Название | Kunst und Handwerk des Schauspielers |
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Автор произведения | William Esper |
Жанр | Сделай Сам |
Серия | |
Издательство | Сделай Сам |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783895815546 |
Aus diesem und anderen Gründen ist die Kunst des Schauspielens rätselhaft. Aber das Ziel – die Beherrschung des Handwerks – ist der einzig akzeptable Grund, um zu schauspielen«, sagt Bill. »Alles andere ist unwürdig.«
Ein kleiner, zur Glatze neigender, rundlicher Mann hebt vorsichtig die Hand. Das ist Jon. Er kommt aus Dänemark. »Meine Familie«, sagt er, »denkt, dass ich träume. Sie sagen mir die ganze Zeit: ›Du wirst niemals Schauspieler. Werde erwachsen. Such dir einen richtigen Job.‹«
Bill sitzt für einen Moment schweigend da: »Ich habe mich immer über Menschen gewundert«, sagt er schließlich, »die Leidenschaft für Sicherheit aufgeben. Menschen, die sich weigern, ihren Träumen zu folgen. Die den Träumen anderer im Weg stehen. Ich frage mich, was sie im Leben vorantreibt.«
Bill schaut in die Ferne und beginnt mit den Fingern seiner rechten Hand auf die Tischkante zu klopfen. »Wisst ihr«, sagt er, »es stimmt, was Thoreau sagt: ›Die große Masse der Menschen führt ein Leben voll Verzweiflung.‹ Denn die meisten Menschen messen ihr Leben an sogenannten signifikanten Momenten, deren Anzahl sich für gewöhnlich an zwei Händen abzählen lässt. Ein Schulabschluss. Eine Ehe. Der Verlust eines nahestehenden Menschen. Die Geburt eines Kindes. Eine lang erwartete Beförderung. Eine Midlife-Crisis. Vielleicht eine Scheidung. Der Ruhestand. Ihre beste Runde Golf. Eine plötzliche Tragödie. Ein in einem Gewinnspiel gewonnener Urlaub. Das sind die Höhepunkte im Leben eines normalen Menschen.
Aber ein Schauspieler lebt mit einer anderen Wahrheit. Für einen Schauspieler ist jeder Moment ein Höhepunkt. Er kann ein ganzes Leben in zwei Stunden oder weniger leben. Ein Schauspieler weiß, dass das, was wir Leben nennen, nichts anderes ist als eine Reihe von Momenten, die in einer geheimnisvollen Kette aneinandergereiht sind. Dementsprechend gibt es für den Schauspieler keine kleinen oder wichtigen Momente – da spielt einem der Verstand einen Streich. Der Schauspieler schult sich deshalb darin, auf alle Momente zu achten und jeden einzelnen so zu leben, als wäre jeder Moment sein letzter. Er lernt, aufmerksam zu leben, nur seinem Wahrheitssinn verpflichtet, ohne Erwartung, ohne Furcht. Die Momente verbinden sich zu einer endlosen Welle, auf die der Schauspieler reitet, ohne zu wissen, wohin er sie als Nächstes führen wird – es kümmert ihn nicht, um ehrlich zu sein. Denn der Schauspieler weiß, dass es niemals ein Ergebnis und niemals ein Ende gibt. Es gibt nur den Ritt.
Was ich euch hier beibringe, wird euch euer ganzes Leben begleiten – wenn ihr es denn wollt. Niemand wird es euch jemals wegnehmen können. Wenn ihr wollt, wird es eure treibende Kraft werden. Eure Kunst wird euer Tor zur Welt sein.
Aber täuscht euch nicht; das Leben eines Schauspielers ist hart. Selbst die Bekanntesten in unserer Branche müssen kämpfen. Aber solltet ihr euch entschließen, dieses Handwerk voll auszuüben, wenn ihr euch eurer Arbeit verschreibt, wenn ihr euch von ihr ernähren, versorgen, erschaffen und neu erschaffen lasst, dann werdet ihr – egal, was geschieht, egal, was die Welt euch antut – immer in der Lage sein, erhobenen Hauptes durchs Leben zu gehen. Wenn die Leute fragen: ›Was machst du?‹, kannst du mit Stolz antworten, dass du Schauspieler bist. Du bist Künstler. Und wenn sie das nicht verstehen, gibt es nichts weiter zu sagen.«
Bill ändert plötzlich die Richtung: »Genug«, sagt er. »Genug geredet! Wer will mit der Arbeit beginnen?«
Jetzt, zum ersten Mal, strecken alle ihren Arm in die Höhe.
