Karl IV.. Pierre Monnet

Читать онлайн.
Название Karl IV.
Автор произведения Pierre Monnet
Жанр История
Серия
Издательство История
Год выпуска 0
isbn 9783806242737



Скачать книгу

und war damit als einziger Monarch des Abendlands befugt, die Bügelkrone zu tragen und sich Karolus quartus divina favente clemencia Romanorum imperator semper augustus et Boemie rex zu nennen. Geschickt hatte er es vermieden, sich den Papst zum Feind zu machen, was nicht jedem seiner Vorgänger gelungen war. Anders als sein Großvater hatte er sich auch nicht den erbitterten Hass der italienischen Fürstenhäuser und Städte zugezogen. Er hatte mit den Visconti ein Bündnis geschmiedet und war von den anderen Adelshäusern anerkannt worden. Er hatte weder gewagt noch vorgehabt, die stolze Unabhängigkeit des Hauses Anjou in Neapel infrage zu stellen. Und er brachte, sozusagen als Sahnehäubchen, kostbare Reliquien und einige wohlgefüllte Geldschatullen mit nach Hause, auch wenn die darin enthaltenen Reichtümer letztlich weit hinter den Gerüchten zurückblieben, die guelfische Chronisten wie der Florentiner Matteo Villani neiderfüllt in die Welt setzten.

      Dem Kaiser dürfte solche Kritik herzlich wenig ausgemacht haben, denn bei der Rückkehr in seine deutschen Gebiete Mitte 1355 hatte er längst einen Paukenschlag im Sinn, der das Reich stärken, seine Fürsten befrieden und sein eigenes Ansehen mehren sollte. Am 8. Juli berief er von Nürnberg aus für den 25. November desselben Jahres einen großen Reichstag ein, dessen Tagesordnung nichts weniger verkündete als Zoll- und Währungsreformen, ein allgemeines Friedensabkommen und die Festlegung eines Kurkollegiums, dessen Mitglieder befugt sein sollten, mit einfacher Mehrheit den König zu wählen, „damit nicht mehr Krieg um das Reich werde.“34

      Ein König wird Kaiser.

      In Goethes Lebenserinnerungen Dichtung und Wahrheit kommt die Goldene Bulle von 1356 gleich mehrmals vor. Mit seiner Heimatstadt Frankfurt am Main ist sie eng verknüpft, denn die römisch-deutschen Könige wurden dort gewählt und vom 16. Jahrhundert bis 1806 zum König und später direkt zum Kaiser gekrönt. Die erste Erwähnung der Bulle bei Goethe findet sich in der Schilderung der Besuche, die er als junger Mann dem Kaiserdom St. Bartholomäus abstattete, wo bis heute die Wahlkapelle zu besichtigen ist: „[…] Wir fanden diesen in der deutschen Geschichte so merkwürdigen Raum, wo die mächtigsten Fürsten sich zu einer Handlung von solcher Wichtigkeit zu versammeln pflegten, keinesweges würdig ausgeziert, sondern noch obenein mit Balken, Stangen, Gerüsten und anderem solchen Gesperr, das man beiseitesetzen wollte, verunstaltet. Desto mehr ward unsere Einbildungskraft angeregt und das Herz uns erhoben, als wir kurz nachher die Erlaubnis erhielten, beim Vorzeigen der Goldnen Bulle an einige vornehme Fremden auf dem Rathause gegenwärtig zu sein.“1 Mit geradezu mittelalterlichem Blick interessiert sich Goethe mehr für die Rituale als für den nur wenige Quadratmeter großen Schauplatz mit den zwei oder drei Bänken, wo die Königswahl ab 1356 offiziell stattfand. Rund hundert Seiten weiter berichtet er uns: „Ich hatte von Kindheit auf die wunderliche Gewohnheit, immer die Anfänge der Bücher und Abteilungen eines Werks auswendig zu lernen, zuerst der fünf Bücher Mosis, sodann der ‚Äneide‘ und der ‚Metamorphosen‘. So machte ich es nun auch mit der Goldenen Bulle, und reizte meinen Gönner2 oft zum Lächeln, wenn ich ganz ernsthaft unversehens ausrief: ‚Omne regnum in se divisum desolabitur: nam principes ejus facti sunt socii furum.‘ [Jedes Reich, das in sich selbst zerspalten ist, wird veröden, denn seine Fürsten sind Gefährten der Diebe geworden.] Der kluge Mann schüttelte lächelnd den Kopf und sagte bedenklich: ‚Was müssen das für Zeiten gewesen sein, in welchen der Kaiser auf einer großen Reichsversammlung seinen Fürsten dergleichen Worte ins Gesicht publizieren ließ.‘“3 Auch diese eine eher mittelalterliche als moderne Sichtweise: Schon das Incipit bestimmt Tenor und Anspruch der Urkunde.

