Vom letzten Tag ein Stück. Ute Bales

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Название Vom letzten Tag ein Stück
Автор произведения Ute Bales
Жанр Контркультура
Серия
Издательство Контркультура
Год выпуска 0
isbn 9783898019095



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sagte, dass Bertram allein lebt, dass ich aber eine Freundin sei, der er regelmäßig Briefe schreibe. Das ließen sie nicht gelten. Ich fand sogar, dass sie amüsiert wirkten, denn sie grinsten und die Blicke, die sie sich zuwarfen, sprachen Bände. Es käme nur dann zu einer Fahndung, erklärten sie mir, wenn der Verdacht bestünde, dass Bertrams Leben in Gefahr sei und dass ansonsten jeder das Recht habe, seinen Aufenthaltsort frei zu bestimmen, auch ohne dies seinen Freundinnen mitteilen zu müssen. Es sei also nicht Aufgabe der Polizei, Aufenthaltsermittlungen durchzuführen, wenn keine Gefahr für Leib oder Leben bestünde. »Wo kommen wir denn hin, wenn jeder einen Nachbarn, den er länger nicht gesehen hat, vermisst melden würde? Vielleicht will er Sie nicht mehr sehen? Hatten Sie vielleicht Streit?«

      11.

      Früher hatten Bertrams Eltern einen Hund. Er war zottelig und schwarz und lag, so oft ich kam, vor dem Ofen in der Küche. Er war irgendwann an einer bösen Krankheit verendet. Wie gut wäre es gewesen, wenn Bertram sich wieder einen Hund zugelegt hätte. So ein Hund hätte ihn sicher aufgestöbert.

      Aber er wollte keine Tiere. Auch keine Katze. Wenn schon ein Tier, dann eines, das nicht angefasst und gestreichelt werden wolle. Zum Beispiel ein Käfer. Oder ein Wurm. Solche Tiere mochte er, weil sie in ihrem eigenen Kosmos lebten. »So einem Wurm«, meinte Bertram, »sind wir doch vollkommen egal. Der sieht uns doch gar nicht, sondern hat seine eigene Welt, seine eigene Wahrnehmung. Anders als ein Hund.« Er mochte keine Tiere, die sich von Menschen beherrschen ließen. »Stell dir mal so ein Käferhirn vor. Sieht anders, hört anders, verarbeitet anders … Oder ein Bienenhirn. Wir sehen sie nach Honig suchen, stundenlang, oft weit weg von ihren Stöcken. Wer sagt denen, wohin sie fliegen sollen und wo es Nahrung gibt? Und wie kommen sie zurück zu ihren Waben? Überhaupt, versuch mal, Pollen aus einer Blüte zu saugen oder ein Spinnennetz zu stricken. Kannst du Seide spinnen? Nein, da werden wir uns nie hineindenken können. Dabei ist doch so ein Spinnennetz etwas so Feines, Kunstvolles … Und mindestens genauso viel wert, wie wenn wir ein Haus bauen!«

      Manches, was er sagte, fand ich klug, und über vieles musste ich nachdenken. Er hätte gerne mehr gewusst über die Zusammenhänge der Dinge, fragte sich, weshalb es Bäume gibt und Vögel und was ein Bach den ganzen Tag so macht und wem er nützt. Er erkannte, dass sein Wissen begrenzt war, ebenso seine Sinne. Über seine anderthalb Sprachen spottete er. Es machte ihm zu schaffen, dass er nie alles würde erfassen können. Deshalb hielt er auch Gott für möglich. Religion lehnte er ab. Hier hielt er es mit Marx und sprach von Volkes Opium.

      Schon vor dem Tod der Eltern ging er nicht mehr in die Kirche, was dem Vater egal war, die Mutter allerdings unheimlich aufregte. Er warf ihr an den Kopf, dass die Pastöre die Leute bevormundeten und maßregelten, dass sie Menschen in Not immer nur aufforderten, geduldig zu sein, anstatt ihnen zu helfen. Auch, dass die Kirche sich über alles stellte, dass sie die Frauen missachtete und den Leuten einredete, dass es Gerechtigkeit erst nach dem Tod gäbe. Was ihn auf die Palme brachte, war, dass gesagt wurde, Christen müssten treue Untertanen sein und Revolution sei Rebellion gegen Gott. Die Mutter hatte keine Argumente, um Bertram zurückzuholen.

      Was der Mensch selbstständig denkt und vor allem, was er über sich selbst denkt, ist entscheidend für sein Leben. Davon war Bertram überzeugt. Für sich selbst entschied er, bewusst zu leben und sich auf die wesentlichen Dinge konzentrieren zu wollen. Seine Zeit wollte er nutzen und eine Spur hinterlassen. Als ich ihn fragte, ob auch ich zu seinen wesentlichen Dingen gehöre, nickte er und machte dabei ein sehr ernstes und angestrengtes Gesicht.

      12.

      Jeder in meinem Dorf kennt Berlin oder München oder New York. Aber in New York, München oder Berlin kennt niemand mein Dorf. Nicht einmal die Gegend. Wenn ich gefragt werde, wo ich herkomme, habe ich mir angewöhnt, eine größere Stadt in der weiteren Umgebung zu nennen. Köln zum Beispiel oder Trier. Tue ich das nicht, ernte ich nur Schulterzucken und die unausweichliche Frage: Wo liegt das denn? Längst habe ich keine Lust mehr, das zu erklären, obwohl die von mir genannte größere Stadt, Köln meinetwegen, über hundert Kilometer entfernt ist und nichts mit meinem Dorf zu tun hat, aber auch gar nichts und auch nichts mit mir. Wenn man in dieser großen Stadt jemanden nach meinem Dorf fragen würde, so würde er den Kopf schütteln, es sei denn, er käme selbst dort her. Aber selbst dann würde er wahrscheinlich den Kopf schütteln.

