Die gläserne Heimat. Fahimeh Farsaie

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Название Die gläserne Heimat
Автор произведения Fahimeh Farsaie
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783943941579



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zum ersten Mal diesen Satz aussprach.

      Ich hatte einen Zipfel meines Blusensaums gefasst und stopfte ihn mir immer wieder zwischen die Zähne. Ich hatte nicht die geringste Lust, meiner Tante in ihr haariges Gesicht zur blicken. Auch wenn ihr Gesicht nicht behaart gewesen wäre, hätte ich sie nicht anblicken mögen! Die Fingerspitzen brannten mir. Von heißem Fett kann man ja nichts andres erwarten! Das wusste ich selbst auch; aber ich hatte einfach nicht anders gekonnt. Meine Tante musste jeden Augenblick auftauchen, deshalb schob ich die Finger unter das größte Hackfleischbällchen, das gerade im Fett brutzelte, und steckte es, obwohl ich dabei schreckliche Qualen litt und es zerbröckelte, in die Tasche meines grauen Schulkittels. Um den brennenden Schmerz zu lindern, steckte ich die Finger in den Mund. Meine Tante kam mit der Schüssel Reis zurück, um die ich sie gebeten hatte, und heftete ihren Blick gleich auf die Tasche meines Kittels. Ich senkte den Kopf. Ich wollte so schnell wie möglich diese verdammte Schüssel Reis an mich nehmen und die Flucht ergreifen. Seit zwei Tagen hatten wir nichts Ordentliches gegessen.

      Meine Tante sagte: »Was ist das da in deiner Tasche?!«

      Ich stellte mich taub, und während meine Finger noch brannten und der Schmerz mir die Tränen in die Augen trieb, erhob ich mich auf die Zehenspitzen und reckte die Arme, um ihr die Schüssel abzunehmen.

      Ich sagte: »Mutter lässt dir sagen: Vergelt’s dir Gott!«

      Die Schüssel noch höher haltend, sagte meine Tante: »Gott vergelt’s auch deiner Mutter – die mit ihrer Kindererziehung … Ich hab’ dich gefragt, was du da in der Tasche hast!«

      Ich schielte auf die Tasche meines Kittels und sah, dass sich ringsherum ein Fettfleck ausgebreitet hatte.

      Ich hob den Zipfel vom Blusensaum hoch und stopfte ihn mir immer wieder zwischen die Zähne. Vom Geschimpfe meiner Tante kriegte ich nichts mit. Ich dachte über die Beobachtung nach, dass Fett genauso wie Wasser durchsickert!

      Immer noch zeterte meine Tante und machte mich und meine Mutter und ihre eigenen Verstorbenen und die meiner Mutter schlecht. Am Ende schrie sie: »Sag mal, fängst du wieder damit an, he? Fängst du wieder damit an?!«

      (Du quälst mich, Gol! Da sind noch viele Dinge, die ich erledigen muss. Eins davon ist, Milch aufzutreiben für dich! Deshalb stör mich nicht dauernd! Klammre dich nicht ewig mit deinen kleinen heißen Händen an mich, dass ich dich auf den Arm nehmen soll! Mein Liebling, meine Freude! Lass mich meine Arbeit tun! Gleich kommen die Beamten. Guck mal, guck dir dies mal an! … Diese kleinen Menschlein sieh dir an, die gehen im Kreis! … Sieh mal, wie hoch die Mauern reichen … So hoch sind die, dass man es nicht für möglich hält, Sonnenlicht und frische Luft könnten darüber hinweg streichen! … Das ist ein Gefängnis! Dies Bild heißt »Der Kreis der Gefangenen«. Siehst du die Polizisten, wie sie aufpassen? … Diese Männer sind zum Luftschnappen herausgekommen, danach gehen sie wieder in ihre Zellen! Siehst du diese kleinen Fenster mit den Gittern davor! … Die gehen da hin … Ich will das in den Koffer mit deinen Kleidern tun, ja?)

      Ich hatte gesagt: »Das ist gut, dann ruhe ich mich mal so richtig aus. Das ist doch besser als dies sinnlose Herumgelaufe … Was gab’s denn draußen für mich außer Elend und Hunger?!«

      Ich hatte die Nase krausgezogen und sah mir Stück für Stück die großen und kleinen Figuren an, die in dem Zimmer im Glasschrank standen. Offenkundig hatten ungeschulte Hände sie angefertigt. Mir ging allmählich die Geduld aus. Der Herr Doktor war noch beim Konjugieren der sechs Formen des Verbs »patriotisch gesinnt sein«: »ich bin patriotisch gesinnt … die, die hier sind, sind alle patriotisch gesinnt … ihr seid alle patriotisch gesinnt?«

      Es überraschte mich nicht, dass er, als er zur Anredeform im Singular und Plural gelangte, das Verb im Frageton konjugierte.

      Aus Ärger war es … Alles, was ich sagte, sagte ich im Ärger. Ich war einfach dabei zu platzen. Ich, die es keinen Augenblick an einer Stelle gehalten hatte, brachte jetzt meine Zeit vom Abend bis zum Morgen, vom Morgen bis zum Abend in einer zwei mal zweieinhalb Meter messenden Zelle zu. Ich wünschte mir nur, dass sie mich in Ruhe ließen.

