Название | Standards zur Teilhabe von Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung und komplexem Unterstützungsbedarf |
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Автор произведения | Deutsche Heilpädagogische Gesellschaft |
Жанр | Учебная литература |
Серия | |
Издательство | Учебная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783170395220 |
2.1 Teilhabe
Die »volle und wirksame Teilhabe an der Gesellschaft« (participation) und die »Einbeziehung in die Gesellschaft« (inclusion) zählen zu den zentralen Grundsätzen der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen (Art. 3 UN-BRK).
In der Fachdiskussion erweist sich Teilhabe als unscharfer Begriff, der – je nach Interessenslage – unterschiedlich interpretiert wird. Insbesondere in der Arbeit mit Menschen mit komplexem Unterstützungsbedarf wird das Recht auf Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft häufig missachtet. Separierende Unterstützungsstrukturen und Einstellungen von Entscheidungsträger*innen in Politik, Verwaltung und sozialen Diensten sowie tradiertes institutionelles Denken von Fachkräften erschweren die Umsetzung. Barrieren in der Umwelt verschärfen die Situation.
Der komplexe Wirkzusammenhang für die Realisierung von Teilhabe ist im bio-psycho-sozialen Modell der WHO dargestellt, das der ICF (Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit) zugrunde liegt.13 Es zeigt die Wechselwirkungsprozesse zwischen einer Person mit einem Gesundheitsproblem und person- und umweltbedingten Kontextfaktoren auf, die Einfluss auf die Teilhabe an subjektiv bedeutsamen Lebenssituationen und Lebensbereichen haben. In diesem Modell wird Behinderung als Beeinträchtigung der Teilhabe definiert, als Ergebnis einer negativen Wechselwirkung zwischen den individuellen Voraussetzungen und den jeweils gegebenen person- und umweltbezogenen Bedingungen.
Dieses Verständnis von Behinderung hat im BTHG seinen Niederschlag gefunden:
»Menschen mit Behinderungen sind Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern.« (§ 2 Abs. 1 SGB IX).
Unter Bezugnahme auf die ICF nennt das BTHG neun Teilhabebereiche, die bei der Planung von Unterstützungsleistungen zu beachten sind und deren subjektive Bedeutsamkeit zu erkunden ist: Lernen und Wissensanwendung – Allgemeine Aufgaben und Anforderungen – Kommunikation – Mobilität – Selbstversorgung – Häusliches Leben – Interpersonelle Interaktionen und Beziehungen – Bedeutende Lebensbereiche (Bildung, Arbeit, wirtschaftliches Leben) – Gemeinschafts-, soziales und staatsbürgerliches Leben.
Die Konkretisierung dieser Bereiche lässt die Mehrdimensionalität des Begriffs Teilhabe erkennen. Er umfasst sowohl die individuelle Ebene im häuslichen und außerhäuslichen Bereich als auch die soziale, kulturelle, materielle, rechtliche und politische Ebene. Dabei kommen jeweils unterschiedliche Aspekte von Teilhabe zum Tragen:14
• Teil-Sein als Ausdruck »der ungeteilten bürger- und sozialrechtlichen Zugehörigkeit zum ›Ganzen‹ der Gesellschaft und das Gefühl, in einer lokalen Gemeinschaft respektiert zu sein und gebraucht zu werden«;
• Teilhabe als »Einbeziehung in gesellschaftliche Aktivitäten und Entscheidungen, aber auch die Teilhabe an gesellschaftlichen Gütern wie Sicherheit, Wohnung, Arbeit und Sozialen Leistungen«;
• Teilnahme als aktiver Aspekt, »der eine Aufforderung und die Chance enthält, die Bürgerrolle engagiert wahrzunehmen, Gestaltungsmacht und Möglichkeiten zu nutzen, die Lebensbedingungen im eigenen lokalen Lebensumfeld mitzubestimmen und durch eigene Ideen und Handeln zu bereichern«.
Als Ziel einer teilhabeorientierten Unterstützung formuliert das BTHG, »die persönliche Entwicklung ganzheitlich zu fördern und die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft sowie eine möglichst selbständig und selbstbestimmte Lebensführung zu ermöglichen oder zu erleichtern« (§ 4, Abs. 1,4 SGB IX). Ausgangspunkt sind jeweils die persönlichen Wünsche und Interessen (§ 117 Abs. 1 SGB IX).