      Obwohl ich mit unserer Gegend verwachsen war, so war es doch Bertram, der sich besser auskannte und den Dingen mehr auf den Grund ging. Als Kind war sein Vater häufig und bei jedem Wetter mit ihm durch die Natur gezogen, hatte ihm Tiere und Pflanzen gezeigt und von Leuten erzählt, die vor unserer Zeit die Gegend gerodet, urbar gemacht und aufgeforstet hatten. Er hatte ihm beigebracht, wie man mit Steinen Feuer macht, von welchen Früchten man essen kann und von welchen nicht, und wie es möglich ist, selbst winters im Freien zu überleben. Zu seiner Kommunion hatte er ein echtes Schweizer Fahrtenmesser mit der Gravur seiner Initialen bekommen: B.M. Er trug es immer bei sich, schnitzte Stöcke und Pfeifen, Pfeile und Bogen. Auch eine Schnur gehörte zu seiner Ausrüstung und ein geschmiedeter Eisenring. Ich habe vergessen, für was er ihn brauchte.

      Im Gegensatz zu ihm hielt ich mich wenig draußen auf. Mir war schnell kalt und ich mochte vor allem die Winter nicht, den Schnee und das Eis und die Vistramlatzhosen aus blauem Kunstleder, die abwaschbar waren und in den Falten bröckelten. Der raue Wind trocknete meine Haut aus, besonders die Lippen, weswegen ich sie unentwegt mit Speichel befeuchten musste, was sie rissig machte und schmerzhaft war. Die Kälte färbte meine Wangen rot und meine Hände bläulich-lila, was ich hasste, weil ich damit auszusehen glaubte wie eine Fischverkäuferin. Außerdem litt ich unter häufigen Mandelentzündungen und einer ständig laufenden Nase, hatte Angst vor Blasenentzündungen, die regelmäßig auftraten, wenn ich mich in Monaten mit R auf eine Wiese setzte.

      Bertram machte das Wetter nie etwas aus. Ich sehe ihn noch in seiner dünnen Leinenjacke bei minus 20 Grad auf dem Fahrrad heranwinken: »Komm, setz dich hinten drauf, wir fahren ein Stück!« Er nannte mich Stubenhockerin, wenn ich ablehnte.

      Überhaupt war ich ängstlicher als er. Ich war schon ängstlich geboren. Bertram musste mir zehnmal sagen, wenn ich etwas gut gemacht hatte. Selbst dann glaubte ich es nicht. Meine Angst spürte ich oft bis in den Magen. »Wer Angst hat, ist unsicher«, erklärte mir Bertram.

      Manchmal testete er mich. »Was glaubst du, wie lange kann ein Mensch auskommen, ohne zu trinken? Was machst du, wenn du draußen bist und mehrere Tage kein Wasser hast?« Ich meinte, es sei gut, eine Quelle zu suchen oder im Winter Schnee zu schmelzen und zu trinken, was Bertram nur mit Einschränkungen gelten ließ. »Und wenn du keine Quelle findest und der Schnee verdreckt ist?« Er ließ mich raten und gab schließlich selbst die Antwort: »Du musst Urin destillieren.« Wie das gehen sollte, zeigte er mir, als wir, wie oft an Sommerabenden, in seinem Garten ein Feuer entfachten und um die Glut hockten. Vor meinen Augen pinkelte er in eine Wasserflasche, kommentierte das damit, dass ich mir den Notfall vorstellen solle, schloss den Deckel der Flasche und hielt sie eine Weile über die Glut. Dann bohrte er mit dem Taschenmesser ein Loch in den Deckel und steckte einen Strohhalm in die Flüssigkeit. Über den Halm gelangte Wasserdampf dann in eine zweite Wasserflasche, was eine Weile dauerte und nur wenig Flüssiges hervorbrachte. Die zweite Flasche legte er ins Gras, ließ sie abkühlen und als die Temperatur stimmte, hielt er mir das Destillat entgegen: »Hier! Trink! Ist gereinigt!«, lachte er, setzte an und trank selbst.

      Bertram konnte Dinge, für die ich ihn bewunderte. Es war mir ein Rätsel, wie er sich orientierte. War ich mit ihm im Wald, pfiff er manchmal seltsame Töne, woraufhin nach und nach Waldtiere auftauchten, aber schnell wieder verschwanden. Eine Stelle, an der ich nichts, aber rein gar nichts erkennen konnte außer Gestrüpp und geschwärzter Erde unter einer trockenen Erdschicht, entschlüsselte er als einstigen Kohlenmeiler.

      Ich sehe Bertram noch vor mir, kurz nach seiner Kommunion. Er trug das neue Fahrtenmesser, das ihm sein Vater geschenkt hatte, an einem Lederriemen quer über der Schulter. Wir waren in den Kyllwald gegangen, wo wir die Rinden der Buchen nach Baumperlen absuchten, die wir Knubbel nannten. Sie waren schwierig zu finden, weil sie unscheinbar waren, fast unsichtbar, oft im Boden versteckt und mit Rinde und Moos bedeckt. Man musste sie säubern und schälen, was eine Prozedur war, die sich aber lohnte, weil so etwas wie Perlen entstanden, oft mit schöner