Die gläserne Heimat. Fahimeh Farsaie

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Название Die gläserne Heimat
Автор произведения Fahimeh Farsaie
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783943941579



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an. Er sagte: »Wenn sie den toten irakischen Soldaten die Uniform ausziehen, ist ihre Unterwäsche ganz zerschlissen …«

      Es klingelte.

      (Ach, siehst du, Gol? Die Beamten sind da, und wir haben noch nichts fertig! … Komm auf meinen Arm, ich will sehen, wer das ist!)

      »Einen Moment, ich komm’ schon!«

      Guten Tag, bitte schön … Ich dachte, es wären die Beamten vom Wohnungsamt … Das hast du gut gemacht, dass du gekommen bist …

      Was gibt’s Neues von Hosseyn? Ich war dabei, alles zusammenzuräumen … Gol geht’s gut … Sag dem Onkel guten Tag! Ach, … beinah hätt’ ich diesen ›Frühling‹ vergessen!«

      Er stand unter dem Bild »Der Frühling« und nahm seine Mütze mal in die eine Hand, mal in die andere. Er schien niedergeschlagen und traurig. Seine Augen waren gerötet, und auch seine Nasenspitze war rot. Er sagte, er wolle es kurz machen, und sprach von ohrenbetäubendem Lärm und von Detonationen und von Mörsern und von Blut und Hirn und Ohnmachten und derlei Dingen. Einige Male sagte er auch »Hosseyn« …, und er drückte mir einen gefalteten Umschlag in die Hand, öffnete die Tür und ging.

      Ich blickte immer noch den »Frühling« an: diese blasse, zarte Bläue des Himmels und die vollen, dichten Dolden des lila Flieders, dessen betäubender, fiebriger, leichter Duft mich immer trunken machte. Doch mit einem Male merkte ich, dass ich gar keinen Geruch wahrnahm! Und mir schien, ich atmete gar nicht. Das frische, heitere Lila der Fliederblüten verblasste nach und nach. Der Himmel wurde weiß, und die ineinander verschlungenen dünnen, braunen Stängel der Blüten neigten sich und legten sich auf die gelbgetönte, lockere Erde, und was mir in den Händen blieb, war ein ausgelöschter, toter Frühling, der in einen goldenen Rahmen gefasst war.

       Aus dem Farsi von Sigrid Lotfi

      DAS FENSTER ZUM RHEIN

      Die Frau öffnete die purpurfarbene Tür und hielt den Atem an. Sie blickte auf die vielen dunklen Flecke, die den blauen Teppichboden bedeckten, zog ihre Handschuhe aus und schlug den Kragen ihres Mantels herunter. Sie dachte an die Stunde, die hinter der nächsten Tür auf sie wartete, und an die neu gekauften Stifte und Hefte.

      Sie atmete aus und schloss die Tür. Der muffige Geruch nach Fisch, der Gestank des mehrmals gekochten Öls, die abgestandene Luft ekelten sie an. In ihrer Vorstellung siedete heißes Öl in einem Topf aus Aluminium, in dem Fische und kleingeschnittene Kartoffeln schwammen und sich langsam verfärbten. Sie spürte, wie ihr übel wurde.

      Der Mann lag auf dem Sofa, spielte mit seinem Schnurrbart und telefonierte. Er trug einen weißen Schlafanzug, dessen ausgebeulte Hosenbeine in schwarzen Socken steckten. Als er die Frau sah, richtete er sich auf, und sein fetter, in eine braunrote Weste gezwängter Bauch drängte sich hervor. Der Mann zog die Weste herunter, um das steife Glied zwischen seinen Beinen zu verbergen.

      Das Radio war eingeschaltet. Der Sprecher zählte die wegen Eis und Schneefällen gesperrten Autobahnen auf und teilte mit, dass die sibirische Kälte inzwischen ganz Europa überzogen habe.

      »Es handelt sich um die tiefsten Temperaturen der letzten zehn Jahre.«

      Der Mann sagte ins Telefon: »Du irrst dich … Der Toman ist mehr wert … also, der amtliche Kurs ist höher. Ach … du … ich handle nicht mit Dollars, sondern mit Mark.«

      Eine zärtliche Stimme begann zu singen: »Neunundneunzig Luftballons …«

      Die Frau öffnete alle Fenster, spürte die Kälte und fror. Sie sah sich in die bleiernen Wellen des Rheins tauchen, der jenseits des grauen Aluminiumrahmens und zu Füßen der nackten, rotgelb gefärbten Bäume vorbeifloss. Sie drehte sich um und schaltete das Radio aus.

