Название | Kunst und Handwerk des Schauspielers |
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Автор произведения | William Esper |
Жанр | Сделай Сам |
Серия | |
Издательство | Сделай Сам |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783895815546 |
Bill denkt nach. »Okay«, sagt er. »Aber lass mich das klarstellen. Die Geschichte, von der du sprichst, die findet doch auf der Bühne statt, oder? Also … ist sie echt?«
Vanessa denkt einen Moment nach. Dann schüttelt sie den Kopf.
»Nein, ist sie nicht«, sagt Bill. »Mit anderen Worten, es ist eine Arbeit der Vorstellungskraft. Und damit sind wir wieder bei der Vorstellungskraft.« Er blickt zu Trevor, der nickt. »Vielleicht halten wir fest, dass Schauspielen etwas mit der Vorstellungskraft zu tun haben muss.«
Einige Schüler fangen an, sich Notizen zu machen. Bill fährt fort: »Hier im Studio gibt es eine Arbeitsdefinition für Schauspielen. Diese Definition stammt direkt von meinem eigenen Lehrer, Sanford Meisner, und ich persönlich halte sie – nach vierzig Jahren Unterricht – noch immer für richtig. Sandy sagte: ›Schauspielen ist wahrhaftiges Leben unter imaginären Gegebenheiten.‹3 Versteht ihr das?«
Sechzehn Köpfe gehen auf und ab, während sich die Klasse über ihre Notizbücher beugt.
Bill kratzt sich am Kinn und runzelt die Stirn. Dann fährt er fort: »Also gut. Dann lasst uns das ein bisschen untersuchen. Schauspielen ist wahrhaftiges Leben unter imaginären Gegebenheiten. Schön. Aber bevor wir weitergehen, lasst uns diese Definition zunächst einmal untersuchen. Mir scheint, es gibt zwei wichtige Dinge in dieser Definition, die berücksichtigt werden müssen. Welche sind das?«
»Wahrhaftig zu leben«, sagt jemand in der ersten Reihe.
»Richtig«, sagt Bill, »das ist ganz wichtig. Was noch?«
»Das Imaginäre. Die Vorstellungskraft«, sagt eine weibliche Stimme hinter mir.
»Gut«, sagt Bill. »Lasst uns versuchen, diese Dinge aufzuzeigen.«
Bill blickt zur Studiotür, als erwarte er jemanden. Dann sagt er: »Wahrheit ist so wichtig für die Kunst – denn beurteilen wir die Dinge nicht danach, wie wir sie sehen? Denkt darüber nach. Ist einer von euch jemals aus einem Theater oder einem Film gekommen und hat gesagt, ›Oh, das hat mir wirklich gefallen! Das war so verlogen! Ich habe nicht einen Moment daran geglaubt!‹«
Alle lachen. Auch Bill kichert: »Wahrheit ist die Essenz der Kunst. Ohne Wahrheit kann ein Kunstwerk den menschlichen Geist nicht berühren.« Jemand in der hinteren Reihe brummt zustimmend, und Bill fährt fort: »Schauen wir uns jetzt den zweiten Teil der Definition an, den imaginären Teil. Die Fantasie ist von zentraler Bedeutung für Schauspieler, da sich alles, was wir tun, in der Welt der Fantasie abspielt.
Wenn ihr euch ein Stück anseht – Hamlet zum Beispiel –, wisst ihr, dass der in Schwarz gekleidete Mann nicht wirklich der Prinz von Dänemark ist. Dass die Frau, die ihren Schwager heiratet, nicht wirklich die Königin ist. Tatsache ist, dass ihr nicht einmal in Dänemark seid. Ihr sitzt im zweiten Rang eines Broadway-Theaters in der Vierundfünfzigsten Straße, und das Ganze ist ein Lügengewebe, ein Fantasiegebilde von William Shakespeare. Wenn also alles Lüge ist, wie können wir sagen, dass es wahr ist?«
Amber blickt auf. »Weil wir vergessen, dass es eine Lüge ist, wenn die Schauspieler gut sind.«
Bill nickt. »Stimmt. Wenn die Schauspieler gut sind, beginnen wir auf das Bühnengeschehen so zu reagieren, als ob es real wäre, als ob wir einem tatsächlichen Ereignis zuschauten. Weißt du, warum das so ist?«
Amber denkt nach und schüttelt dann den Kopf.
