Название | Bildung gegen den Strich - eBook |
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Автор произведения | Sara Sierra Jaramillo |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783769880298 |
Da frühzeitige Schwangerschaften meist ungeplant sind, ist das erwartete Kind oft nicht erwünscht – entsprechend unfreundlich wird es empfangen und nur nachlässig versorgt. Selten lebt die minderjährige Mutter in einer festen Beziehung. Die ungesicherte Lebenslage birgt die Gefahr, dass sich die in der Familie ohnehin herrschende Armut verschlimmert und es deshalb zu Konflikten kommt. Die schwangeren Mädchen werden von ihren Verwandten nicht selten zurückgewiesen oder verstoßen. Schnell geraten sie in emotionale Bedrängnis und eine finanziell aussichtslose Lage.
Oft sind Schwangerschaften Minderjähriger eine Folge kritischer Lebensereignisse. Sie hängen bisweilen mit der Scheidung oder Trennung der Eltern, mit Schwierigkeiten in der Familie, mit dem Tod naher Verwandter oder mit wirtschaftlichen Schicksalsschlägen zusammen. Der Alltag der Betroffenen ist mitunter von Gewalt, Alkoholmissbrauch und Vernachlässigung geprägt. In solchen Krisen regt sich bei Jugendlichen der Wunsch, selbst ein Kind zu haben, das die eigene Befindlichkeit aufbessert. Schwangerschaft und Mutterschaft erscheinen dann als Ausweg aus Konflikten und Notlagen, ungeachtet der Tatsache, dass sie in verschärfte Problemsituationen hineinführen. Jugendliche haben mitunter die Hoffnung, dass sie als Schwangere ihr Leben besser bewältigen können. Sie glauben, dass sie auf diesem Weg einen unterstützenden Partner oder fürsorgenden Ehemann finden. Gleichzeitig wollen sie mehr Akzeptanz und Ansehen erreichen. Die Gründung einer »richtigen Familie«, so glauben manche, werde ihren emotionalen, ökonomischen und sozialen Status aufbessern.
Überall dort, wo die Zahl der minderjährigen Schwangeren und der Kindermütter ansteigt, nehmen auch die Schwangerschaftsabbrüche zu. Allein in den oben genannten sechs andinen Ländern soll es Jahr für Jahr 70 000 Abtreibungen geben. Gegen Ende der neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts wurden in Kolumbien weit über 80 Prozent der ungewollten Schwangerschaften Minderjähriger abgetrieben – und zwar zu einem großen Teil von unqualifiziertem Personal, mit beträchtlichen gesundheitlichen Risiken.
Auf die Mädchen, die sich im Zentrum Medellíns herumtreiben, treffen sämtliche Merkmale zu, die das Risiko und die Gefahr einer frühen und problematischen Schwangerschaft erhöhen – Armut, Gewalt, mangelnde Schulbildung, Lebenskrisen, Missbrauch, fehlende Aufklärung und unzureichende Gesundheitsfürsorge. Für Flor, María-Isabel und Azucena gilt, was für alle Straßenmädchen zutrifft: Sie leiden permanent unter Mangel an Zuwendung. Kaum jemals hatten sie die Möglichkeit, sich zu behaupten und ihr Leben selbst zu bestimmen. Schwangere Mädchen und Kindermütter, die zusammen mit ihrem Nachwuchs auf den Straßen in Medellín wie auch in den anderen Metropolen der Entwicklungsländer leben, stellen eine extreme Risikogruppe dar. Sie, die so gut wie immer aus unterprivilegierten Familien stammen, sind meist selbst in misslichen Situationen gezeugt und unter erschwerten Bedingungen von mangelernährten Müttern mit Bangen erwartet und ausgetragen worden. So setzt sich das Elend von Generation zu Generation fort.
Chor der jungen Straßenmütter1
1 Quelle: Carlos Fuentes, Chor der jungen Straßenmütter, aus: ders., Alle glücklichen Familien. © 2006 Carlos Fuentes. © 2006 bei Santillana Ediciones Generales, S. A. de C. V., México. Aus dem Spanischen von Lisa Grüneisen. © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt a. M. 2008.
Equisita gebar auf der Straße
Die Hälfte der Mädchen auf der Straße ist schwanger
Sie sind zwischen zwölf und fünfzehn
Ihre Babys sind zwischen null und sechs
Viele haben das Glück einer Fehlgeburt weil sie geprügelt werden
Bis der Fötus vor Angst schreiend herauskommt
Ist es besser drinnen oder draußen zu sein?
Ich will hier nicht sein Mamacita
Wirf mich lieber in den Müll Mutter
Ich will nicht geboren werden und jeden Tag mehr verdummen
Ohne Bad Madrecita ohne Essen Mutter
Ohne andere Nahrung als den Alkohol Mutter Marihuana Mutter
Lösungsmittel Mutter Resistol Mutter Toluol Mutter Kokain Mutter
Benzin Mutter
Deine Brüste prall gefüllt mit Benzin Mutter
Ich spucke Feuer Mutter
Für ein paar Centavos Mutter
An den Straßenecken Mutter
Den Mund voller Benzin das ich aufsog Mutter
Der brennende Mund versengt
Die Lippen mit zehn Jahren zu Asche verkohlt
Wie soll ich mich lieben Mutter?
Ich hasse dich nicht
Ich hasse mich
Ich bin keinen Dreck wert
Ich bin nur wert was meine Fäuste hergeben
Prügelnde Fäuste raubende Fäuste messerscharfe Fäuste Mutter
Falls du noch lebst Mutter
Falls du mich noch ein kleines bißchen liebst
Befiehl mir bitte daß ich mich selbst ein kleines bißchen liebe
Ich hasse mich wirklich
Ich bin weniger wert als Hundekotze Eselscheiße
ein Haar am Arsch ein verlorener
Schuh ein verfaulter Pfirsich eine schwarze Bananenschale
Weniger als der Rülps eines Säufers
Weniger als ein Polizistenfurz
Weniger als ein kopfloses Huhn
Weniger als der welke Schwanz eines Greises
Weniger als die schlaffen Arschbacken einer kleinen Schlampe
weniger als der Auswurf eines Dealers
weniger als der nackte Arsch eines Pavians
weniger als wenig Mamacita
laß nicht zu daß ich mich selbst umbringe
sag etwas damit ich mich großartig fühle
supergroßartig superbombastisch Mutter
reich mir nur eine Hand um hier rauszukommen
bin ich für immer zu dem hier verdammt Mutter?
sieh nur meine tiefschwarzen Fingernägel
sieh nur meine verklebten triefenden Augen
sieh nur meine aufgesprungenen Lippen
sieh den schwarzen Schaum auf meiner Zunge
sieh das gelbe Schmalz in meinen Ohren
sieh meinen grünen aufgequollenen Bauchnabel
Mutter hol mich hier raus
was hab ich verbrochen um hier zu enden?
Grabend