      Der Mann protestierte: «Ich wollte aber das Lied hören …«

      Die Frau antwortete nicht, ging ins Schlafzimmer und zog sich um. Sie nahm die Hefte und die Stifte aus der Tasche und legte sie auf den Tisch. Sie öffnete ein Heft, blätterte darin, berührte die glatten Seiten; sie waren weiß und weich. Sie schloss die Augen und roch das Papier der Buchhandlung, zwischen deren Regalen sie zwölf Jahre ihres Lebens verbracht hatte. Dort lernte sie den Mann und das Leben kennen. Auch die Liebe und die Leidenschaft. Die Freunde und auch sich selbst. Dort, in einer geheimen Ecke im Hinterzimmer, das nach Papier, Papier und nochmals Papier roch, versteckte sie die verbotenen Bücher. Dort wurde sie festgenommen, und nach der Entlassung aus dem Gefängnis ging sie dorthin zurück; in den gepressten Geruch des Waldes. Zwischen den Regalen stand nun der Mann. Er erwartete sie lächelnd und drückte ihre Hände in freudiger Erregung. Sie umarmte ihn und den starken Geruch der wilden Natur und weinte vor Lust und Leidenschaft.

      Nahm er damals überhaupt den Geruch des Papiers wahr?

      Die Frau nahm das Löschpapier aus dem Heft. Es war gelb, weich und flauschig und roch nach der harten Haut eines Winterbaums. Sie faltete es, roch daran und schmeckte es mit der Zunge. Sie mochte den süßen Geschmack der Zellulose. Als sie es an die Lippen nahm, fühlte sie den Blick des Mannes im Nacken.

      »Isst du Fisch?«

      Die Frau klappte das Heft zu und legte es in die Schublade. Der Mann telefonierte noch einmal.

      »Also … das geht mich nichts an! Wenn du kein Geld hast, darfst du nichts kaufen! Das ist dein Problem … oder?«

      Eine männliche Stimme sang: »Dich brauche ich. ja … dich!«

      Alle Fenster waren wieder geschlossen. Aus den grauen Wellen des Rheins stieg Nebel auf. Die Frau schüttelte sich und ging in die Küche.

      Der abscheuliche Gestank der Fische und des heißen Öls ließ ihren Atem stocken. Der Dampf beschlug ihre Brillengläser. Sie nahm sie ab. Trübe verschwammen die Dinge vor ihren Augen und verloren ihre Gestalt. Sie versuchte, durch den Mund zu atmen, und schluckte eine Tablette gegen Kopfschmerzen und eine zur Erhöhung des Blutdrucks. Sie spürte kaltes Fischöl auf der Zunge. Sie wollte sich übergeben. Aber es gelang ihr nicht.

      Ein kleiner Fisch mit weißen Augen schwamm auf dem Schaum des heißen Öls zwischen den lehmfarbigen Pommes frites. Wie Blattern hatten sich tausend winzige Öltröpfchen auf der glänzenden Oberfläche des Herdes ausgebreitet. Die Frau goss Milch in ein Glas, stellte es auf das Tablett, legte Brot daneben, wischte sich die Hände mit einem Tuch ab, das neben dem Herd hing und nach Fisch roch. Sie öffnete das Fenster. Der Mann kam in die Küche.

      »Ah … es duftet …Isst du keinen Fisch?«

      Die Frau nahm das Tablett.

      »Nee …«, murmelte sie.

      Der Mann schloss das Fenster, noch ehe sie die Küche verlassen hatte.

      Die Frau stellte das Radio leise, in dem ein Sänger »Thriller« schrie, öffnete das Fenster halb und starrte die Rheinbrücke an, auf der sie vor einer Stunde mit erstarrten Händen und Füßen und einer Frage stand, auf die niemand eine Antwort wusste: Was habe ich hier zu suchen?

      Der Asphalt war dunkelgrau-grün, und eine Schicht aus wässerigem Eis und schlammigem Schnee bedeckte ihn bis zu den Brückenrampen. Unerträglich der Lärm der rasenden Autos, das Brummen der Schiffsmotoren, das Donnern der Flugzeuge, die über sie hinwegflogen; unerträglich die Schwindel erregende Höhe der Brücke, die Tiefe des Rheins, die gläsernen Fäden des Regens; unerträglich die Kälte, ihr erstarrter Körper, das Leben. Ach … ja … das Leben selbst. Sie hielt sich die Ohren zu. Ein wilder Fluss rauschte in ihrem Kopf. Ein Chor schrie: »Thriller!«

      Sie zuckte zusammen, als sie den lauten Knall der eisernen Tür hörte, die hinter ihr zugeschlagen wurde. Man hatte sie in den Ziegelpflasterhof geschoben. Es geschah während einer Abenddämmerung im Herbst. Der Himmel war wolkig und zinnoberrot. Der Wind war ein Drache, der ständig den Schwanz auf den Boden schlug. Es roch nach Staub und Traurigkeit. Ein Jahr ihres Lebens blieb hinter jener eisernen Tür zurück, so wie der Glanz ihrer Augen hinter einem dicken Tuch. Sie verbrachte dieses Jahr in einer Zelle, die wie ein blinder Spiegel weiß zu sein schien und bis zur Decke