Kunst und Handwerk des Schauspielers. William Esper

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Название Kunst und Handwerk des Schauspielers
Автор произведения William Esper
Жанр Сделай Сам
Серия
Издательство Сделай Сам
Год выпуска 0
isbn 9783895815546



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wie kann ich meine Originalität kultivieren?‹ Keine schlechte Frage für einen jungen Schriftsteller. Flaubert dachte darüber einen Moment nach und erwiderte: ›Geh in deinen Garten und suche einen Stein. Trag diesen Stein in dein Haus und leg ihn auf deinen Schreibtisch. Jeden Tag, bevor du mit dem Schreiben beginnst, nimmst du den Stein und betrachtest ihn für ein oder zwei Minuten. Weißt du, was passieren wird? Eines Tages wirst du in dem Stein etwas sehen, was kein anderer Mensch auf dieser Welt jemals zuvor gesehen hat. Und das wird deine Originalität sein.‹

      Ein Schauspieler muss wissen, was er bei allem verspürt. Und ich meine wirklich alles. Die Entwicklung dieser Verbindung mit deiner eigenen wahren Person, deinem Standpunkt, ist ein Schwerpunkt der Arbeit in der Entwicklung eines Schauspielers. Im Moment läuft es auf eine einfache Sache hinaus: Jemandem zu sagen: ›Ich mag deinen Gürtel‹, ist für deine Entwicklung hilfreicher, als ihm zu sagen: ›Du hast ein weißes Hemd an.‹«

      ***

      Zu Uma und Adam sagt Bill: »Adam, ich möchte, dass du die Wiederholung beginnst. Lass dir Zeit. Fang erst an, wenn Uma dich zu irgendeiner Bemerkung verleitet hat, egal wie belanglos sie ist.«

      Adam nickt und die Wiederholung beginnt. Eine Zeitlang sieht Adam Uma an, dann sagt er: »Ich mag deine Ohrringe!«

      Uma, erfreut: »Du magst meine Ohrringe?«

      »Ja, ich mag deine Ohrringe wirklich!«

      »Ja, du magst meine Ohrringe wirklich?«

      »Ja, ich mag deine Ohrringe wirklich!«

      »Ja, du magst meine Ohrringe wirklich?«

      »Ja, das habe ich gesagt. Ich mag deine Ohrringe wirklich!«

      Uma ist offensichtlich ein wenig überwältigt von Adams Offenheit und Enthusiasmus. »Also«, platzt sie heraus, »danke für das Kompliment.« Die Klasse bricht in Gelächter aus – Umas Bemerkung wirkt hilflos. Aber Adam bleibt bei der Wiederholung.

      »Schön«, sagt er, »danke mir für das Kompliment.«

      »Ja.« Uma lacht: »Danke dir für das Kompliment.«

      »Ja, danke mir für das Kompliment.«

      »Das wird wirklich zuckersüß.«

      Adam: »Das wird wirklich zuckersüß?«

      »Ja, das wird wirklich zuckersüß.«

      »So was zu sagen ist mies.« Die Klasse bricht erneut in Gelächter aus.

      »Okay!«, sagt Bill lächelnd. »Ihr habt’s verstanden. Habt ihr bemerkt, dass Uma mit ›Das wird wirklich zuckersüß‹ direkt ihre Sicht darüber ausdrückte, was zwischen ihnen vorging? Als dritte Möglichkeit, die Wiederholung zu ändern, könnt ihr auch eine Meinung äußern, einen Standpunkt (Point of view) formulieren. Und das kann jederzeit während der Wiederholung geschehen, solange etwas an die Oberfläche kommt und sich auf etwas bezieht, was wirklich existiert, was wirklich zwischen euch und eurem Partner vorgeht.

      ***

      Mehr Schülerpaare stehen auf und üben vor der Klasse die Wiederholung. Bill verfolgt die Arbeit mit Argusaugen und unterbricht von Zeit zu Zeit die Übungen, um auf einen verpassten Moment hier, einen unbeachteten Impuls dort hinzuweisen. Immer öfter nicken die Schüler zustimmend mit dem Kopf, während er mit ihnen arbeitet. Indem sie sich gewissenhaft an die Wiederholung halten, werden sie spontaner, und je spontaner sie werden, desto aufregender ist es, ihnen zuzuschauen: rührend, lustig, wild und absolut unvorhersehbar.

      Nach ein paar weiteren Runden weist Bill auf Folgendes hin: »Wisst ihr, was mir auffällt? Die Schauspieler, die mit der Wiederholung beginnen, äußern zunächst etwas Positives und Unterstützendes: ›Mir gefallen deine Schuhe.‹ ›Deine Haare sind toll.‹ In dem Moment, in dem ihr beginnt, euch selbst als schauspielerisches Instrument einzusetzen, kann nur eines auf der Welt für euch von Bedeutung sein: die Wahrheit.

