Kurze Formen in der Sprache / Formes brèves de la langue. Anne-Laure Daux-Combaudon

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Название Kurze Formen in der Sprache / Formes brèves de la langue
Автор произведения Anne-Laure Daux-Combaudon
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783823302469



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Bestimmtheit, ihre dem Sprachsystem nicht gerechte Form, Dissonanz, semantische Inkohärenz („Härte“) und ihr Ursprung in der gesprochen Sprache des „Pöbels“. Modern könnte man von einer hyperkorrektiven Haltung gegenüber der Muttersprache sprechen, erklären lässt sich diese natürlich aus der Motivation, das Sprachverhalten deutscher Sprecher / Schreiber zu „verbessern“, um die Sprache politisch und literarisch aufzuwerten.

      Ich wende mich nun der zweibändigen Grammatik (1836–1839) des Schweizer Germanisten Max Wilhelm Götzinger (1799–1856) zu. Dieses Werk entsteht in einem Kontext, in dem die Fundamente der deutschen Schulgrammatik schon gefestigt, die historische und historisch-vergleichende Grammatik institutionalisiert sind und das Deutsche anderen europäischen Sprachen als ebenbürtig angesehen wird. Der Kontext der Sprachuntersuchung erlaubt also prinzipiell ein weniger sprachnormatives Vorgehen als wir es bei Hempel beobachtet haben.

      3 ‚Kürze‘ und kurze Formen in Max Wilhelm Götzingers Die deutsche Sprache (1836–1839)

      Wie Hempel integriert Götzinger die zeitgenössische Diskussion in seine Analysen, wobei er seinem Sprachbegriff das um die Jahrhundertwende bei Humboldt und Schelling entstandene organizistische Konzept zu Grunde legt und eine Art integrativ-kommunikativen Ansatz entwickelt (vgl. Knobloch 2000). Seine Analysen stützen sich systematisch auf literarische Texte und oft auf mündliche Sprache, oder genauer, auf imitierte Mündlichkeit, wie sie in Dramentexten zu finden ist.

      Im Gegensatz zu Hempels Grammatik begegnet hier eine theoretische Ausdifferenzierung verschiedener kurzer Formen:

       „grammatische“ oder „offene“ Ellipse; „versteckte“ Ellipse

       „Abkürzung“

       „Weglassung des schon Gesagten“

       „Zusammenziehung“

       „Auslassung“

      Wir werden sehen, dass diese Formen hier mit einem grundsätzlichen Bedürfnis der Sprecher nach Kürze begründet werden und mit pragmatisch-kommunikativen Argumenten, u.a. ihrer Funktion der „Hervorhebung“. Darüber hinaus geht Götzinger organizistisch auch von einem sprachinhärenten Prinzip zur Kürze und Kürzung aus, das in der Diachronie zum Tragen komme, auf das aber nur ansatzweise eingegangen werden kann (s.u.).

      3.1 „Offene“ Ellipsen und „versteckte“ Ellipsen

      „Offene“ und „versteckte“ Ellipsen werden formal über Rektion und Akzent definiert: Ellipsen entsprechen der Nichtrealisierung / Abwesenheit eines regierenden und dadurch auch unbetonten Satzteils, sodass die Präsenz einer regierten und einer betonten Form, ohne ihr regierendes Element, das grammatisch-morphologische und phonologische Indiz für die Präsenz einer Ellipse darstellt. Ausgehend von einem verbozentrischen Ansatz (vgl. Forsgren 1998) sind daher für Götzinger verblose Sätze prinzipiell „grammatische“ oder „offene“ Ellipsen, da „gar kein Träger vorhanden ist, an welchen die regierte Form sich anschließen könnte […]“ (Götzinger 1839: 226, im Folgenden G II), z.B.:

       (1) Heute roth, morgen todt (G II: 50)

       (2) die Kinderlein ängstlich nach Hause so schnell (G II: 225)

       (3) Mein ganzes Glück in Scherben G II: 226)

       (4) Fort mit ihm! (G II: 227)

       (5) Ich dich ehren? (G II: 227)

      Um eine „versteckte“ Ellipse handelt es sich dagegen, wenn ein Element als regierend erscheint, es aber in der Struktur nicht ist, z.B.

       (6) ich will nach Paris (G II: 226)

      wo will grammatisch einen Infinitiv regieren würde, von dem seinerseits nach Paris abhängig ist; oder in dem Beispiel

       (7) Fast bin ich so verlassen wieder, als da ich einst vom Fürstentage gieng (G II: 371)

      wo der Vergleichssatz als abhängig von einem Temporalsatz analysiert wird, nämlich wo als ich vormals war, da ich.

