Kurze Formen in der Sprache / Formes brèves de la langue. Anne-Laure Daux-Combaudon

Читать онлайн.
Название Kurze Formen in der Sprache / Formes brèves de la langue
Автор произведения Anne-Laure Daux-Combaudon
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783823302469



Скачать книгу

oder gar nicht mehr aus der Komposition erschließen, z.B.:

       (25) Handschuh

       (26) Meerschwein (G I: 751)

      Ad 4. Elliptische Komposita entsprechen Adjektiv-Nomen-Komposita, die heute auch als exozentrisch bezeichnet werden, da das Basisformativ nicht der bezeichneten Entität entspricht. Götzinger nennt sie elliptisch, da „das tragende Wort“ nicht explizit sei. Typischerweise handelt es sich um Komposita, die Tiere oder Menschen über eine bestimmte Eigenschaft identifizieren oder qualifizieren, z.B.:

       (27) Rotkehlchen

       (28) Dickbauch

       (29) Stumpfnase

       (30) Langhand (G I: 769)

      Man kann so verstehen, wieso Götzinger in einem Kapitel zur Ellipse als rhetorischer Figur schließlich ihre Funktion der Hervorhebung betont, die aber auch auf die anderen oben vorgestellten kurzen Formen hier übertragbar zu sein scheint. Kurze Formen ermöglichen es den Sprechern, nur explizit zu realisieren, was ihre Aussagen tatsächlich motiviert und informativ Sekundäres, Uninteressantes, vom Hörer / Leser Erschließbares oder im Kontext Vorhandenes nicht zu realisieren.

      So heißt es auch bei Götzinger (1836: 776) in Bezug auf Komposita: Mit diesen kurzen Formen vermeiden wir „unnöthige Deutlichkeit“, die eine gelungene Kommunikation behindern würde.1

      4 Schluss

      Wenn man nun beide Werke miteinander vergleicht, wird deutlich, dass sich die Behandlung kurzer Formen und die Bewertung ihrer diskursiv-kommunikativen Funktionen sehr unterscheiden: Bei Hempel spiegeln sich die zeitgenössischen Topoi der Deutlichkeit und Bestimmtheit in einer hyperkorrektiven Forderung nach maximaler Expliziertheit, die relativ gut die zeitgenössischen Positionen deutscher Grammatiker widerspiegelt (vgl. Spitzl-Dupic 2016), die hier jedoch außergewöhnlich detailliert entwickelt wird. Götzingers Ansatz dagegen, der Sprecher- und Hörerperspektive integriert, kommunikative Funktionen unterschiedlicher kurzer bzw. kürzerer Formen zu identifizieren versucht, die Rolle des Kontextes einbezieht und eine Varietät grammatischer Strukturen für kurze Formen aufgrund relativ stringenter formaler Kriterien unterscheidet, ist der Höhepunkt einer pragmatischen Ausrichtung, die in der 1. Hälfte des 18. Jahrhunderts einsetzt. Sie spiegelt aber, im Gegensatz zu Hempels Ausführungen, nur einen Ausschnitt des zeitgenössischen Sprachdenkens wider, der besonders von der historischen Grammatik bald „übertönt“ wird und erst zur Jahrhundertwende wieder Bedeutung erlangt (vgl. Spitzl-Dupic 2016).

      Literatur

      Aichinger, Carl Friedrich, 1754. Versuch einer teutschen Sprachlehre […]. Frankfurt / Leipzig: Kraus.

      Altmann, Hans, 1981. Formen der ‚Herausstellung‘ im Deutschen. Rechtsversetzung, Linksversetzung, freies Thema und verwandte Konstruktionen. Tübingen: Niemeyer.

      Bödiker, Johann, 1690. Grundsätze der Teutschen Sprache. Cölln an der Spree: In Verlegung des Verfassers, Druck Ulrich Liebpert.

      — [zuerst 1690] 1746. Grundsätze der Teutschen Sprache, überarbeitet von Johann Jacob Wippel. Berlin: Nicolai.

      Eichinger, Ludwig M., 2000. Deutsche Wortbildung – Eine Einführung. (= Narr Studienbücher). Tübingen: Narr.

      Forsgren, Kjell-Åke, 1998. „On ‘Valency Theory’ in 19th Century German Grammar.“ In: Beiträge zur Geschichte der Sprachwissenschaft, 8, 55–68.

      Gottsched, Johann Christoph, 21749 [zuerst 1748]. Grundlegung einer deutschen Sprachkunst […]. Zweyte vermehrte und verbesserte Aufl. Leipzig: B.C. Breitkopf.

      Götzinger, Max Wilhelm, 1836–1839. Die deutsche Sprache. Band 1, Theil 1 u. Theil 2. Stuttgart: Hoffmann.

      Hempel, Christian Friedrich, 1754. Erleichterte Hoch=Teutsche Sprach-Lehre […]. Frankfurt / Leipzig: Johann Gottlieb Garben.

