Название | Standards zur Teilhabe von Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung und komplexem Unterstützungsbedarf |
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Автор произведения | Deutsche Heilpädagogische Gesellschaft |
Жанр | Учебная литература |
Серия | |
Издательство | Учебная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783170395220 |
Die von der DHG vorgelegten Standards verbinden ausgehend von Zielbegründungen die Beschreibung der rechtlichen Normen mit fachlichen und wissenschaftlichen Wissensbeständen, Rahmenbedingungen und Anforderungen in einer Systematik, Tiefe und Breite, wie sie bisher nirgends vorgelegt wurde. Sie richten sich an alle im Feld Tätigen und Verantwortlichen im Sinne einer einzulösenden Agenda.
Hamburg, Januar 2021 | Iris Beck |
1 Möckel, A. (1988): Geschichte der Heilpädagogik. Stuttgart: Klett-Cotta, S. 51
2 Ferber, C. von (1972): Der behinderte Mensch und die Gesellschaft. In: W. Thimm (Hrsg.): Soziologie der Behinderten. Neuburgweier, S. 31
3 Stinkes, U. (1998): Der Verband und die Erziehung schwer behinderter Kinder. In: A. Möckel (Hrsg.): Erfolg, Niedergang, Neuanfang. 100 Jahre Verband Deutscher Sonderschulen. München, S. 249–264.
4 Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) (2016): Zweiter Teilhabebericht der Bundesregierung über die Lebenslagen von Menschen mit Beeinträchtigungen. Teilhabe – Beeinträchtigung – Behinderung. Berlin. Online verfügbar unter: https://www.bmas.de/SharedDocs/Downloads/DE/PDF-Publikationen/a125-16-teilhabebericht.pdf;jsessionid =8CE02DA5EF5244E1A90A223C461E7A83?__blob=publicationFile&v=9; Franz, D. & Beck, I. (2015): Evaluation des Ambulantisierungsprogramms in Hamburg. Forschungsbericht. Hrsg.: Arbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (AGFW) Hamburg e. V. Hamburg. Online verfügbar unter: https://www.agfw-hamburg.de/download/Ambulantis ierung_Abschlussbericht_lang.pdf, Zugriff am 20.07.2020.
1 Einführung
Die Deutsche Heilpädagogische Gesellschaft (DHG) engagiert sich seit nahezu 30 Jahren als berufsübergreifender und interdisziplinärer Fachverband für die Verbesserung der Lebensqualität von Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen und komplexem Unterstützungsbedarf. Mit Aktivitäten wie Tagungen, Fachgesprächen, Expertisen, Stellungnahmen und DHG-Preis unterstützt die DHG innovative Ideen und Projekte, insbesondere zur Entwicklung inklusiver Wohnformen, zur Sozialraumorientierung, zur Quartiersentwicklung und für arbeitsweltbezogene Beschäftigungsangebote mit dem Ziel der Stärkung der Teilhabechancen.
DHG-Fachtagungen5 zu Themen wie Selbstbestimmung und Assistenz, Hilfeplanung, Teilhabe, Sozialraumorientierung und Quartiersentwicklung boten in den vergangenen 20 Jahren ein Forum, um innovative Entwicklungen anzustoßen und voranzutreiben. Als Fachverband stellt sich die DHG nun der Aufgabe, Leitziele und Handlungsempfehlungen für Fachkräfte und Dienste der Behindertenhilfe zu entwickeln. Die folgenden Standards sind Ergebnis einer über zweijährigen Diskussion im Vorstand der DHG mit einem Kreis von Unterstützer*innen sowie eines Fachgesprächs im Rahmen der Mitgliederversammlung vom April 2018. Sie sollen Grundsätze und Handlungsempfehlungen für Methoden, Prozesse und Strukturen einer zeitgemäßen »guten Praxis« professioneller Unterstützung konkretisieren. Gerade im Prozess der Umsetzung und der Evaluation des Bundesteilhabegesetzes und damit der weiteren Entwicklung des neuen Teilhaberechts erscheint es notwendig und hilfreich, entsprechende fachliche Standards, fundiert durch wissenschaftliche Diskurse und Erkenntnisse, zu formulieren.