      Wichtig ist historiographisch gesehen, dass Götzinger bei all diesen verblosen Sätzen im Allgemeinen zwar eine grammatische Ellipse annimmt, jedoch keinerlei Mangel in der semantischen Vollständigkeit und kommunikativen Leistung; im Gegenteil, er stellt einerseits hinsichtlich der Semantik dieser Sätze fest: „Man kann sich dabei oft gar kein bestimmtes Verbum weggelassen denken; man denkt wenigstens an kein besondres […].“ Kommunikativ sieht er diese Sätze als normalen Ausdruck von „aufgeregte[r] Stimmung, […]“ und von einer „Hast, die das nicht schnell genug sagen kann, was die Erinnerung belebt, die Seele erfüllt, oder den Antheil erregt“ (G II: 227). Daraus schließt er, dass die meisten Ellipsen Fragen, Ausrufe, Wünsche, Gebote sind, mit denen der Sprecher „Commandowörter, alle Grüße, Verwünschungen, Betheurungen, Verwunderungen, Segnungen“ (G II: 227) realisiert. Zeitgenössisch ist ein derartiger Verweis auf eine bestimmte sprecherpsychologische Disposition verbunden mit der Aufzählung bestimmter Satzmodi und verschiedener ‚Sprechakte‘ neu. Schließlich werden verblose Sätze auch mit bestimmten Textsorten in Zusammenhang gebracht: Ellipsen seien Bestandteile literarischer Texte sowie der „lebendige[n] Sprache“, die „keineswegs so [verfährt], daß sie immer alles nennte, was in den grammatischen Verband des Satzes gehörte; sie macht vielmehr oft Sprünge […].“ Inhaltlich betreffen diese „Sprünge“ also hier Informationen, die sich aus dem Ko- oder Kontext ergeben oder vom Hörer / Leser eigenständig erschlossen werden können oder die vom Sprecher als wichtig empfunden werden (s. auch unten 3.4, 3.5).

      So erklärt Götzinger auch die häufigen Ellipsen semantisch generischer Verben, z.B. Modalverben und „Verben der Bewegung und des Sprechens“ (s. oben die Bsp. (2), (5)) und verweist hier besonders auch u.a. auf Bühnenanweisungen dramaturgischer Texte.

      Derartige Ellipsen können sich nun auch auf die Syntax und das ‚Valenz‘-Verhalten von Verben auswirken.

      3.2 Veränderungen von ‚Valenz‘-Eigenschaften durch elliptische Prozesse in der Diachronie und Synchronie

      Die Verwendung des Terminus ‚Valenz‘ mag überraschen, aber verschiedene Untersuchungen haben aufgezeigt, dass Götzinger ein ausgebautes verbzentriertes Satzmodell entwickelt, in dem die syntaktischen und semantischen Eigenschaften des Verbs als Grundlage der syntaktischen Konfiguration analysiert werden. Dies wird auch deutlich in Überlegungen, die die Effekte von Verbellipsen in der Diachronie betreffen. Dort können laut Götzinger Elidierungs- und Übertragungsprozesse zu neuen Valenz-Eigenschaften führen, z.B. könnten sie die redeeinleitende Verwendung von lächeln erklären:

      ‚er sprach lächelnd: es sey Friede zwischen uns!‘ elliptisch ausgedrückt würde er heißen: ‚Er darauf lächelnd: es sey Friede zwischen uns!‘ Jetzt rückt lächeln in die leere Stelle, und ich habe: ‚er lächelte: es sey Friede zwischen uns!‘ (G II: 233–234)

      Vergleichbare Prozesse liegen auch ad-hoc-Bildungen, Götzinger spricht hier von „Uebertragungen“, zu Grunde, wie

       (8) er schluchzte sein Leiden mir vor (erzählte mir schluchzend sein Leiden) (G II: 234)

      und ausgehend von der Semantik eines Bewegungsverbs:

       (9) Er geht trotzend zur Thür hinaus – Er trotzte zur Thür hinaus (G II: 233)

      Götzinger beschreibt hier also einen Prozess ‚lexikalisch-semantischer Verdichtung‘ (vgl. Eichinger 2000: 104): Die genannten Verben nehmen die Semantik von Verben des Sagens und der Bewegung sowie die entsprechenden Valenzeigenschaften in sich auf und tragen damit zur Kürze im Ausdruck bei.

      3.3 „Weglassung des schon Gesagten“

      Eine von der