Leipzig. Hartmut Zwahr

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Название Leipzig
Автор произведения Hartmut Zwahr
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783867295680



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hartgefrornem Feld.

      Nun taut der Schnee.

      Bissel konventionell, sonst nicht schlecht, stand mit grüner Füllertinte auf dem Zettel, den Hannes auseinanderrollte.

      Den Brief nach Westdeutschland, wer schreibt den? Du, Gertraude? Nein, bitte nicht, ich habe mich gemeldet, weil ich gegen eine Stalinfeier bin.

      Rudi entgeistert. Irina überrascht. Böckler guckte zu Rudi, und Klaus Pockrandt hatte plötzlich was Lauerndes im Gesicht.

      Ich bin dafür, schlug Gertraude vor, dass wir statt der Feierstunde das Denkmal aufsuchen. Soll ich schwarz erscheinen?

      Zwinkerte sie ihm zu? Ich sehe sie zweifach, ganz hinten als die, die sich die Ringelsöckchen hochzog, als ich an die Schule kam.

      Jugendfreunde, wir legen was nieder, schlug Rudi vor, eine Klasse wie unsre kann den Todestag nicht vorbeigehn lassen.

      Irina, welches Denkmal? rief Annelies.

      Gibt’s denn zweie? Wenns zweie gibt, wird das große genommen, in der Innenstadt das, entschied Gertraude.

      Die Gebinde, die Blumen, die Kränze mit den totenfarbnen Kunstblumen waren vom Schnee ziemlich bedeckt. Stalin findest du, hatte Regina gesagt, wenn du vom Kroch-Hochhaus aus der Passage kommst, einen Arm hat er vor der Brust, der andre hängt.

      Auf Stalin liegt Schnee, behauptete Gertraude. Annelies hat keinen Schnee entdeckt. Habt eben nicht richtig hingeguckt.

      Auch Stalin, zu dem sie gehen wollten, war eine von diesen Wiederholungen, an die sie sich gewöhnten. Schnee lag, und manchmal waren selbst die Straßenbahnen nicht mehr zu hören vor lauter spätem Schnee, der bis in die Zeit der Frühjahrsmesse hinein liegen blieb. Die Straßenbahnen fuhren wie auf Watte, bloß ziemlich grau war die.

      Am Hauptbahnhof begegnete er noch einmal Ruth. Hast dich verändert. Ich mich auch. Es täte ihr leid, sie gehöre einem anderen, sagte sie verlegen. Weil der neue Mensch, mag sie gedacht haben, hinter deinen Büchern aufragt.

      Er behielt diesen Frühling, der über ihn hereingebrochen war, in Erinnerung. Regina brachte Narzissen. Die schlammgelben Wege von der Schulbaracke bis zur Essenausgabe waren von Märzenbechern gesäumt. Krokusse schossen hervor, blaue Keile, gelbe.

      Friedhelm wischte mit der Hand über die Tasten, als läge Staub drauf. Schön, wenn niemand hereingestürmt kommt. Sie redeten, und Friedhelm sagte: Mal wird es vielleicht kommen, das Erden­paradies, auf das du wartest, wenns gerecht zugeht auf der Welt, wenn nicht so, dann eben anders. Ich rechne damit, dass es nicht funktioniert. Wie denn? Den Himmel auf Erden wollten schon viele. »Wir wollen und werden erkämpfen den Himmel auf Erden.«

      Stell dir vor, der Zettel, auf dem das steht, steckt hinterm Spiegel. Den vergiss, und wenn du ihn wiederfindest, bist du entweder im Himmel auf Erden, oder die Zeit hat dich widerlegt.

      Du lachst? Ich lache nicht. Wieso soll einer lachen, Hannes, weil jemand hofft?

      Nein, wir werden uns treffen, vielleicht im Leutzscher Holz bei himmlischer Wärme auf einer Parkbank, und wenn du fragst, wo­ran ich denke, werde ich sagen, ans Paradies, an Schlachten, die wir glücklich gewonnen haben, und mir eine Zigarette anbrennen.

      Dummes Zeug! Ich verblöde. Er fingerte eine letzte Zigarette aus der Packung. Andersrum wird’s sein. Eichler verzieht sich in eine stille Bibliothek, wo lauter neue Menschen leben, in der Hoffnung, sie merken nicht, dass ich keiner bin. Sind die Prüfungen bestanden, gehe ich in die Bücherei zurück, leihe aus, lese, werde Lesungen veranstalten, solange es gute Bücher gibt, mich vergraben, hoffen, sie merken es nicht, und wenn, setze ich mich auf den Zug.

      Und du, Hannes? Du möchtest studieren?

      Den Pockrandt wirst du nicht los, das weißt du.

      17

      Hausversammlung. Der Genosse mit Stock und steifem Bein sagt: Ein Bericht ist besser als keiner. Pfingsttreffen

      Hausversammlung Georg-Schwarz-Straße hundertvierundzwanzig. In der Küche einer Wohnung die stumme Runde der Frauen. Der Genosse mit Stock und steifem Bein sagte zu den Agitatoren, wenn die Zeit rum ist, geht Ihr.

