räumlichkeit des Spätkapitalismus zu­nehmend bestimmen.4 Tatsächlich ist die provinzielle Tankstelle in Sapphire and Steel auf eine eigenartige Weise anheimelnd, verglichen jedenfalls mit den typischen geklonten Monstren, die sich in den darauffolgenden dreißig Jahren an den Autobahnen breit machten.

      Die Aufgabe, die auf Sapphire und Steel bei ihrem letzten Auftrag wartet, ist wie immer ein Problem in der Ordnung der Zeit. An der Tankstelle gibt es Echos aus der Vergangenheit: Ständig tauchen Bilder und Personen aus den Jahren 1925 und 1948 wieder auf, sodass, wie Silver, ein Agentenkollege der beiden Protagonisten, es formuliert, »die Zeiten sich auf eine Art vermischen, zusammenstoßen und durcheinandergeraten, die keinerlei Sinn ergibt«. Anachronismen und das Ineinanderrutschen einzelner, diskreter Zeitabschnitte markieren in der gesamten Serie symptomatisch den Zusammenbruch zeitlicher Ordnung. Bereits bei einem der vorhergehenden Aufträge bemängelte Steel nicht zuletzt die menschliche Angewohnheit, Gegenstände aus unterschiedlichen Epochen wahllos zusammenzustellen, löse solche zeitlichen Anomalien aus. Beim letzten Auftrag nun schlägt die anachronistische Störung in Stasis um: Die Zeit kommt zum Stillstand. Die Tankstelle befindet sich »in einem Loch, in einem Vakuum«. Noch immer »fahren Autos, doch sie fahren nirgendwohin«: Die Verkehrsgeräusche verschmelzen zu einem Brummen in einer akustischen Endlosschleife. »Zeit gibt es hier keine, jetzt nicht mehr«, stellt Silver fest. Die ganze Szenerie wirkt wie eine Eins-zu-eins-Übertragung eines Passus aus Harold Pinters Stück No Man’s Land: »Sie sind im Niemandsland. Das sich nie regt, sich nie ändert, nie älter wird, doch ewig bleibt, eisig und stumm.«5 Hammond berichtet, dass er eigentlich nicht beabsichtigt hatte, die Serie hier enden zu lassen. Er hatte gedacht, dass sie, nach einer Pause, irgendwann eine Fortsetzung finden würde. Doch es kam zu keiner Fortsetzung – jedenfalls nicht im Fernsehen. 2004 kehrten Sapphire und Steel in einer Hörspielreihe mit neuen Abenteuern zurück, doch weder Hammond noch McCallum oder Lumley wirkten dabei mit, und auch die Zielgruppe war inzwischen keineswegs mehr die Fernsehöffentlichkeit, sondern jene Art Nischenpublikum, wie die digitale Kultur es typischerweise bedient. In einem endlosen Schwebezustand, ohne Hoffnung auf einen Ausweg und ohne dass eine umfassende Erklärung für ihre missliche Lage – so wenig wie für ihre Herkunft – gegeben würde, erscheint das Gefangensein Sapphires und Steels in diesem Café im Nirgendwo wie der Vorgeschmack eines verallgemeinerten Zustands, in dem das Leben weitergeht, doch die Zeit irgendwie zum Stillstand gekommen ist.

      Das allmähliche Aufkündigen der Zukunft

      Ich möchte in diesem Buch die Behauptung untermauern, dass die Kultur des 21. Jahrhunderts durch einen die Zeit suspendierenden Stillstand und eine Unbeweglichkeit gekennzeichnet ist, wie Sapphire und Steel ihnen bei ihrem letzten Auftrag begegnen. Doch diese Stasis ist verborgen (und begraben) unter einer oberflächlichen Gier nach »Neuheit« und ständiger Bewegung. Das Durcheinandergeraten der Zeit, das Ineinanderfließen verschiedener Zeiten ist kei­ner Erwähnung mehr wert; es hat sich so verallgemeinert, dass wir es nicht einmal mehr bemerken.

      In seinem Buch After the Future beschreibt Franco Berardi (Bifo), wie »das allmähliche Aufkündigen der Zukunft in den 1970ern und 1980ern an Fahrt aufnahm«, und er präzisiert:

      »Dabei steht ›Zukunft‹ nicht einfach für die Richtung der Zeit. Eher denke ich an psychologische Dispositionen in einer kulturellen Situation, die durch fortschreitende Modernisierung charakterisiert zu sein scheint, oder auch an die im Verlauf des langen Aufstiegs der Moderne fabrizierten kulturellen Erwartungen, die in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg einen Höhepunkt erreichten. In derartige Erwartungen schreibt sich der konzeptionelle Bezugsrahmen einer unendlich voranschreitenden Entwicklung ein, wenn auch unterschiedlich ausgeformt: als hegelmarxistische My­tho­logie der Aufhebung, auf der die neue Totalität des Kom­munismus gründet, als bourgeoise Mythologie einer linearen Entwicklung von Wohlstand und Demokratie, als tech­nokratische Mythologie von der Allmacht der Wissenschaft etc.