      Der Herr Doktor war beim Imperativ von »patriotisch gesinnt sein« angelangt. »Seid alle patriotisch gesinnt!« – und ich blickte immer noch auf den kleinen Teppich am Boden und seine Ornamente. Die vom Block 4, hatten ihn geknüpft. Frau Hosseyni hatte gesagt: »Der Herr Doktor verrichtet sein Gebet auf diesem Teppich in seinem Zimmer …« und hatte die zum Himmel erhobenen Augen in einer Art und Weise gesenkt, als sei sie Gottes strafendem Blick begegnet.

      Während ich auf den Teppich blickte, hörte ich gleichzeitig den Worten des Herrn Doktor zu: »Also, das ist ja nun gar nichts … Steh auf, nimm das Bildnis des Schahs von da oben runter, zerbrich es, dann verpass’ ich dir lebenslänglich … und du kannst dich bis ans Ende deines Lebens ausruhen.«

      Ich sagte: »Darin seh’ ich absolut keinen Sinn.«

      Und um nicht in Gelächter auszubrechen, zog ich die Nase kraus. Aber als ich mir die ineinander verschlungenen Linien im Teppich mehrmals genau ansah, konnte auch das Krausziehen der Nase nicht mehr meinen Lachanfall bremsen: In dem Teppich waren die Worte »Tod dem Schah!« eingewebt. Und der Herr Doktor tat dreimal täglich vor diesen geheiligten Worten einen Kniefall!

      Danach, wann immer ich guter Laune war, foppte ich Frau Hosseyni: »Im Ernst, Frau Hosseyni, wo verrichtet der Herr Doktor sein Gebet?!«

      (Ja doch … mein Schatz, komm auf meinen Arm und lass das Weinen! Du mein Liebling, bist du’s leid? Gleich geh’ ich mit dir raus … geh’ Milch für dich kaufen … Wie sehr lieb’ ich doch deine weißen Perlmuttzähnchen … Hast du Sehnsucht nach Papa? Ich auch … dass er uns beide in die Arme schließt, danach sehne ich mich! … Aber wenn wir ihm das sagen, weißt du, was er dann antwortet? Sofort hält er uns »die anderen« vor! »Die anderen«, »die anderen«, ich hab’ sie einfach satt, »die anderen« … Ich mag sie ja gern, aber ihretwegen bin ich mit den Nerven fertig … Weißt du: Diese anderen drängen sich zwischen uns und ihn. Und du wagst nichts zu sagen, sonst werden dir Berge von »Verantwortung«, »Verpflichtung« und »Liebe« und dergleichen auf die Schultern geladen! Ich möcht’ mal wissen, sind wir denn nicht ein Teil der anderen? Du, mein Kleines, bist du denn nicht mal soviel wert wie die anderen?!

      Offenbar nicht! Denn Tausende wie dich gibt es, die täglich geopfert werden! … Seine Antworten kenn’ ich ja auswendig! … Aber lassen wir dies Thema, Schätzchen! Komm, für dies hier wollen wir jetzt einen Platz finden. Weißt du, wie es heißt? »Der 3. Mai 1808« … Siehst du, welch Grauen in seinen Augen steht? Das Grauen seines eigenen Lebens und das seiner Landsleute. Unser Tod hat ihn vor Grauen in den Wahnsinn getrieben.)

      Als ich das Handtuch vom Kopf zog, hatte ich dies Todesgrauen direkt vor Augen: in den tiefschwarzen Augen von »Onkel«, der im Winter barfuß, bis zu den Knien im Schnee, ohne zu verschnaufen auf den Gipfel des Toutschal zu steigen pflegte. Seine Stimme zeugte von Gesundheit: klar und rein. Seine Zähne zeugten von Gesundheit: blendend weiß. Seine Gestalt war die verkörperte Gesundheit: straff, breitschultrig, kräftig und immer gepflegt.

      Und jetzt stand er mir gegenüber; schmutzig und struppig war er und gebrochen, zerschmettert, mit einer Welt von Grauen in den Augen.

      Die widerwärtige Stimme des Doktors wurde laut: »Kennst du den?«

      Er hatte mich erbarmungslos geprügelt, hatte mich erbarmungslos gefoltert, erbarmungslos zermürbt. Mit dem Jackenärmel das Blut von der Nase wischend, sagte ich: »Nein, woher soll ich den kennen?«

      Dann sagte er: »Und du? Kennst du die?!«

      Auch an seiner Stimme war »Onkel« nicht wiederzuerkennen. Er sagte: »Ja. Es war geplant, Sie in der Aufklärungseinheit einzusetzen …«

      Ich dachte bei mir: Wen? Mich? Welche Planung? und blickte um mich, und meine Augen verweilten auf der Skizze eines Gewehrs, das mit Kugelschreiber auf den Putz der Wand gezeichnet war. Ich zog die Schultern hoch und lachte laut und höhnisch auf.

      Die widerwärtige Stimme des Doktors erhob sich wieder: »Tragt die Leiche raus!«

      Ich wusste