Karl IV.. Pierre Monnet

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Название Karl IV.
Автор произведения Pierre Monnet
Жанр История
Серия
Издательство История
Год выпуска 0
isbn 9783806242737



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Licet iuris dem Papst das Recht, die Königswahl durch eine Approbation zu bestätigen, ausdrücklich abgesprochen hatte.23 Karl wusste sehr genau, dass derartige Aussagen auf den Heiligen Vater wie ein rotes Tuch wirken und den alten Streit unter den beiden Universalmächten wieder aufflammen lassen würden. Schweigen war in dieser Situation genauso Gold wie das Siegel von Karls Bulle, die 1356 den Papst schlicht und einfach ausklammerte. Vor allem aber verdeutlicht die Liste der sieben Kurfürsten, dass der König von Böhmen nun die vollwertige Stellung genießt, die ihm der Sachsenspiegel und der Schwabenspiegel als die beiden bekanntesten deutschen Rechtsbücher des 13. Jahrhunderts noch abgesprochen hatten.24 Sie signalisiert zudem, dass die beiden Dynastien, die den Luxemburgern den Thron streitig gemacht hatten (die bayerischen Wittelsbacher und die österreichischen Habsburger), vorerst aus dem Rennen waren. Gelegentlich heißt es ein wenig vorschnell, die Bulle sei Karls Abrechnung mit den konkurrierenden Fürstenhäusern, doch das stimmt im Fall der Wittelsbacher nur zur Hälfte, denn einer ihrer jüngeren Zweige in der Kurpfalz war erbberechtigt in Bezug auf das Stimmrecht und die damit verbundenen Privilegien. Schon eher trifft diese Einschätzung auf die Habsburger zu. Herzog Rudolf IV. von Österreich, der Steiermark und Kärnten sowie Graf von Tirol, der 1356 ausgerechnet Karls Tochter Katharina von Böhmen geheiratet hatte, sah sich jedenfalls 1358/59 veranlasst, das Privilegium minus zu manipulieren. Mit diesem „kleinen Freiheitsbrief“ hatte Friedrich I. 1156 die Markgrafschaft Österreich zum eigenständigen, erblichen Herzogtum erhoben. Das von Rudolf in Auftrag gegebene Privilegium maius, eine der bekanntesten Urkundenfälschungen des Mittelalters, verwob überaus geschickt Wahrheit und Lüge in fünf Einzelurkunden von 1058 bis 1283. Der Herzog von Österreich wird darin unversehens als „Erzherzog“ tituliert und damit de facto in denselben Rang erhoben wie die Kurfürsten.25 Obwohl der Betrug schon 1360 durch Petrarca aufgedeckt wurde, bestätigte der Habsburger Kaiser Friedrich III. das Privileg 1453. Die Fälschung verhalf den Habsburgern nicht nur zu mehr Ansehen und einem ranghöheren Titel, sondern zu einem kaiserlichen Reichsvikariat für sämtliche österreichischen Besitzungen ihres Hauses.26 Die Geschichtsschreibung deutete diese Lüge lange Zeit als frühes Indiz dafür, dass die Habsburger eine Sonderrolle innerhalb des Kaiserreichs oder sogar die Abtrennung davon anstrebten, doch das Gegenteil ist der Fall: Die Fälschung von 1358 sollte wohl eher die Integration der Dynastie und Österreichs in das Kaiserreich vorantreiben. Karl IV. machte zunächst kein großes Aufhebens um diesen „großen Freiheitsbrief“, sondern betrachtete ihn nüchtern als eine Liste überzogener Ansprüche, wie er sie im Laufe seiner Herrschaft schon oft gesehen hatte. Durch diesen geschickten Schachzug konnte er 1364 eine „Erbverbrüderung“27 zwischen den Häusern Luxemburg und Habsburg aushandeln, die in diesem Moment harmlos erschien, jedoch ab dem 15. Jahrhundert für die Zukunft des Reiches und somit Deutschlands und Österreichs eine entscheidende Rolle spielte. Vereinbart wurde nämlich, dass in dem Fall, dass eine der beiden Dynastien erbenlos erlosch, die andere sämtliche Güter und Ländereien der ausgestorbenen Familie erben sollte.28 Ironie des Schicksals: Ausgerechnet die Habsburger, die als einzige große Familie im Reich in der Bulle von 1356 ausgeklammert worden waren, lenkten ab 1437 vier bis fünf Jahrhunderte lang die Geschicke des Heiligen Römischen Reiches.

