Название | Leipzig |
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Автор произведения | Hartmut Zwahr |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783867295680 |
Sie gingen zur Straßenbahn. Hat er mit denen abgerechnet, die die Disziplin verletzen? Oder mit denen, die an dem Zustand Schuld sind? Wenn ja, griff Matter den Zustand an, in dem er nicht bleiben wollte. Erwartete er Unterwerfung durch Einsicht? Für mich bleibt das im Zwielicht.
Ich seh nicht mal das, Hannes. Erinnerst du dich, wie das war mit Harry? Quatsch, kannst du nicht, weil du sonstwo warst, als die Panzer kamen, während wir uns bewähren durften. Harry war anwesend, ich entsinne mich bloß nicht, eigenartigerweise, dass ich ihn gesehen habe. War vielleicht auf dem Lokus.
Die Kälte kommt einem durch die Schuhsohlen, die Baskenmütze habe ich auch vergessen in dieser Dezemberluft, bei der die Wäsche reingenommen wird. Schlenkernden Schritts, Hände in den Manteltaschen sagte er das. Am Tag, als du ankamst und Pockrandt über dich herfiel, war das.
Wo Pockrandt steht, weiß ich, wo Harry steht, habe ich in seiner Abschiedsrede zu verstehen versucht, ich finde es nicht heraus. Wie denn? Nichts bleibt, wie es ist. Ich weiß nicht, auf welcher Seite er steht. Bei uns suchte er die Arbeiterseele oder hat sie gesucht, die ist nicht zu finden, höchstens bei Böckler. Ich suchte die Liebe, Arnold hat sie gefunden, da verlor er den Faden, ich bin müde. Sie sahen die Bahn davonfahren.
Harry drehte sich wie im Gewinde. Nehmen wir mal an, dass er das Gewinde untersucht hat, in dem er sich drehte. Könnte doch sein? Er brannte sich eine Zigarette an. Harry wollte nicht mehr.
Vielleicht sollten wir einen saufen gehn.
15
Je weiter sie sich als Kollektiv, das sie nicht waren, von jenem Juni entfernten, sie kamen davon nicht los
Er zog die altmodischen Fenstervorhänge zu, sah den Brief liegen, hörte Wolfram über den Flur tappen.
Ruth hatte geschrieben. »Ich habe Deinen Brief erhalten und danke Dir für Deine Offenheit und Ehrlichkeit. Mit den gleichen Voraussetzungen will ich Dir antworten. Dass Du so enttäuscht bist über unsere Freundschaft, tut mir leid, aber es geht nicht anders. Ich kann eben nicht unehrlich gegen meine Empfindungen sein und möchte Dich doch bitten, mir nicht böse zu sein, wenn ich unsere Beziehungen abbreche. Entschuldige bitte, daß ich am Sonntag auf dem Bahnhof ohne mich von Dir zu verabschieden fortgegangen bin, da ich doch schnell zur Bahn musste. Du weißt doch, daß wir ab 24 Uhr nicht mehr rein dürfen. Für mein schlechtes Benehmen während der Fahrt von Dresden nach Leipzig möchte ich mich entschuldigen. Es war nicht schön von mir. Deine Vermutung, daß ich Dir mißtraue, trifft nicht zu. Ich habe Dich immer als Freund geachtet und tue es auch jetzt noch. Deine Neckereien habe ich nicht übel genommen, da kannst Du beruhigt sein. Sei mir bitte nicht böse, daß ich Dir diese Enttäuschung bereiten musste. Meine Briefe und Bilder kannst Du gerne behalten. Ich möchte, daß Du nicht schlecht von mir denkst. Meine Freundschaft zu Dir war ehrlich. Viele Grüße Ruth Jansen.«
Den Brief hatte er Friedhelm zu lesen gegeben. Wirklich verbunden waren wir nicht. Viel Schreiberei, wenig Küsse, sagte Friedhelm dazu. Die ist schon Frau, wie sie schreibt, die will was Festes, nicht bloß Gedachtes. Im Unterricht wars, da saß er mit hängenden Schultern auf seinem Platz, als er das sagte, wartete auf die Pause und dachte an wer weiß wen.
Den ockerfarbnen Mond sah er im Fenster cremig weiß. Mich fröstelt. Die Straßenbeauftragte wollte sich um die Feuerung kümmern. Die Kohlen auf Gutschein werden Sie vielleicht noch bekommen. Wenns schlimm kommt, sagte Frau Wolfram, halten Sie sich bei uns auf.
Du könntest dunkle Handtücher gebrauchen, schrieb Vater, ich brauche auch welche. Geh durch die Warenhäuser und gib Bescheid, wenn du dunkle Handtücher erspähst.
Die Milch säuert. Den Gaskocher könnte ich benutzen, wenn ich Wolframs frage. Irina fiel ihm ein. Der irre Streit. Harry ist fertig, ich auch, bloß andersrum. Eins kommt zum andern, wenn man nicht einschläft.
Auf das Plüschsofa, das mit den hohen Seitenlehnen, hatte er sich hingehangen, die Beine über die Plüschwulst der Seitenlehne, er döste, ging die Versammlungsgesichter durch.
