Vom letzten Tag ein Stück. Ute Bales

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Название Vom letzten Tag ein Stück
Автор произведения Ute Bales
Жанр Контркультура
Серия
Издательство Контркультура
Год выпуска 0
isbn 9783898019095



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rostigen Opel, der dort abgestellt war.

      Sonntags ging Bertram mit seinem Vater wandern. Sie hatten eine richtige Wanderausrüstung mit Rucksack, festen Schuhen, Regenjacken und einer Vesper und kamen oft erst nachts wieder zurück.

      Bei uns waren die Sonntage eher Familientage. Die Vormittage verbrachte ich mit Lesen. Bis zum Mittagessen dauerte es. Mein Vater verspätete sich meist wegen des Frühschoppens und war beim Essen wenig gesprächig. Meine Mutter musste schon nachhelfen, wenn sie wissen wollte, was es an Neuigkeiten gab, wer im Dorf mit wem was angefangen hatte, wer miteinander im Streit lag. Zwischen den Gesprächen die Koteletts. Dazu dampfende Kartoffeln, Salat aus dem Garten mit Schnittlauch, Petersilie und Dill. Und Vanillepudding in geschliffenen Glasschälchen.

      Wenn mein Vater keinen Mittagsschlaf machte, was vom Ausmaß des Frühschoppens abhing, fuhren wir zu den Großeltern. Oder raus in den Tierpark nach Lünebach, wo Nasenbären, Strauße, Pfauenziegen und Uhus lebten. Die Pelmer Kasselburg gefiel uns mit den Greifvögeln und dem Wolfsgehege. Auch Manderscheid mit den beiden Burgen, wo wir in einem Ausflugslokal Cola tranken und goldene Fische in engen Teichen füttern durften. Wenn Namenstage auf Sonntage fielen, besuchten wir Verwandte oder wurden von Verwandten besucht. Josefstag, Gertrudstag, Annentag. Natürlich Sankt Matthias. Das war am 24. Februar und der Namenstag meines Vaters. Immer gab es Cremekuchen, Fladden3, Marmorkuchen. Am wichtigsten war der 19. November. Der Namenstag der heiligen Elisabeth von Thüringen. Dann saß meine Großmutter, die Elisabeth hieß, ab zehn Uhr morgens im Sonntagskleid und mit einer Goldkette um den Hals vor dem Telefon und nahm Glückwünsche entgegen.

      Bertram kannte keine Namenstage. Sein Kalender ging anders als unserer. Auch das lag an seinem Vater, der regelmäßig für Feste der Tugend, des Geistes und der Revolution sorgte, die immer zu ganz bestimmten Tageszeiten stattfanden und von Musik und französischen Liedertexten begleitet wurden. Die Monate waren anders eingeteilt und hießen Nebelmonat, Schneemonat, Windmonat, Keimmonat oder Hitzemonat. Er nannte sie mit ihren französischen Namen: Brumaire, Nivôse, Ventôse, Germinal oder Thermidor.

      7.

      Als wir Kinder waren, lebten fast alle in unserem Dorf von dem, was sie aus ihren Gärten und von den Feldern nach Hause trugen. Vor den Mahlzeiten bedankten wir uns für das Essen, sprachen ein Gebet, weil kein Bissen für uns selbstverständlich war und Mühe und Arbeit, aber auch Glück bedeuteten. Wir hatten alles, was wir brauchten, aus eigener Produktion, weshalb Einkäufe im Supermarkt selten und wenn, dann auf das Nötigste beschränkt waren.

      Bertrams Vater war einer der letzten in unserem Dorf, der daran festhielt und den Weg in die Stadt mied. Er misstraute den vielen Lockangeboten, den Waren, die von Gott weiß woher kamen, der immer größer werdenden Auswahl in den Regalen und mutmaßte, dass die Verbindung der Menschen mit der Natur abreißen werde und die Kinder in der Schule lernen müssten, wo die Milch herkommt. »Die billigen Supermarktangebote lenken uns von allem Wichtigen ab und lassen uns glauben, dass sie unser Leben besser und glücklicher machen. Sie geben uns das Gefühl, dass wir Land und Felder nicht mehr brauchen. Die Jungen wissen bald nicht mehr, ob sie eine Kuh oder einen Esel vor sich haben.« Ich habe seine Stimme noch im Ohr. Er fluchte auf das Wirtschaftssystem, auf den Kapitalismus und das überzogene Konsumverhalten. Er war der erste, den ich über vergeudete Energien sprechen hörte, über Hitzeperioden und Katastrophen, die auf die Menschen zukämen, wenn wir diesen Lebenswandel beibehalten würden. Er sammelte den Dreck am Berg auf, den die Leute hinterlassen hatten: Plastiktüten, Bierdosen, Zigarettenstummel, Klopapier, Radkappen. Sogar Autoreifen bugsierte er bergabwärts.

      Nicht alles, was er sagte, verstand ich. Es war so ein Gefühl für etwas Fernes, Zukünftiges, das er mir vermittelte. Im Dorf genügte das, was er sagte, um ihn zu verurteilen. Narrisch sei er geworden. Gleiches dachten sie über Bertram.

