Muster für morgen. Frank Westermann

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Название Muster für morgen
Автор произведения Frank Westermann
Жанр Языкознание
Серия Andere Welten
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783862871834



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wurde die Tür aufgerissen und die Wachposten führten den Gefangenen herein. Deswegen also, dachte ich. Der Gefangene war kein Mensch!

      »Ein Rene!« stieß Sucherin hervor und schlug die Hände vors Gesicht.

      Ja, ich erkannte es selbst nach den Beschreibungen von Sucherin wieder: eine Art schwach leuchtende Röhre mit sich verändernden Gliedmaßen. Aber irgendetwas stimmte nicht mit ihm (oder ihr?). Er stolperte und schwankte, schlug ohne erkennbaren Grund um sich und fiel mehrere Male zu Boden.

      »Sie müssen es schwer verletzt haben«, sagte Sucherin leise.

      »Dann nichts wie raus hier!« wiederholte Kortanor. »Ich werde keine Minute länger in dieser Folterkammer bleiben.«

      Das war das Signal für uns, doch unsere Gegenüber hatten natürlich vorgesorgt und sich entsprechend abgesichert, während wir so gut wie keinen Plan hatten. Plötzlich wimmelte es in dem Saal von Bewaffneten, die sich überall verteilten. Verzweifelt sah ich mich nach einem Fluchtweg um, aber alle Ausgänge waren bewacht. Wir hatten uns was vorgemacht, gab ich zu. Das Ganze war von Anfang an zum Scheitern verurteilt gewesen.

      »Ergeben Sie sich und es geschieht Ihnen nichts!« versicherte uns die Frau. »Wir haben...«

      Ich merkte, wie sich mein Helfer von meinem Arm löste. Er sandte einen blassblauen Strahl aus und die Frau verstummte augenblicklich. Luckys Helfer war jetzt an seiner Seite.

      Die »Politiker« fielen der Reihe nach von ihren Stühlen.

      Unter den Soldaten begann sich eine Panik breit zu machen. »Wir müssen sie vernichten!« rief einer und hob seine Waffe. Auf einmal knisterte und knackte es in der Luft, so dass ich mir unwillkürlich die Ohren zuhielt.

      »Wir können jetzt gehen«, drang Sonnenfeuers Stimme zu mir durch.

      Was ist denn los, dachte ich bestürzt. Das ist ja das reinste Irrenhaus! Doch dann erkannte ich, was die Zauberin meinte: die Soldaten rührten sich nicht mehr. Sie standen wie versteinert. Selbst ihre Blicke waren stur geradeaus gerichtet.

      »He, die können sich nicht mehr bewegen«, hauchte Lucky fassungslos. »Hast du das gemacht?«

      Sonnenfeuer nickte. Sie schien auf einmal sehr ernst.

      »Wir nehmen das Rene mit«, entschied sie. Sie gebrauchte zum wiederholten Mal ein sächliches Pronomen. Damit war das also auch geklärt.

      Natürlich hatten wir nichts dagegen. Wir konnten es schließlich nicht einfach hier liegen lassen.

      Sucherin ging in der knisternden, aufgeladenen Luft auf das Rene zu, das hilflos am Boden lag und ab und zu mit den Auswüchsen seines leuchtenden Körpers zuckte. Ich hatte den Eindruck, dass sie sich irgendwie für dieses Wesen verantwortlich fühlte. Aber es war schließlich nicht ihre Schuld, dass die Menschen sie anscheinend auf der Erde entdeckt hatten. Denn so musste es sich abgespielt haben und das erklärte auch den technologischen Aufschwung und die Raumfahrt.

      Ich folgte Sucherin, um ihr zu helfen, und gemeinsam richteten wir das Rene auf. Es fühlte sich leicht und kühl an. Inzwischen verschärfte sich die Situation weiter. Wenn wir hier noch wegkommen wollten, hatten wir keine Zeit zu verlieren. Während ein Teil der Wachsoldaten immer noch wie versteinert im Raum stand, drangen weitere ihrer Kollegen durch die Haupttür in den Saal. Wahrscheinlich war alles, was sich hier abgespielt hatte, über Monitore beobachtet worden und nun traf die Verstärkung ein. Und diese war anscheinend nicht von der knisternden Luft und Sonnenfeuers »Bann« betroffen.

      Sie zögerten keine Sekunde und die ersten Warnschüsse pfiffen über unsere Köpfe.

      Die Helfer versuchten, uns mit ihren Strahlen zu schützen, aber auf Dauer musste die Übermacht zu groß werden.

      Während ich das Rene weiter umklammert hielt, traten mir die Tränen in die Augen. Sollten unsere Anstrengungen so nutzlos gewesen sein?

      Dann wurde es dunkel um mich. Eine totale Finsternis. Ein ziehendes irgendwie bekanntes Gefühl ... aber diesmal ... Übelkeit, Schwindel ... als würde mein Körper/Geist völlig auseinandergerissen ... Zeit floss zäh vorüber ... Gedanken verwirrten sich... und dann ...