»Weil nämlich, wenn die Schauspieler wirklich gut sind, das, was wir sehen, nicht vorgetäuscht ist. Es ist Wirklichkeit. Wisst ihr, warum? Hemingway sagte einmal: ›Alle guten Bücher haben eine Sache gemeinsam – sie sind wahrer, als wenn sie wirklich passiert wären.‹ Ist es nicht genau das, worüber wir hier gerade reden?«
Alle schreiben mit. Bill fährt fort: »Kennt ihr den großen Harold Clurman? Er war ein angesehener Kritiker, Regisseur und Lehrer, der maßgeblich an der Gründung des Group Theatre beteiligt war – das vielleicht wichtigste Theater, das wir in diesem Land je hatten. Eines seiner Bücher war eine Sammlung seiner Theaterkritiken mit dem Titel Lies Like Truth (Lügen wie Wahrheit). Ich liebe diesen Titel, weil er die Essenz des Theaters in drei einfachen Worten ausdrückt. Lügen wie Wahrheit. Das ist das Wesen allen guten Schauspielens: Illusion, die real ist. Fantasie, die wahr gemacht wird.«
Eine ältere Frau, Joyce, meldet sich. Mir fällt wieder ein, was Bill mir von ihr erzählt hat. Sie war einige Jahre recht erfolgreich in einem regional theater, bevor sie eine Pause einlegte, um eine Familie zu gründen: »Du meinst also, dass Schauspieler Lügner sind?«
Die Klasse lacht. Bill wendet sich ihr zu und lächelt: »Das ist in der Tat genau das, was ich sage.«
Die Klasse hört auf zu lachen.
»Ja, Schauspieler sind wunderbare Lügner. Sie bringen einen dazu, alles zu glauben, oder? Sie können einen davon überzeugen, dass sie gerade eine Million Dollar gewonnen haben oder dass ihre Mutter heute früh gestorben ist. Sie sprechen mit einem Akzent und lassen einen glauben, sie seien Deutsche, wenn sie in Wirklichkeit Australier sind. Sie sind wunderbare Lügner – aber der Unterschied ist: Ihre Lügen gründen immer auf Wahrheit und immer – immer! – dienen ihre Lügen der Kunst.«
Die Klasse schweigt. Nach einem längeren Moment fährt Bill fort.
»Ihr wisst, dass ich immer Gespräche mit den Schülern führe, bevor sie mit dem Unterricht bei mir beginnen. Oft frage ich: ›Hast du vorher schon einmal gespielt?‹ Manchmal sagt einer: ›Na ja, nein! Ich habe noch nie gespielt – weder in einem Theaterstück noch im Fernsehen oder in einem Film. Aber ich spiele ständig! Im Leben!‹ In Wirklichkeit meint er, dass er viel lügt. Dazu sage ich: ›Unsinn! Das ist nicht Schauspielen.‹ Weil Schauspielen nicht unter echten Lebensbedingungen stattfindet; es spielt sich innerhalb der Grenzen von imaginären Gegebenheiten ab.«
Bill macht eine nachdenkliche Pause: »Versteht ihr den Unterschied?«, fragt er.
Die Klasse nickt.
»Also, wir haben diese wunderbare Arbeitsdefinition für Schauspielen: Schauspielen ist wahrhaftiges Leben unter imaginären Gegebenheiten. Aber es gibt da ein Problem, oder nicht? Ihr seht das Problem, oder?«
Die Klasse starrt Bill mit ausdruckslosen Gesichtern an.
»Nun, es ist eine recht allgemeine Definition, oder nicht?«
Niemand antwortet.
»Ich zeige euch, was ich meine.« Bill zeigt auf einen der jungen Männer in der ersten Reihe. »Wie heißt du?«
Der junge Mann hat dichtes schwarzes Haar und einen offenen Gesichtsausdruck, der gleichzeitig alarmierend direkt und verletzlich ist. Er sagt: »Ich heiße Dom.«
»Okay, Dom«, sagt Bill. »Wie lautet unsere Definition für Schauspielen nochmal?«
Dom wiederholt: »Wahrhaftiges Leben unter imaginären Gegebenheiten.«
Bill lächelt. »Könntest du mir bitte einen Gefallen tun?«
Dom ist vorsichtig. »Klar.«
»Könntest du bitte nach vorne kommen und für alle ›wahrhaftig leben‹? Natürlich nur als Beispiel.«
Dom rührt sich nicht.
Bill beugt sich vor. »Gibt es ein Problem?«
»Ich kann … Ich meine … Ich …«
»Was ist los?«
»Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll.«
»Warum nicht?«
Verwirrung breitet sich auf Doms Gesicht aus. »… ›leben‹ …?«
Bill runzelt die Stirn. »Weißt du nicht, was ›leben‹ bedeutet?«
Dom müht sich mit der Frage für einen Moment