      Bertrams Vater kam aus dem Norden und fühlte sich zeitlebens wie ein Ausländer. Er sprach eigentümlich, betonte die Endungen anders als wir und auch nach Jahren in unserem Dorf blieb seine Satzmelodie eine andere. Er sah auch anders aus, hatte flachsblondes Haar und graue, tiefliegende Augen, die er Bertram vererbt hat. In wadenlangen Hosen kam er daher, darüber trug er ein blaugefärbtes Hemd mit steifem Kragen. Sein grauer Filzhut mit der blauen Kordel war auf merkwürdige Weise längs der Krone nach unten geknickt und vorne an beiden Seiten eingekniffen. Ich weiß nicht, wie er es aushielt, aber selbst an heißesten Sommertagen setzte er ihn nicht ab.

      Das Leben auf dem Land hatte er sich idyllisch vorgestellt. Ein Einklang mit der Natur. Ruhe hatte er sich erhofft und Beschaulichkeit in einem eigenen Garten mit eigenem Gemüse. Er mochte die alten Holzkassetten in der Bauernstube, das Holzlager im Schweinestall mit den Pflöcken, die Weizenfelder, das unberechenbare Wetter, war er doch in der Stadt mit Wetter nicht wirklich konfrontiert gewesen. Er mochte es, wenn er im beginnenden Herbst alleine draußen war. Dann hatte er das Land für sich und konnte die Kraniche beobachten, wie sie sich formierten und für die Reise nach Süden rüsteten oder die Schwalben, wenn sie abends in den Wind schossen.

      Unabhängig wollte er sein, fuhr mit seinem Getreide zur Mühle, backte sein Brot selbst, räucherte Speck und Schinken, bewirtschaftete seinen Garten und die Felder, hielt neben allerhand Vieh schwarze Hühner und einen bunten Hahn, und war stolz, nicht viel hinzukaufen zu müssen.

      Sein wertvollster Besitz war ein Grammophon. Es war ein schwarz lackierter Holzkasten mit einem Lautsprecherhorn und der Abbildung eines Hundes, dem die Schriftzeile »His masters voice« galt. An der Seite befand sich eine abnehmbare Kurbel zum Aufziehen der Feder des Antriebswerkes. Zum Grammophon gehörte eine Schallplattenkassette und eine Nadel, die einer speziellen Dose entnommen am Ende des Abtastarms eingesteckt und fest verschraubt wurde. Das Grammophon hatte er mit in die Ehe gebracht und es gehörte zu seinem Sonntagvormittag, wenn er sich in Opern und Operetten verlor, in Konzerten von Haydn und Strauss. Seine Grammophonstunde zelebrierte er ebenso wie die regelmäßige Lektüre der ›Meisterwerke der Dichtkunst‹, von denen er fünf Bände besaß. Gelegentlich holte er auch sein Schifferklavier aus einem eckigen, schwarzen Kasten, spielte Volkslieder, denen man den Norden und das Meer anhörte, ging damit durch die Stube, während seine Finger über die Tasten flogen. Fest hielt er das Instrument über der Brust gespannt, zog es auseinander, dass es mit seinem papierenen Balg Luft zog und sang: »Nimm uns mit, Kapitän, auf die Reise, nimm uns mit in die weite, weite Welt! Wohin geht, Kapitän, deine Reise? Bis zum Südpol, da langt unser Geld! …«4

      Man kann sagen, dass Bertrams Vater ein musischer Mensch war. Sein Unwohlsein begann, als die Technik alles überrannte. Er sah keinen Fortschritt in modernen Maschinen und Ställen, verteufelte Pflanzenschutzmittel und Kunstdünger und verzichtete auf höhere Erträge, die ihm diese Neuerungen versprachen. Er war sicher, dass man mit Grund und Boden nicht machen konnte, was man wollte. Es gäbe eine Verpflichtung der Menschen gegenüber ihrem Land und den Tieren. Dass uns das alles noch teuer zu stehen komme. Mit Argusaugen beobachtete er, wie mehr und immer größere Maschinen immer schneller Aussaat und Ernten übernahmen und viele der kleinen Bauern die Höfe aufgaben. Die moderne Tierhaltung war für ihn ein Verbrechen an der Kreatur. Er hasste die engen Legebatterien, in denen die Hühner sich nicht bewegen konnten. Er hasste Bauernhöfe, die zu Industriebetrieben geworden waren. Er hasste die Weizenfelder, von denen er meinte, dass jedem, der sie genauer betrachte, auffallen müsse, dass irgendwas nicht stimmte.

      Bertrams Mutter hatte immer schon im Haus gewohnt, träumte allerdings von Amerika, von einer Farm irgendwo in den Südstaaten inmitten leuchtender Felder, im Herbst weiß von Baumwolle.

      Sie war eine stille Frau, nickte zu allem, was ihr Mann sagte. Ich habe sie blass und unscheinbar in Erinnerung. Ihr reichten ein labberiger Pulli, Latzhose und Gummistiefel. Aber sie war eine gute Bäckerin. Dann und wann backte sie herzförmige Waffeln, die sie mit Puderzucker überstreute und Bertram stapelweise in die Schule mitgab, so, dass es für die halbe Klasse reichte.

      Eigentlich hätte Bertram noch zwei Brüder haben sollen, Zwillinge. Beide waren noch im Säuglingsalter an einer seltenen Krankheit gestorben. Zeitlebens sehnte sich Bertram nach seinen Brüdern. Ein Lied hatte er für sie geschrieben mit einer Melodie aus Morgenlicht und Himmel.

      8.

      Je älter wir wurden, desto ähnlicher wurde Bertram seinem Vater.

      Er