      Wenns so leicht wäre, wegzugehn. Der Krieg hat euch bloß gestreift. Eine Frau nickte. Ihr habt Ahnung! Bevor du sterben darfst, musst du leiden, so ähnlich drückte sich der Mann aus, und die Frau hatte Tränen im Blick. Friedhelm rieb sich die Augen. Den Bericht brauche ich, selbst wenn nichts los war, der muss zum Karl-Liebknecht-Platz. Der dort sitzt, sagt, ein Bericht ist besser als keiner.

      Und Ihr wollt eine Welt erobern?

      Hausversammlung ist bei Meier,

      Zweimal klingeln eine Treppe oben.

      Wieder tönt zu uns die alte Leier.

      Nun werden wir en gros erzogen.

      Und der Agitator spricht

      Sich die papiernen Lippen wund.

      Mit gedachten Größen ficht

      Er gegen unsre stumme Rund.

      Hausversammlung ist bei Meier,

      Und die Überzeugungsplatte kreist,

      Lauter wird der heisre Schreier,

      Seine Hand auf uns, die Masse, weist.

      Denn in deinen Rechnerein,

      Sollen wir die Nullen sein.

      »Hausversammlung« gelungen, aber Fragment, Friedhelm, hatte der in der Schule mit seiner grünen Füllertinte an den Rand geschrieben. Bei uns gings, sagte er beim nächsten Mal, ich unterhalte die Leute, bis die Zeit rum ist. Eine Frau hatte gefragt: Kommen Sie wieder? Nächste Woche. Ich will Sie nicht erschrecken, war Spaß. Die hatten nichts dagegen. Viele sind einsam. Junge waren nicht dabei. Wäre mir aufgefallen.

      Es dauerte noch Wochen, bis die Wärme draußen Farbe in die Blüten trieb, Pfingstrosen ihre Blütenköpfe neigten, weiße, rote, und der Rittersporn wie eine wasserblaue Fontäne über den Gartenzaun langen wird.

      Blau wie die Wandzeitung war der Himmel unter der blauen Fahne mit der aufgehenden Sonne. Die Jugend wird zum Pfingsttreffen aufmarschieren. Aufziehen nannte das Rudi. Friedhelm warf einen Blick auf die Wandzeitung. Die Delegierung der Klasse war beschlossen. Uns hinzuschicken, als Auszeichnung, ist für die Leitung am einfachsten. Da musst du keinen überzeugen. Ich nehm dir nicht übel, was du sagen wirst, Johannes.

      Der Gruppensekretär hatte die Delegierung zu erläutern. Wir müssen uns darüber klar sein, liebe Freunde, dass der Beschluss der Zentralen Schulgruppenleitung, unsere Klasse zum II. Deutschlandtreffen vollzählig zu delegieren, uns anerkennt. Wenn zwingende familiäre Gründe vorliegen, nicht hinzufahren, werden sie selbstverständlich berücksichtigt. Bei begründeten Geldschwierigkeiten wird die ZSGL, die Zentrale Schulgruppenleitung, die Teilnahme ermöglichen. Funktionnärssitzungen waren am 10. Juni und die Auswertung zum Deutschlandtreffen am 24. Juni. Ohne Termin Theaterbesuch (Irina), Kinobesuch. Wettschwimmen übernimmt Klaus Grimm. Das Sportfest bereiten Regina und Joachim vor. Nach der Prüfung Abschlussfeier.

      An der Wandzeitung hing Pockrandts jüngste Stellungnahme. »Aus der Selbsteinschätzung heraus bin ich der Meinung, daß ich die Zwischenprüfung kaum bestehen werde. In dieser Lage ist es mir nicht möglich, die Bibliographie der Neuerscheinungen für Mai zusammenzustellen. Um einen Beitrag zur Vorbereitung des II. Deutschlandtreffens zu leisten sowie zur Überprüfung unseres gesellschaftswissenschaftlichen Wissens, möchte ich den Freunden« – rot unterstrichen – »die Bildung eines Zirkels zur Vorbereitung auf die Prüfung für das Abzeichen ›Für Gutes Wissen‹ in Silber vorschlagen. Dieser Gutes-Wissen-Zirkel zur Unterstützung Eures Selbststudiums wird vierzehntägig zusammentreten, eine Stunde Lektion, die zweite Konsultation.« – Absatz. – »Zwei Freunde haben sich erboten, Lektionen zu halten, Rudi Gernitz: Die Entwicklung der Philosophie, Klaus Pockrandt: Die Entwicklung der Kultur. Der Zirkel wird seine Arbeit im Mai 54 abschließen. Euch wird nicht Zeit geraubt, sondern Wissen gegeben. K. Pockrandt.«

      Acht Wochen