      Meine Generation wuchs in der Blütezeit einer solchen mythologischen Temporalisierung auf, und es ist sehr schwer, wenn nicht unmöglich, das wieder los zu werden und die Wirklichkeit nicht durch die Brille einer solchen Zeitwahrnehmung zu betrachten. Ich werde wohl niemals im Leben in der Lage sein, mich an diese neue Realität zu gewöhnen, ganz gleich, wie evident, unmissverständlich oder auch dramatisch die gesellschaftliche Konstellation dies nahelegt.«6

      Bifo gehört der Generation vor mir an, doch stehen wir, was den Bruch in der Wahrnehmung der Zeit anbelangt, beide auf derselben Seite. Wie er werde ich wohl niemals wirklich imstande sein, mich auf die Paradoxien dieser neuen Situation einzustellen. Nun liegt die Versuchung ziemlich nahe, von hier aus in ein nur allzu vertrautes Narrativ zu verfallen, nämlich den Alten anzulasten, mit dem Neuen nicht zurecht­zukommen und lediglich zu beklagen, zu ihrer Zeit sei es besser gewesen. Doch gerade dieses Bild – einschließlich der Annahme, die Jungen stünden automatisch an der Spitze des kulturellen Wandels – ist heute überholt.

      Es ist weniger das Besorgnis erregende oder Unverständnis auslösende »Neue« als vielmehr gerade das schiere Fort­bestehen identifizierbarer Formen, das all jene verstört, de­ren Erwartungen in früheren Zeiten geprägt wurden. Nirgend­wo wird dies deutlicher als in der populären Musikkultur. Die Veränderungen und Umbrüche im Pop dienten vielen von uns, die in den Sechzigern, Siebzigern oder Achtzigern aufwuchsen, als Maßstab und Gradmesser für einen sich vollziehenden kulturellen Wandel – wie auch für den Lauf der Zeit im Allgemeinen. Doch die Musik des beginnenden 21. Jahrhunderts löst gerade dies nicht mehr aus; der »Zukunftsschock« ist verschwunden. Ein einfaches Gedankenexperiment illustriert dies schlagend: Stellen wir uns vor, ein beliebiges in letzter Zeit veröffentlichtes Stück würde durch die Zeit zurückgebeamt, meinetwegen ins Jahr 1995, und liefe dort im Radio. Beim Publikum hielte sich die Überraschung in Grenzen. Ein Schock für die Hörerinnen und Hörer von 1995 wäre im Gegenteil wohl eher die Vertrautheit des Sounds: Sollte die Musik sich tatsächlich in den kommenden zwei Jahrzehnten so wenig verändern? Der Gegensatz zu den raschen Stilwechseln der 1960er bis 1990er Jahre ist unverkennbar: Ein 93er Jungle-Track beispielsweise hätte sich für Leute im Jahr 1989 so unerhört neu angehört, dass damit alles, was für sie Musik war oder hätte sein können, in Frage gestellt gewesen wäre. Beherrschte die experimentelle Popkultur im 20. Jahrhundert ein rekombinatorisches Delirium, getragen von der Emphase unbegrenzt verfügbarer Neuheit, so lastet auf dem 21. Jahrhundert der Alp der Endlichkeit und Erschöpfung. So fühlt sich keine Zukunft an. Oder vielmehr: Es fühlt sich an, als hätte das 21. Jahrhundert noch nicht einmal begonnen. Wir sitzen in der Falle des 20. Jahrhunderts, so wie Sapphire und Steel damals in ihrem Tankstellencafé.

      Das allmähliche Aufkündigen der Zukunft ist von einer Deflation der Erwartungen begleitet. Es wird heute nur wenige geben, die überzeugt sind, in nächster Zeit sei mit der Veröffentlichung eines Albums vergleichbarer Größe wie meinetwegen Funhouse von den Stooges oder wie There’s a Riot Goin’ On von Sly and the Family Stone zu rechnen. Und noch weniger erwarten wir einen epochalen Bruch, wie ihn vielleicht die Beatles oder Disco brachten. Das Gefühl, zu spät dran zu sein, den Goldrausch verpasst zu haben, ist heute omnipräsent, auch wenn es allenthalben bestritten wird. Nun wird, wer die Ödnis der Gegenwart mit dem fruchtbaren Boden vergangener Zeiten vergleicht, gern und schnell der »Nostalgie« beschuldigt, doch setzen heutige Künstler in einer Weise auf längst etablierte Stilmittel, die zumindest nahelegt, eine Art formaler Nostalgie halte die Gegenwart in ihrem Griff – mehr dazu gleich.

      Nicht, dass gar nichts passiert wäre in diesen Jahren des allmählichen Aufkündigens der Zukunft. Ganz im Gegenteil: Jene drei Jahrzehnte waren Zeiten massiven Wandels und traumatischer Veränderungen. In Großbritannien markierte die Wahl Margaret