Im Mittelpunkt stehen Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen6 und komplexem Unterstützungsbedarf. Der Personenkreis ist sehr heterogen. Dazu gehören
• Menschen mit erheblichen kognitiven und kommunikativen Beeinträchtigungen, die ihre Befindlichkeiten, Bedürfnisse und Interessen überwiegend nonverbal, über jeweils eigene Ausdrucksformen signalisieren;
• Menschen mit mehrfachen Beeinträchtigungen (körperlich, sprachlich oder sinnesbezogen, teilweise zusätzliche psychische Problemlagen und chronische Erkrankungen);
• Menschen, deren Verhalten auffällt, die sich selbst oder andere gefährden, z. B. durch selbstverletzendes oder fremdverletzendes Verhalten gegen Personen und Sachen.
Allen gemeinsam ist, dass sie nicht oder nur bedingt für sich selbst sprechen können und bei der Wahrnehmung ihrer Rechte und Interessen anwaltschaftlicher Unterstützung bedürfen.
Der komplexe Unterstützungsbedarf fordert eine ganzheitliche Perspektive, die die Verwobenheit der vielfältigen individuellen Bedürfnisse und Bedarfe erkennt und auf der Handlungsebene integriert. Angesichts der Heterogenität des Personenkreises sind die Einschränkungen von Teilhabe nur personenzentriert beschreibbar und Unterstützungsbedarfe nur individualisiert realisierbar.
Die Begrifflichkeit und das Verständnis von Behinderung orientieren sich an der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF)7. Auf der Basis eines bio-psycho-sozialen Ansatzes wird Behinderung mehrperspektivisch im Rahmen einer Wechselwirkung zwischen körperbezogenen Faktoren, Umweltfaktoren und personenbezogenen Faktoren gesehen und als Einschränkung von Aktivitäten und Teilhabemöglichkeiten verstanden. Für den hier benannten Personenkreis sind Teilhabeeinschränkungen erheblich, in der Regel umfassend, d. h. sie beziehen sich auf alle ICF-Teilhabebereiche. Erforderlich sind entsprechend komplexe Unterstützungsleistungen und infrastrukturelle Rahmenbedingungen im Zusammenwirken verschiedener Leistungssysteme, um Teilhabebarrieren zu beseitigen bzw. zu reduzieren sowie Teilhabechancen zu erschließen bzw. zu erweitern. Fehlende oder unzureichende Unterstützungsangebote bedeuten für diese Menschen ein hohes Exklusionsrisiko. Wahlmöglichkeiten für kleinteilige Wohnsettings sind nach wie vor extrem beschränkt, institutionelle Strukturen sind in der Behindertenhilfe weithin vorherrschend.
Ergänzend zur ICF lenkt das sozialwissenschaftliche Lebensqualität-Konzept8 den Blick auf menschliche Grundbedürfnisse, um einer vielfach praktizierten Verkürzung von vielfältigen Bedürfnissen auf leistungsrechtlich anerkannte Bedarfe entgegenzuwirken. In dem mehrdimensionalen Konzept werden objektive Lebensbedingungen und subjektives Wohlbefinden integriert. Die Leitfrage nach dem subjektiven Wohlbefinden mit entsprechenden Indikatoren für das physische Wohlbefinden, das soziale Wohlbefinden, das materiell bedingte Wohlbefinden, die persönliche Entwicklung und Aktivitäten sowie das emotionale Wohlbefinden ist eine wichtige personenzentrierte Orientierungshilfe für die Teilhabeplanung und die Evaluation von Assistenzleistungen, insbesondere für den hier betreffenden Personenkreis.
Rechtliche Grundlagen für Standards einer »guten Praxis« basieren vorrangig auf dem neuen Teilhaberecht des Bundesteilhabegesetzes (BTHG). Aus Sicht der DHG muss das Recht auf »volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft« (§ 91 SGB IX) für alle Menschen mit Behinderungen9 unabhängig vom Unterstützungsbedarf, ohne Einschränkungen und mit Vorrang gelten. Mit den Pflegestärkungsgesetzen10 und dem neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff sowie den erweiterten Pflegeleistungen vergrößern sich die Schnittstellen des Pflegerechts zum Teilhaberecht. Konkrete Auswirkung auf Leistungsstrukturen sowie Umfang und Qualität von Assistenzleistungen haben die länderspezifischen BTHG-Ausführungsgesetze, Bedarfsermittlungsinstrumente sowie die jeweiligen Landesrahmenverträge. Einfluss nehmen auch die