Harry macht zu viel Wesens um die Arbeiter. Regina trug den blauen Pullover, den sie liebte. Er dachte an Klaus Grimm, die Roschkampfbahn, wenn hinter Stehern die letzte Runde eingeläutet wurde. Die Frau mit dem Seghersgesicht hatte seine Nachbewilligung unterstützt. Willi Tschiedert heftete seine vor Begeisterung brennenden Augen an einen Text und warf dichtes schwarzbraunes Haar aus dem Gesicht. Sein Lachen dröhnte. Der Unterrichtstag im Juni, an dem er mit den Worten seines akademischen Lehrers abtauchte, geriet fast in Vergessenheit. Die überschlanke Ellen Recknagel kam ihm in den Sinn, die im Haus der DSF, der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft am Dittrichring, über die großen Russen sprach, die Weltliteratur, die großen Amerikaner. Rolf Recknagel suchte nach B. Traven.
Harry Matters Platz blieb leer.
Der Vorhang, den Harry lüftete, hob sich nicht mehr. Der Juni war die Lektion. Was hatte Sinn? Was war sinnlos? Die Bibliothekarschule hieß jetzt Erich-Weinert-Schule. Die neue Schulordnung war am 14. Oktober 1953 erlassen worden. Verlust des Fachschülerausweises war spätestens innerhalb von 24 Stunden der Schulleitung schriftlich zu melden. Jede Verfälschung, missbräuchliche Überlassung oder unrechtmäßige Benutzung kann eine Schulstrafe nach sich ziehn. Die Eingänge zur Schule sind in der Rathenaustraße zu benutzen. Der Pförtner öffnet eine halbe Stunde vor Beginn des Unterrichts den stadtwärts gelegenen Zugang. »Ich weiß, dass ich verpflichtet bin, die Schulordnung einzuhalten.«
Die SED (Sozialistische Einheitspartei Deutschlands) übernahm die Direktorenräume, die FDJ (Freie Deutsche Jugend) das »SED-Zimmer«, der Direktor das »FDJ-Zimmer«, Frau Trautmann das Dozentenzimmer, die Wirtschaftsleitung den Tischtennisraum.
In diesem Umzug steckte der zweite heiße Juni. Beim ersten waren die Russen mit den Deckelmützen gekommen und die Muschkoten mit Käppis, Stiefeln, Stoffbeuteln.
Zeichen blieben.
Als der Vorkurs anfing, sagte Irina, waren die Klassen schon geteilt, aber wir redeten ohne Wandzeitung. Jetzt haben wir die Wandzeitung; du wirst angegriffen und musst dich verteidigen. Darin besteht die Kollektivbildung. Friedhelm in einer der Großen Pausen sagte aus dem Anlass, mir gehen die Wahlverwandtschaften durch den Kopf. Du wirst mit der Pflichtlektüre vielleicht nicht so weit sein, Hannes, ich habe zügig weitergelesen, wegen dieser Beziehungen, in denen sich die Paare bewegen. Er bewunderte, wie Goethe die Schicksale der Frauen ineinander gedreht, ja verschlungen hatte, das sagte er ohne jede Beimischung von Sarkasmus, auf die man bei ihm immer gefasst sein musste. Was dort passiert, dass man sich öffnet, findet bei uns, ich meine in unsrer Klasse unter den Werktätigen, so weit gehe ich, nicht statt. Wenn du die Stelle im 13. Kapitel gefunden hast, diskutieren wir. Das war die Stelle. »Völlig fremde und gegeneinander gleichgültige Menschen, wenn sie eine Zeitlang zusammenleben, kehren ihr Inneres wechselseitig heraus, und es muß eine gewisse Vertraulichkeit entstehen. Um so mehr läßt sich erwarten, daß unsern beiden Freunden, indem sie wieder nebeneinander wohnten, täglich und stündlich zusammen umgingen, gegenseitig nichts verborgen blieb. Sie wiederholten das Andenken ihrer früheren Zustände, und der Major verhehlte nicht, daß Charlotte Eduarden, als er von Reisen zurückgekommen, Ottilien zugedacht, daß sie ihm das schöne Kind in der Folge zu vermählen gemeint habe.«
Könnten wir beide das nicht sein? Eher nicht. In der Klasse nicht.
Wir hocken aufeinander und gehen doch auf Tauchstation. Ich les in die Stelle vielleicht zu viel rein. Es geht um das Freundespaar. Rudi und Pockrandt, wenn sie Partei spielen, könnten so ein Paar sein, doch schon bei denen gibt es eine Grenze, davon bin ich überzeugt. Der Dicke verrät nicht, wo sein Ausweis geblieben ist, und Rudi weiß von nichts. Du dagegen solltest ihnen am Siebzehnten alles sagen. Quer durch die Klasse lässt keiner die Hülle fallen, das Hemd gleich gar nicht. Deshalb findet Ehrlichkeit nicht statt.
Die Fragebogen-Antworten standen auf dem Zettel, die Vater mit ihm durchgesprochen hatte. Junge, dabei bleibst du, wie ich in Gefangenschaft, wenn sie mich in das Holzgehäuse reinstellten, nichts zum Sitzen, bloß um jemand reinzustellen, bis man zur Vernehmung rausgeholt wurde. Immer dieselbe Antwort geben. Geschlagen haben mich die Russen nicht, bloß gedroht.
Den Direktor sahen sie mit