Auf den Alltag von Menschen mit komplexem Unterstützungsbedarf bezogen sind die Inhalte der Teilhabebereiche der ICF jeweils zu spezifizieren. Bedeutsame Aspekte sind zum Beispiel:
1) Gelegenheit für Lernen und Entwicklung zu haben;
2) Anforderungen im Alltag bewältigen zu können;
3) mit anderen in (nonverbalen) Dialog treten zu können;
4) sich innerhalb und außerhalb des Wohnbereichs bewegen zu können;
5) bei der Selbstversorgung aktiv eingebunden zu sein;
6) an haushaltsbezogenen Aktivitäten beteiligt zu sein;
7) tragfähige soziale Beziehungen zu haben;
8) in Lebensbereiche einbezogen zu sein, die subjektiv bedeutsam sind (z. B. Bildung, arbeitsweltbezogene Tätigkeiten, Freizeit);
9) als Bürger*in am Leben in der Gemeinde teilzunehmen.
Wesentliche Grundlage für die persönliche Entwicklung und individuelles Wohlbefinden von Menschen mit komplexem Unterstützungsbedarf ist das Erleben von Teilhabe auf elementarer Ebene, insbesondere im Feld zwischenmenschlicher Beziehungen. Das ist der Kern eines ethisch-anthropologischen Verständnisses von Teilhabe:
»Teilhabe verwirklicht sich im Stiften eines sozialen Bandes und im Schaffen gemeinsamer Gestaltungsräume, wie sie sich im Geben, Annehmen und Erwidern zwischen Menschen ereignen.«15
Das Recht auf Teilhabe ist voraussetzungslos. Die Gewährung von Teilhabeleistungen (Eingliederungshilfe) kann darum nicht an die im BTHG verankerte Erreichbarkeit festgelegter Teilhabeziele durch Förderung geknüpft werden (sog. Befähigungsansatz § 76 Abs. 1 SGB IX).
Literatur
Deutsches Institut für medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) (Hrsg.) (2005): Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF). Genf: World Health Organization. Online verfügbar unter: https://www.dim di.de/dynamic/de/klassifikationen/icf/, Zugriff am 28.06.2020.
Fornefeld, B. (2019): Teilhabe ist Gabe. Zum Verständnis von Teilhabe im Kontext von Erwachsenen und alternden Menschen mit Komplexer Behinderung. In: Teilhabe, 58 (1), 4–9.
Kardorff, E. von (2010): Gesellschaftliche Teilhabe psychisch kranker Menschen an und jenseits der Erwerbsarbeit. In: H. Wittig-Koppe, F. Bremer & H. Hansen (Hrsg.): Teilhabe in Zeiten verschärfter Ausgrenzung? Kritische Beiträge zur Inklusionsdebatte. Neumünster: Paranus, S. 129–139
2.2 Selbstbestimmung
Zu den zentralen Grundsätzen der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) zählt »die Achtung der dem Menschen innewohnenden Würde, seiner individuellen Autonomie, einschließlich der Freiheit, eigene Entscheidungen zu treffen, sowie seiner Unabhängigkeit«16 (Art. 3 a UN-BRK).
Das Erreichen von Unabhängigkeit im Sinne einer selbstbestimmten Lebensführung ist der Kern des Modells der Persönlichen Assistenz, das seine Wurzeln in der Behindertenbewegung hat. Nach diesem Modell liegt die sog. Regiekompetenz zur Realisierung eines selbstbestimmten Lebens ausschließlich bei den Assistenznehmer*innen.17 Menschen, die über eine solche Regiekompetenz nicht verfügen, brauchen mehr als einen »verlängerten Arm« zur Kompensation bestehender Beeinträchtigungen. Ihr Unterstützungsbedarf ist »komplex« und kann nicht auf einzelne Aktionen reduziert werden. Er fordert eine ganzheitliche Perspektive, die die Verwobenheit der vielfältigen individuellen Bedürfnisse und Bedarfe erkennt und auf der Handlungsebene integriert: bei der Bewältigung des Alltags, bei der Entwicklung ihrer Identität, im kommunikativen, meist nonverbalem