Standards zur Teilhabe von Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung und komplexem Unterstützungsbedarf. Deutsche Heilpädagogische Gesellschaft

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Название Standards zur Teilhabe von Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung und komplexem Unterstützungsbedarf
Автор произведения Deutsche Heilpädagogische Gesellschaft
Жанр Учебная литература
Серия
Издательство Учебная литература
Год выпуска 0
isbn 9783170395220



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– entwickelt werden. Es geht also nicht länger darum, in welches Angebot eine Person »passt«, sondern darum, wie eigene Lebensentwürfe umgesetzt werden können. In der Begründung zur Aufnahme des Begriffs Assistenz im BTHG wird das veränderte Verständnis von professioneller Hilfe gegenüber förderzentrierten Ansätzen der Betreuung ausdrücklich hervorgehoben.23 Personenzentrierung ist damit nicht nur ein Handlungskonzept, sondern auch ein Haltungskonzept.

      • Schauen wir zuerst auf das Abweichende von der Norm – oder auf das Gemeinsame von Menschen mit und ohne Behinderung?

      • Beachten wir bei unserem Gegenüber primär die Beeinträchtigungen – oder die Entwicklungspotenziale?

      • Sind wir auf die persönlichen Eigenheiten der Menschen mit schweren Behinderungen fixiert oder nehmen wir sie im Kontext ihrer Lebenswelt wahr?

      • Sehen wir ihre gegenwärtigen Lebensbedingungen als gegeben oder entwickeln wir einen kritischen Blick für notwendige Veränderungen?

      • Betrachten wir Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen und komplexem Unterstützungsbedarf als einen Personenkreis, der wegen seiner »Besonderheiten« der Betreuung in »besonderen Räumen« bedarf – oder als Bürger*innen der Gesellschaft mit dem Recht auf Teilhabe und die dazu notwendige Unterstützung?

      Das BTHG stärkt die Position der Leistungsberechtigten. Die Umsetzung der persönlichen Vorstellungen soll durch die Abschaffung der Leistungskategorien »ambulant«, »teilstationär« und »stationär« erleichtert werden. Individuell gestaltetes Wohnen kann nun auch für viele Menschen, die bislang auf stationäre Angebote angewiesen waren, Wirklichkeit werden.

      Für Menschen mit komplexem Unterstützungsbedarf sind infolge des weiterhin bestehenden Mehrkostenvorbehalts (§ 104 Abs. 2 SGB IX) individuelle Unterstützungsarrangements außerhalb von Heimstrukturen jedoch nach wie vor die Ausnahme. Damit ist das Sortieren von Menschen nach dem Grad ihrer Selbstständigkeit weiterhin Realität – ein Widerspruch zu den menschenrechtlichen Vorgaben der UN-BRK (Art. 19) für eine personbezogene Unterstützung an selbstgewählten Wohnorten und Wohnformen.

      Literatur

      Schäfers, M. (2017): Personenzentrierung als sozialpolitische Programmformel. Zum Diskurs der Eingliederungshilfereform. In: G. Wansing & M. Windisch (Hrsg.), Selbstbestimmte Lebensführung und Teilhabe. Behinderung und Unterstützung im Gemeinwesen. Stuttgart: Kohlhammer, S. 33–48.

      Seifert, M. (2009): Selbstbestimmung und Fürsorge im Hinblick auf Menschen mit besonderen Bedarfen. In: Teilhabe, 48 (3), S. 122–128.

      2.4 Sozialraumorientierung

      Der Begriff Sozialraum hat eine mehrdimensionale Bedeutung. Als subjektive Kategorie bezieht er sich primär auf die individuellen Beziehungsnetzwerke, unabhängig vom jeweiligen Ort. Als geografischer Raum fokussiert er das nähere und weitere Wohnumfeld, den Stadtteil, das Dorf oder die Gemeinde. Als Verwaltungskategorie ist er für kommunale Planungen relevant.

      Die Inklusionsdebatte zwingt Träger von Einrichtungen und Diensten der Behindertenhilfe, sich mit sozialräumlichen Handlungsansätzen auseinanderzusetzen. Es sind Konzepte gefragt, die Inklusion als Kultur des Zusammenlebens im Stadtteil, im Dorf oder in der Gemeinde begreifen und die professionelle Unterstützung entsprechend profilieren. Es gilt, die bisherigen Handlungsfelder zu erweitern und sich Kompetenzen anzueignen, die Inklusionsprozesse fördern und Menschen mit Behinderungen bei der Wahrnehmung ihrer Bürgerrolle unterstützen. Das heißt konkret: Die auf das Individuum bezogene Ausrichtung der Hilfen ist durch eine sozialräumliche Perspektive zu ergänzen, die die Lebenswelt des Individuums und die Gestaltung des Gemeinwesens in den Blick nimmt: