Vom letzten Tag ein Stück. Ute Bales

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Название Vom letzten Tag ein Stück
Автор произведения Ute Bales
Жанр Контркультура
Серия
Издательство Контркультура
Год выпуска 0
isbn 9783898019095



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früher zur Burg gehörte. Dort lebt Werner mit seiner Frau. Sie haben das Haus so behandelt, wie man mit alten Sachen umgehen soll: vorsichtig. Das Haus sieht schön aus. Ich denke es immer, wenn ich dort vorbeikomme. Werner kümmert sich auch um die Burg, sorgt dafür, dass sich das Wasserrad der Mühle weiterdreht und das Gemäuer nicht verfällt.

      Im Oberdorf sind die alten Häuser rar geworden. Viele hat man abgerissen. In der Klosterstraße gibt es noch welche. In einem wohnt der Küster, Berni, ohne den unser Dorf nicht vollständig gewesen wäre. In einem anderen hauste Zeitungshanni, der vorzeiten in aller Frühe, einen schwarzen Sack auf dem Rücken, von Tür zu Tür zog und die Trierische Zeitung verteilte.

      Die alten Häuser, die mit Scheunen und Ställen, hatten Namen: Pannen, Backes, Pittisch, Schmette, Lue. Es ist nicht lange her, da dampften vor den Ställen die Misthaufen. Längst sind aus den Ställen Garagen geworden und aus den Misthaufen Vorgärten.

      Die Schule war zweiklassig mit einem großen Schulhof. Zwei und zwei eintreten, zwei und zwei in die Bänke. Aufstehen, wenn der Lehrer hereinkam. Dann beten. Die Bänke waren eng, das Holz glatt von all den Händen, die darauf geschrieben, gerechnet und geschwitzt hatten. Buchstaben waren eingeritzt oder Zahlen. Auf meiner Bank hatte jemand ein Herz eingekerbt. Aber nein, das war ich nicht.

      Die Hauptstraße ist die Prümer Straße, die sich früher an einem Lebensmittelladen vorbei durch das Dorf schlängelte, bis eine Umgehungsstraße gebaut wurde. Die anderen Straßen sind kürzer und enden noch im Dorf. Manche sind nur Wege. Der kleinste, ein steiles Pfädchen, führt, wenn man vom Oberdorf herunter kommt, zur Kirche oder zur Schule, an ein paar steilen Gärten vorbei und endet an einem Spritzenhäuschen, in dem ein Feuerwehrwagen untergebracht ist.

      Ganz in der Nähe liegt der Sportplatz, daneben, am Dreesbach, ein Spielplatz mit einer Rutschbahn und einer Schaukel, mit der man sich eindrehen und die Kette so hochzwirbeln kann, dass man vom Boden abhebt, um sich dann wieder herumwirbeln zu lassen. Hinter dem Spielplatz befindet sich ein Schützenhäuschen mit einem Schießstand, grün gestrichen, in dem sonntags mit Luftgewehren auf Schießkarten aus Karton geschossen wurde. Vor Jahren hingen dort Ehren- und Königsscheiben aus Holz an den Wänden; eine Theke mit Spülbecken gab es, ein paar Barhocker, ansonsten roch es nach abgestandenem Bier.

      Wir wohnten im Oberdorf. Uns gegenüber, in einem sehr alten Haus, in dessen Giebel eine Eule ihr Nest gebaut hatte, lebte ein ebenso alter Mann, krumm und schief geworden mit der Zeit. Er stützte sich auf einen Gehstock, den er regelmäßig uns Kindern hinterher warf, wenn wir etwas taten, was ihm nicht gefiel. Immer, wenn er den Stock warf, war es eine Riesengaudi. Nicht nur, weil er nicht traf, sondern weil er ohne Stock hilflos war. Wir neckten ihn, forderten ihn heraus. Er ließ sich von uns necken. Denn er konnte nicht ohne uns und wir nicht ohne ihn. Um Wasser zu sparen, pinkelte er in seinen Garten. Er trug immer die gleiche Jacke und kaufte seine Zigaretten einzeln.

      Sein altes Haus existiert lange nicht mehr. Die Eule musste sich ein anderes Gemäuer suchen. Ich sah sie manchmal, wenn sie gegen Abend im Birnbaum unserer Nachbarn saß. Wenn ich versuchte, näher zu kommen, reckte sie den Hals, sträubte die weißen Nackenfedern und riss die Augen auf. Manchmal sah ich sie auch schlafend, mit halbgeschlossenen Augen in ihrem herzförmigen schleierhaften Gesicht. Ganz schmal war der Schlitz zwischen den Lidern. Wenn sie sich aufschwang, hörte ich nicht das leiseste Geräusch. Wo die Eule wohl sein mag?

      In Winternächten höre ich manchmal noch in der Ferne ihren verlorenen Schrei.

      4.

      In unserem Dorf, aus dem Bertram verschwand, als hätte es ihn nie gegeben, lebten etwa 500 Leute. Arbeiter, Bauern, Handwerker und Hausfrauen. Wir waren fast alle katholisch, gehörten also zur Gesamtheit des Christentums römisch-katholischer Prägung, was daran zu merken war, dass wir sonn- und feiertags in die Kirche gingen, mindestens zweimal jährlich beichteten, uns regelmäßig die Kommunion abholten, am Karfreitag und Aschermittwoch kein Fleisch aßen, jede Woche eine Mark in den Klingelbeutel warfen und unser Vieh, die Häuser und Autos segnen ließen.