      Noch vier Jahrhunderte später spürte der Dichterfürst, dass der Verfasser Würde und Zweck der auf den beiden Reichstagen in Nürnberg im Januar und in Metz im Dezember 1356 verabschiedeten Bestimmungen, als so außerordentlich empfunden hatte, dass er sie in einem Prolog hervorheben wollte. Dieses Proömium macht aus der Bulle eine Quelle des Lichts, der Eintracht, der Einheit, zu gleichen Teilen getragen vom Kaiser und den designierten Kurfürsten. Deren Zahl hat Symbolcharakter, etwa wenn die Bulle die Fürsten „sieben strahlende Leuchter“ nennt. Von der Urkunde selbst über den majestätischen Rahmen bis hin zum Verkündungsdatum war alles dazu angetan, Karl IV. als Gesetzgeber in Erscheinung treten zu lassen, der den Vergleich mit erlauchten Vorgängern wie Alfons X. dem Weisen, Ludwig dem Heiligen oder Friedrich II. nicht zu scheuen brauchte. Dieses „Image“ gefiel dem Kaiser; bereits im zweiten Kapitel seiner Vita definierte er den idealen König erstmals anhand von Psalm 99,4: „Die Würde des Königs strebt nach gerechtem Gericht.“4 Dieser Satz findet sich als Inschrift auf der König David geweihten Platte der achteckigen Reichskrone, mit der Karl IV. wenige Monate zuvor zum Kaiser gekrönt worden war. Bezeichnenderweise bildete die Bulle 1356 seine erste wichtige Amtshandlung seit seiner Salbung in Rom.5

      Die 31 Bestimmungen der Urkunde, die am Weihnachtstag in Gegenwart der Reichsfürsten, von Boten der Reichsstädte, Äbten (darunter demjenigen von Cluny), des Kardinallegaten des Papstes, der Kaiserin „sowie Karls, des erstgeborenen Sohnes des Königs von Frankreich, erlauchten Herzogs der Normandie und Dauphins von Vienne“ in Metz feierlich verkündet wurden, nennt die Vorrede schlicht „Gesetze“, doch in die Geschichte des Heiligen Römischen Reiches sind sie als dessen bedeutendste „Verfassung“ eingegangen. Zugleich enthalten sie die langlebigste Nachfolgeregelung der europäischen Geschichte, die erst 1806 mit dem Untergang des alten Kaisertums, das sie erst mitbegründete, ihre Gültigkeit verlor.6 Zu Lebzeiten des Kaisers nannte man die Urkunde „Anordnung“, „kaiserliches Gesetz“ oder auch „Kodifizierung des kaiserlichen Rechts“. Der Name, unter dem sie uns heute bekannt ist – „Goldene Bulle“ –, tauchte ein erstes Mal in einer Abschrift des Diploms aus dem Umfeld des Trierer Erzbischofs Kuno von Falkenstein (1363-1388) auf und etablierte sich zu Beginn des 15. Jahrhunderts., nachdem Wenzel, der Sohn Karls IV., 1400 als römisch-deutscher König abgesetzt worden war. Wenzel hatte eine Prachthandschrift der väterlichen Urkunde in Auftrag gegeben, in der dem Prolog ein Satz vorangestellt wurde: „Hier beginnt die Goldene Bulle der Kaiserwahl.“7 Ein Jahrhundert später – 1519 – bezeichnete Karl V. die Urkunde als „wichtigstes Reichsgesetz“ und legte 1530 die Abläufe und Zusammenkünfte der Reichstage in einer weiteren Urkunde fest, der „Bulla Aurea Caroli Quinti“.

      Diese Kanonisierung von Wortlaut und Gesetzeswerk ging mit einer bemerkenswert weiten Verbreitung des Textes einher: 173 Handschriften und Wiegendrucke sind allein aus dem 15. Jahrhundert bekannt, eingebunden in die unterschiedlichsten anderen Schriften. Dabei handelt es sich beileibe nicht nur um juristische Konvolute wie Privilegiensammlungen, Reichs- oder Stadtchroniken, Landfriedensbündnisse und Verträge gemäß kanonischem, konziliarem, Zivil- oder Gewohnheitsrecht. Auf die Goldene Bulle berufen sich auch die großen Abhandlungen über Reichsreformen, etwa das als Reformatio Sigismundi bekannte anonyme Traktat, das vermutlich 1439 beim Konzil von Basel verfasst und 1476 erstmals veröffentlicht wurde,8 die Concordia catholica von 1433/34 von Nikolaus von Kues9 oder das von Peter von Andlau 1460 verfasste Libellus de Cesarea monarchia.10 Interessanterweise ist über das gesamte 15. Jahrhundert hinweg eine Art Konstitutionalisierungsprozess zu beobachten, in dessen Zuge sich der Status der Bulle von 1356 von einem bloßen Privileg zugunsten der Kurfürsten zu einem „Grundgesetz“ des Heiligen Römischen Reiches weiterentwickelt.

      In