      Die Schwärze riss auf. Vor meinen Augen tanzte ein buntes Kaleidoskop von Farben. Anschließend wurde es wieder dunkel, aber diesmal war es eine natürliche Dunkelheit. Ich fühlte mich schwach und elend und musste mich erst mal übergeben, mein ganzer Körper schmerzte, innen und außen. Allmählich nahm ich meine Umgebung bewusster wahr: ich fühlte, dass ich auf einem steinigen Untergrund kniete. Langsam gewöhnten sich meine Augen an die Dunkelheit.

      Dies war auf keinen Fall die Raumstation. Über mir schwebte ein blasser Halbmond und auch einige Sterne konnte ich in dem wolkenverhangenen Nachthimmel erkennen. Außerdem reizte ein fürchterlicher Gestank meine Schleimhäute und verstärkte noch mein Übelkeitsgefühl. Kein Zweifel, dies war die Erde. Höchstwahrscheinlich Neu-Ing, die stinkende, lärmende, betäubende Metropole.

      Neben mir lag ausgestreckt der leuchtende Körper des Renen.

      In seinem Schimmer erkannte ich noch eine dritte Gestalt: Sucherin! Ich kroch mit schmerzverzerrtem Gesicht zu ihr rüber. Sie atmete schwach. Die Konturen ihres Körpers verschwammen ineinander, so wie ich es schon früher bei ihr – bzw. dem Beobachter – nach großer Anstrengung erlebt hatte.

      Sie musste sich also in einem extremen Schwächezustand befinden, der meinen bei weitem übertraf.

      Ich setzte mich neben sie, zum Glück war es nicht allzu kalt. Gut, überlegte ich. Wir waren irgendwie den Killerkommandos der Raumstation entkommen und auf die Erde versetzt worden. Wahrscheinlich war das Sonnenfeuers oder Sucherins Werk gewesen. Da war ich mir ziemlich sicher. Doch was fing ich jetzt mit dem Renen und Sucherin an? Und wo waren Kortanor, Lucky und Sonnenfeuer, von denen ich hier keine Spur entdecken konnte? Ich selbst fühlte mich auch nicht gerade blendend, das Rene war zumindest schwer psychisch krank und Sucherin lag da wie im Sterben.

      Bevor ich ganz verzweifeln konnte, hörte ich ein helles Sirren über mir. Der Laut kam mir bekannt vor, ich konnte jedoch nichts erkennen.

      »Wir werden das Kind schon schaukeln,« ertönte plötzlich eine etwas metallische Stimme.

      Natürlich, mein Helfer! Wie kam es nur, dass ich die Anwesenheit dieser beiden »Geräte« immer wieder vergaß? Manchmal dachte ich, dass sie es irgendwie verhinderten, dass sie uns im Gedächtnis blieben, bis sie sich dann von selbst meldeten. Jetzt sah ich ihn auch bewegungslos über mir schweben. Und er war nicht allein. Neben ihm in der Luft entdeckte ich Luckys Helfer,

      »Und wo ist Lucky?« fragte ich automatisch.

      »Keine Ahnung«, antwortete mir sein Helfer. »Ich bin mitgekommen, weil wir uns im Moment nicht trennen wollen. Außerdem scheint unsere Hilfe wohl angebracht.«

      Gespannt sah ich zu, wie sie sich den beiden am Boden liegenden Gestalten näherten. Außer einem verstärkten Summen war aber nichts weiter zu erkennen. Trotzdem hatte ich den Eindruck, als untersuchten sie die beiden.

      Ich schaute mich inzwischen ein wenig in der Gegend um, weil es mich zu wundern begann, dass wir hier so unbehelligt blieben. Wir befanden uns anscheinend auf einem verlassenen Grundstück zwischen zwei hoch aufragenden Turmbauten. Weiter vorn musste sich den Lichtern und den Geräuschen nach eine Hochstraße erstrecken. Menschen konnte ich nicht ausmachen. Es musste wohl ziemlich spät sein und die Umgebung sah mir auch eher nach einer öden Trabantenstadt aus. Lediglich ein paar Gleiter schwebten in einiger Entfernung vorbei.

      Neun Jahre! dachte ich. Ob sich wohl so viel verändert hatte, dass ich Schwierigkeiten haben würde, mich zurecht zu finden?

      Ich konzentrierte meine Aufmerksamkeit wieder auf die Gegenwart.

      Beide Helfer hatten sich jetzt Sucherin zugewandt und kommunizierten in schrillen Tönen miteinander, ein Vorgang, der mir zum ersten Mal bei ihnen auffiel. Ich war mir sicher, dass sie irgendetwas mit ihr anstellten, aber was, vermochte ich nicht zu sagen. Auf jeden Fall schlug sie einige Minuten später die Augen auf und bewegte