      Ein König, der von sieben Kurfürsten gewählt wird: Das ist ab 1356 Fakt und fortan die grundlegende Definition, das Organisationsprinzip des Heiligen Römischen Reichs. Von diesem Tag an basierte die Geschichte des Reiches (und damit Deutschlands) lange Zeit auf vier Faktoren, die in der Goldenen Bulle festgeschrieben sind. Der erste besteht in der Beziehung zwischen König (und gegebenenfalls Kaiser) und Kurfürsten, der zweite in der Haltung dieser Fürsten gegenüber dem König/Kaiser. Der dritte Faktor ist das Einvernehmen der Kurfürsten untereinander, der vierte schließlich die Eintracht der Kurfürsten mit den übrigen Fürsten und Herren im Reich. Insofern strebt die Bulle nach Ausgewogenheit, die „auf ewig“, sprich konstitutionell, einen festen Rahmen für das Wechselspiel der Kräfte zwischen dem König und Kaiser, der seinerseits Kurfürst ist, und den übrigen Kurfürsten vorgibt. Das bestätigt auch ein Blick auf die Wortwahl der Bulle. Während in der Vita Karls IV. gleich zwölfmal der Begriff imperator vorkommt, davon allein achtmal mit negativem Unterton auf den damaligen Gegner und Rivalen Ludwig IV. gemünzt, jedoch 128 Mal das Wort rex,29 ist das Verhältnis zwischen Wortfeldern, die sich einerseits auf die Kurfürsten und andererseits auf den Kaiser beziehen, in der Bulle eher ausgewogen.

      Karl IV. und die sieben Kurfüsten in einer Handschrift aus dem 14. Jhd.

      Der Nutzen, den Karl IV. aus der Goldenen Bulle zieht, ist nicht unerheblich: Er nabelt sich damit vom Papsttum ab, sichert sich die Möglichkeit einer gezielten Familien- und Hausmachtspolitik und bindet Böhmen fester in das Heilige Römische Reich ein. Als einziger gekrönter und gesalbter König (von Böhmen) nimmt er nun unter den weltlichen Kurfürsten den ersten Platz ein, den zuvor der Pfalzgraf innegehabt hatte, und ist dafür nicht einmal auf die kaiserlichen Insignien angewiesen. Zudem gewinnt er durch die Bulle zum Teil das Prestige und die Vorrechte zurück, die er in seinem eigenen Königreich durch das Scheitern seiner Maiestas Carolina 1355 eingebüßt hatte. Ihm ist klar, dass er sich im Reich vorerst nicht gegen die Fürsten wird durchsetzen können, doch zumindest begrenzt er mit der Bulle die Zahl der Entscheidungsträger auf sieben, sodass es rein rechnerisch ausreicht, wenn sich ihm nie mehr als drei von ihnen ernsthaft entgegenstellen. Die Einbeziehung des böhmischen Königs (und seines Königreichs) in die Urkunde erklärt allerdings auch, warum die Goldene Bulle im Gegensatz zu anderen nationalen „Verfassungen“ in Europa nicht oder erst sehr spät in die Konstituierung einer spezifischen Versammlung der deutschen Reichsländer münden konnte. Die Bulle dokumentiert darüber hinaus eine Schwerpunktverschiebung im Reich von West nach Ost: Die Besitzungen von drei der vier weltlichen Kurfürsten liegen im Osten, und die drei Dynastien, die im 14. und 15. Jahrhundert um den römisch-deutschen Thron wetteiferten – Luxemburg, Wittelsbach und Habsburg –, konzentrieren sich auf Gebiete, Königreiche und Grenzen im Norden und Osten des Reiches.

      Einen „Kompromiss“ stellt die Bulle nur oberflächlich gesehen dar. Durch das gewährte Privileg unterstellt der Kaiser die Kurfürsten einem Regelwerk und gibt damit der Formel „Kaiser und Reich“ eine konkrete Gestalt, sozusagen als imperiale Version der antiken Maxime Quod omnes tangit, ab omnibus tractari et approbari debet (Was alle angeht, das müssen alle erörtern und gutheißen). An der Urkunde von 1356 prangt allein das kaiserliche Siegel, während diejenigen der Kurfürsten fehlen; sie wurden lediglich an den Wahlurkunden angebracht. In dieser Tradition titulierten Rechtsgelehrte ab dem 16. Jahrhundert die sieben Kurfürsten als cardo imperii oder „vorderste Glieder des Reiches“. Mit der Bulle regelte Karl zudem erfolgreich das naturgemäß heikle Verhältnis zwischen mehreren Königreichen, einem Kaiserreich und Fürstentümern auf dem Weg in die Quasisouveränität. Im Vergleich zu anderen staatlichen und politischen Konstrukten im Europa jener Zeit ist das sicher das Besondere der Goldenen Bulle. Ihre Bestimmungen, ihre Rezeption und Verbreitung bezeugen, welche zentrale Rolle der Kur innerhalb der Institutionen und des Machtgefüges im Abendland zukam, zumal sie nicht nur einen Königstitel betraf, sondern die Kaiserkrone. Auch wenn der Wortlaut den Ablauf der Wahl festlegt, handelt es sich nicht um eine Reichsreform: Kapitel XII sieht zwar eine jährliche Zusammenkunft der Kurfürsten vor, ruft damit jedoch keine allgemeine oder ständige Versammlung ins Leben. Lediglich der königliche Reichstag bleibt bestehen, wird aber nach und nach zu einem kaiserlichen.30 Die Bulle verfügt also nicht die Integration des Reiches durch eine Politik der Kooperation und begründet so gesehen auch keine kaiserliche Politik, die eine kaiserliche Regierung zu untermauern vermöchte. Hierin liegt zweifellos auch der wesentliche Unterschied zu der politischen Theorie und Praxis Frankreichs.31