      Knobloch, Clemens, 2000. „Die Deutsche Sprache. Max Wilhelm Götzinger.“ In: Corpus de textes linguistiques fondamentaux, Equipe CTLF (CID, ENS-LSH) (Hrsg.), http://ctlf.ens-lyon.fr/n_fiche.asp?num=3529, letzter Zugriff 12.01.2019.

      Kramer, Matthias, 1680. Neues hoch=nützliches Tractätlein von der Derivatione & Compositione […]. Nürnberg: W. Moritz Endters & J.A. Endters Sel. Söhne.

      Lecointre, Claire, 1990. „Zum Begriff der brevitas in der Grammatik (16.–17. Jh.).“ In: Niederehe, Hans-Joseph / Koerner, E.F.K. (Hrsg.). History and Historiography of Linguistics. […]. vol. 1. Amsterdam: Benjamin’s, 250–259.

      Polenz, Peter von, 1994. Deutsche Sprachgeschichte vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart. Bd. II: 17. und 18. Jahrhundert. Berlin / Boston Mass.: de Gruyter.

      Schottelius, Justus Georg, 1663. Ausführliche Arbeit von der teutschen HaubtSprache. Braunschweig: Zilliger.

      Spitzl-Dupic, Friederike, 2016. „Zur Analyse der Ellipse: eine historiographische Untersuchung (18.–19. Jahrhundert).“ In: Marillier, Jean-François / Vargas, Elodie (Hrsg.). Fragmentarische Äußerungen. (= Eurogermanistik, 32). Tübingen: Stauffenburg, 57–78.

      — 2018. „Der sprachtheoretische Diskurs zur Innovation in der Literatursprache und in literarischen Übersetzungen im 18. Jahrhundert.“ In: Platelle, Fanny / Viet, Nora. Innovation – Révolution. Discours sur la nouveauté littéraire et artistique dans les pays germaniques. Clermont-Ferrand: PUBP, 41–56.

      Vinckel, Hélène, 2006. Die diskursstrategische Bedeutung des Nachfeldes im Deutschen. Eine Untersuchung anhand politischer Reden der Gegenwartssprache. Wiesbaden: Deutscher Universitäts-Verlag.

      Infinite, afinite und verblose Sätze aus diachroner und typologischer Sicht

      Michail L. Kotin & Monika Schönherr

      1 Problemstellung

      Die verbozentrischen Syntaxkonzepte, welche insbesondere seit dem Etablieren der Valenztheorie (vgl. Tesnière 1959 / 21976) in der europäischen Linguistik favorisiert werden, behandeln das Verb gemeinhin als strukturellen Kern einer Proposition, der darin eine hierarchisch übergeordnete Stellung einnimmt. Die Standardgrammatiken der deutschen Gegenwartssprache weisen dem Verb im Allgemeinen und dem formalen Merkmal der Finitheit im Besonderen satzkonstituierenden Status zu. Dies bedeutet u.a., dass lediglich Strukturen mit Verbum finitum als echte Sätze im eigentlichen Sinn dieses Begriffs eingeordnet werden müssen, während Syntagmen ohne Finitum und erst recht ohne jede Verbform lediglich als kommunikative Minimaläußerungen einzustufen sind (vgl. u.a. Heringer 1996: 16, Zifonun 1997: 34–64, Zifonun et al. 1997 Bd.1: 91, Darski 2010: 95–98). Worin besteht aber der postulierte grundsätzliche Unterschied zwischen Sätzen und satzförmigen Syntagmen mit satzgleichem propositionalem Gehalt? Wieso gibt es so viele Sequenzen ohne Finitum oder aber ohne jegliche overte Verbalität, die sich dennoch problemlos als volle Satzsyntagmen einordnen lassen? Handelt es sich dabei in toto um Ellipsen? Wieso gibt es dann aber verblose Syntagmen mit propositionalem Wert, die nicht dermaßen „ausbaufähig“ sind, dass sie einen propositional volläquivalenten Satz mit einem Verbum finitum bilden?

      Diese Fragestellung ist einer der wichtigsten Forschungsschwerpunkte der Geehrten (vgl. u.v.a. ihre Ausführungen zu diesem Problemkreis in Behr 2013; Behr / Quintin 1996; Behr / Quintin 1998). Die theoretische Grundlage bildet dabei das logisch-semantische Herangehen, dessen Wurzeln grosso modo auf die Thesen des französischen Rationalismus im weitesten Sinn dieses philosophischen Begriffs zurückgehen. Die Verblosigkeit, speziell Ellipse und sonstige Formen ohne Verbum finitum oder aber andere nonverbale Fügungen, darunter verblose prototypische Kopulakonstruktionen, sog. „kurze Sätze“ etc. werden von Irmtraud Behr als Sprachformen behandelt, welche eine dahinter stehende Eigenlogik spiegeln, ohne sich dabei auf bloße Ellipsen reduzieren