      Die Frauen blieben zu Hause, kümmerten sich um Haus und Hof, um Alte und Kinder. Die Männer gingen schaffen. So nannten sie das. Schaffen gehen. Man sah es ihren Händen an. Wer nicht schwitzte, abends nicht mit leerem Magen und krummem Rücken nach Hause kam, hatte nicht geschafft.

      Sie halfen sich gegenseitig beim Häuserbauen und Autoreparieren, arbeiteten viel, waren geschickte Handwerker, die alles konnten, versumpften aber regelmäßig in unseren Kneipen, und die Frauen zuhause sagten: Oh, diese Kerle! Unsere drei Gasthäuser waren gut besucht: Ettens, Arnoldy und das Sonneck. Bitte ein Bit. »Mach mal drei Schnaps, Martha! Und schreib‘s an!«

      Wir lebten wie in einem Kokon, der uns schützte, aber damals schon ein Loch hatte, durch das hin und wieder jemand verschwand. So wie Bertram. Bloß dass Bertram nicht deshalb verschwand, weil ihm die Welt in unserem Dorf zu eng geworden war oder weil er woanders eine Arbeit gefunden oder eine Frau kennengelernt hatte.

      5.

      Die Ratschläge, mit denen wir ins Leben geschickt wurden, hallen noch nach: Passt auf! Geht gerade! Sitzt gerade! Seid pünktlich! Strengt euch an!

      Wir hatten freundlich zu sein und alle zu grüßen, die durchs Dorf gingen.

      Wir lernten: Zuerst die Arbeit, dann das Vergnügen.

      Wir verstanden, dass, wer hoch hinaus will, tief fallen kann.

      Wir hörten, dass wir nichts geschenkt bekämen.

      Dass nur der frühe Vogel den Wurm fange.

      Dass man den Tag nicht vor dem Abend loben soll.

      Dass Ordnung das halbe Leben ist.

      Dass es ohne Fleiß keinen Preis gibt.

      Vor allem sollten wir aus einer Mücke keinen Elefanten machen und nicht aus der Reihe tanzen, was allerdings schnell passieren konnte. Wir sollten den Stier bei den Hörnern packen, aber nicht mit dem Kopf gegen die Wand rennen und die Kirche im Dorf lassen.

      Vieles, was wir taten, taten wir aufgrund von Bräuchen und Sitten und weil wir es einfach immer so gemacht hatten. Taufen wurden zügig erledigt, weil Heidenkinder sonst keine Chance auf das Paradies hatten. Hochzeitspaaren wurde geschliffen1, was teuer werden konnte. Starb jemand, so läutete Toni die Glocken. An drei Abenden hintereinander beteten wir in der Kirche den Rosenkranz. Und das ewige Licht leuchte ihnen. Zur Beerdigung gingen alle den Sarg segnen. Die Frauen aus der Nachbarschaft durften danach mit zum Kaffee.

      An Fastnacht zogen wir in einem Pulk von Cowboys und Indianern von Tür zu Tür und sammelten Bonbons, Eier, manchmal ein paar Groschen. Wir wussten, bei wem was zu holen war. Sogar Bertram machte mit, wenn er sich auch nicht verkleidete. »Ich bin ein armer König, gib mir nicht zu wenig, lass mich nicht zu lange stehn, denn ich muss bald weitergehn …« Am Aschermittwoch holten wir uns das Aschenkreuz ab. Uns war klar, dass wir irgendwann wieder zu Staub werden würden, denn dort waren wir hergekommen.

      Wenn am Gründonnerstag die Glocken nach Rom flogen, kamen die Jungs mit ihren Holzklappern, den Rätschen und Raspeln. Morgens, mittags und abends. »Et löckt Bätklock!« Dann scharfe, schneidende und knallende Geräusche. Für Mädchen verboten, sagten sie, wenn wir mitmachen wollten. Auch Bertram war damals wenig tolerant.

      Am Ostermorgen war unsere Kirche voller Gesang, der sicher in den Mauern geblieben ist.

      »Halleluja, Jesus lebt, Jesus lebt, Jesus lebt, hallelu-u-ja–a Jesus lebt!« Draußen auf dem Parkplatz vor der Kirche dann Nummernschilder aus Düsseldorf, Köln, Trier. Nachmittags Türme von Cremekuchen. Auf der Wiese warfen wir hartgekochte Eier in die Luft.

      An Pfingsten, wenn die Gegend gelb war vom Ginster, baute der Schützenverein auf dem Platz vor der Schule ein Zelt auf. Flatterfähnchen in grün-weiß, vor dem Zelt eine Schiffschaukel und ein billiger Jakob mit allerhand Tinnef. Drinnen eine Drei-Mann-Band und Onkel Nikla, der sein Glas gegen die Musikanten erhob und schrie: »Frau Wirtin, eine Lage für die Mussik!« Sie spielten Kasatschok für uns Kinder und Foxtrott für die Erwachsenen, die schunkelten und lachten und grölten und später, am Stand der Bitburger Brauerei, schwankend von Bier und Schnapsseligkeit,