      Harold Clurman sagte einmal: ›Das Theater ist universell, nichts Menschliches ist ihm fremd.‹ Deshalb akzeptieren Bühnenschaffende alle Lebensstile, alle menschlichen Werte. Wir begrüßen die Vorstellung, dass es nichts – nicht die höchsten Gipfel des Adels, nicht die tiefsten Tiefen der Verderbtheit – nichts gibt jenseits unseres Lebensbereichs als Akteur in der großen Leidenschaft des Lebens. Wir dürfen nicht richten. Wir müssen uns voll beteiligen. Wir müssen immer die Wahrheit ehren.

      Wenn wir ehrlich mit uns selbst sind, müssen wir zugeben, dass wir uns im wirklichen Leben oft auf eine Art und Weise verhalten, die weniger ehrlich ist. Wann habt ihr das letzte Mal euren Gastgeber auf einer Party angesprochen und gesagt: ›Gute Nacht. Ich muss jetzt wirklich gehen. Es war furchtbar. Deine Freunde sind die widerwärtigsten Leute, die ich je in meinem Leben getroffen habe, und das Essen war schrecklich!‹«

      Alle lachen, auch Bill. »Das sagt ihr natürlich nicht. Wenn ihr es tätet, würden die Leute aufhören, euch zu Partys einzuladen. Im Leben sagen wir also viele Dinge nur, um etwas in Gang zu halten. Und im Leben hat es echte Konsequenzen, wenn man die Wahrheit sagt. Wenn ihr eurem Chef sagt, er kann euch kreuzweise, verliert ihr euren richtigen Job, habt kein richtiges Geld und ihr könnt eure richtige Miete nicht mehr zahlen. Aber wenn ihr spielt, ist die Situation völlig anders. Denn das gespielte Leben ist nie dasselbe wie das wirkliche Leben.

      Wie viele hier von euch würden zum Beispiel gerne an Krebs sterben?« Niemand in der Klasse hebt die Hand. Bill registriert das und fährt fort »Gut. Aber was ist, wenn euch jemand ein Drehbuch gibt und sagt: ›Also. Hier ist die Rolle, die du spielen sollst. In diesem Drehbuch stirbt deine Figur unter Qualen den ganzen zweiten Akt.‹ Wer würde diese Rolle gerne spielen?«

      Viele Hände gehen hoch. Bill grinst. »Natürlich würdet ihr das. Ihr empfindet so, weil ihr Schauspieler seid. Wenn du das Skript liest und feststellst, dass du an einer furchtbaren Krankheit sterben wirst, strahlt dein Gesicht und du denkst: ›Ah! Großartig! Schau dir diese fantastische Szene im Krankenhaus an, kurz bevor ich sterbe. Sie bringen die Kinder herein. Meine ganze Familie ist da. Sie bringen sogar den Hund mit, um Auf Wiedersehen zu sagen. Das ist perfekt! Da bleibt im Saal kein Auge trocken!‹«

      Die Klasse lacht. »Oder stellt euch vor«, fährt Bill fort, »Desdemona und Othello kommen nach der Vorstellung in die Garderobe. Die Schauspielerin, die Desdemona spielt, sagt zu dem Schauspieler, der den Othello spielt: ›Meine Güte, du warst wunderbar heute! Ich dachte wirklich, du würdest mich umbringen! Wirklich! Ich hätte beinahe ins Bett gemacht! Ich war begeistert! Komm, gehen wir ein Bier trinken!‹

      Die imaginierte Welt und die reale Welt haben unterschiedliche Werte, und das müsst ihr als Schauspieler verstehen. Jedes Mal, wenn ihr eine wahrheitsgemäße Antwort zurückhaltet, schadet ihr eurer Entwicklung als Schauspieler. Nur damit es gesagt ist, ich ermutige euch nicht, die Wiederholung in eine Entschuldigung für eure Unhöflichkeit zu verwandeln. Aber lasst uns anfangen, an euren ehrlichen Reaktionen zu arbeiten. Verändert sie nicht, um als nett wahrgenommen zu werden.

      Ihr seid hierhergekommen, um als Schauspieler ausgebildet zu werden. Und ihr bringt eine lebenslange Ansammlung von Verteidigungsmechanismen mit, die verhindern sollen, dass ihr euer wahres Selbst offenbart. Viele eurer vergangenen Erfahrungen haben mehr oder weniger euer wahres Selbst von der Welt abgeschirmt, bis zu einem Punkt, an dem ihr möglicherweise jegliches Bewusstsein dafür verloren habt, was euer wahres Selbst überhaupt ist.

      Die Wiederholung kann da helfen, weil sie Spontaneität verlangt. Und Spontaneität kann die starke Tür des Vorbehalts, die eure wahre Persönlichkeit gefangen hält, öffnen. Merkt euch, nur wenn ihr von einer Antwort auf etwas wirklich überrascht seid, wird sie auch andere Menschen überraschen – euer Publikum. Das ist eins der Ziele der Wiederholung. Man könnte sagen, dass ein großer Teil meiner Arbeit in den nächsten Wochen darin bestehen wird, euch dazu zu bringen, ihr selbst zu sein. Warum? Weil es die einzige Möglichkeit ist, euch wieder mit dem Nervenkitzel euer eigenen spontanen Reaktionen zu verbinden.

      Okay. Genug geredet. Lasst uns wieder an die Arbeit gehen.«

      ***

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