»Okay. Los geht’s!«
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3Vgl. Sanford Meisner in: Sanford Meisner/Dennis Longwell: Schauspielen. Die Sanford-Meisner-Technik, Alexander Verlag, Berlin 2016/2021, S. 35.
4Vgl. Sanford Meisner: »Das Fundament der Schauspielkunst ist die Realität des Handelns.«, a. a. O., S. 36.
5Im Original: ›Actions. Acting. Actor.‹ (Anm. d. Übers.)
2
Die erste Übung: Hast du gehört, was er gesagt hat?
Du brauchst dein Zimmer nicht zu verlassen. Bleib einfach an deinem Tisch sitzen und horche. Du brauchst nicht einmal zu horchen, warte einfach. Du brauchst nicht einmal zu warten, werde einfach still, und die Welt wird sich dir offenbaren, um demaskiert zu werden; sie hat gar keine andere Wahl. Sie wird sich in Ekstase vor deinen Füßen wälzen.
FRANZ KAFKA
Bill fragt: »Ist jemand von euch auf einer Farm aufgewachsen?« Cheryl hebt die Hand. Sie ist eine junge Frau aus einem ländlichen Teil von Illinois, mit großen Augen, hübsch. »Okay«, sagt Bill. »Dann bist du genau die richtige Person, um diese Frage zu beantworten. Angenommen ich hätte den verrückten Traum, einen schönen, saftigen, riesengroßen Kohlkopf anzubauen. Womit müsste ich anfangen?«
Cheryl lächelt: »Üblicherweise beginnt man mit einem Kohlsamen.«
»Natürlich! Ausgezeichnet! Jetzt möchte ich dich Folgendes fragen: Sagen wir, ich habe anstelle eines Kohlkopfes einen noch größeren Traum. Ich möchte eine mächtige Eiche pflanzen. Was brauche ich dafür?«
Cheryl sieht Bill an, als wäre er verrückt geworden. »Eine Eichel?«, sagt sie, als würde sie eine Fangfrage beantworten.
»Richtig«, sagt Bill, »eine Eichel ist der Samen, aus dem eine Eiche entsteht, nicht wahr?«
»Ja.«
Bill wendet sich an die Klasse: »Samen sind sehr wichtig. Lasst euch nicht von ihrer Größe täuschen. Aus dem kleinsten, einfachsten Samen können die größten und raffiniertesten Dinge entstehen. Ihr glaubt mir nicht? Schaut euch nur selbst an. Jeder von uns hat sich aus einer mikroskopisch winzigen Eizelle entwickelt. Und jetzt, viele Jahre später – seht, wie wir herangewachsen sind.
Die Saat – der Anfang – ist von großer Bedeutung. Und ein guter Anfang ist sehr wichtig: ›Wie die Saat, so die Ernte.‹ Tja, ihr könnt keinen guten Kohlkopf und keine mächtige Eiche aus schlechtem Saatgut ziehen. Ihr braucht eine gute Saat, um gute Dinge aufzuziehen, und Schauspielen ist da keine Ausnahme. Hat jemand von euch Ballettunterricht gehabt?«
Melissa, eine große, gelenkige junge Frau mit hellen Augen und der Figur einer Tänzerin, hebt die Hand. »Ich«, sagt sie. »Fünfzehn Jahre lang.«
»Perfekt. Und an deinem ersten Unterrichtstag – als du das allererste Mal ein Ballettstudio betreten hast –, hat der Lehrer sich da von der Stange abgewandt und gesagt: ›Guten Morgen. Heute werden wir Schwanensee tanzen. Wer möchte der Schwan sein?‹«
Melissa lacht und schüttelt den Kopf. »Nein, so war es bei mir nicht.«
»Ach nein? Wie war es denn bei dir?«
»Wir machten nichts als Übungen. Wir mussten uns wieder und wieder Schritte, Positionen, Bewegungen einprägen – bis alles in Fleisch und Blut übergegangen war. Erst dann durften wir tanzen.«
Bill blickt Melissa mit einem ironischen Lächeln an: »Was für eine Ballettkarriere hättest du wohl gehabt, wenn du bereits am ersten Tag angefangen hättest, Schwanensee zu tanzen?«
Melissa denkt darüber nach. »Überhaupt keine. Ich hätte nicht die nötigen Fertigkeiten gehabt, um das oder irgendein anderes Stück tanzen zu können.«
»Das bringt es auf den Punkt«, sagt Bill. »Musiker, Tänzer, Maler und Sänger – alle ernsthaften Künstler – verpflichten sich zu einer Reihe von Trainingsübungen, die die notwendigen Fähigkeiten vermitteln, um den Ansprüchen ihres Mediums gerecht werden zu können. Ein Bereich, in dem das aber leider nicht so gut verstanden