Oh nee, Boomer!. Uli Hannemann

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Название Oh nee, Boomer!
Автор произведения Uli Hannemann
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783947106653



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gehäkelte Schnapspulle zur Vorstellungsrunde herum. Wer die »Sprechflasche« hält, darf erzählen, warum er hier ist.

      Die fast weißhaarige Hilde (64) hat mit dem Trinken begonnen, nachdem ihr Mann gestorben war. Irgendwer musste dessen gigantischen Getränkevorrat ja vertilgen, wäre doch schade drum gewesen. Mein direkter Nachbar Lothar (68) hatte Pech im Lotto. Anita wiederum hat noch nie getrunken, weil sie Alkohol nicht ausstehen kann. Doch das Versprechen »Kontrolliertes Trinken« hat sie neugierig gemacht. Vielleicht, so die aparte Mittfünfzigerin, könne sie hier unter Anleitung den Alkoholgenuss erlernen, um auf Feiern nicht länger Außenseiterin zu sein. Während die anderen labern, lege ich mir meine Worte zurecht.

      Es war so, der junge Arzt war neu, ich hatte ihn noch nie zuvor gesehen. Und egal mit welchem meiner ganzen Prekariatsärzte ich die letzten dreißig Jahre über gesprochen hatte: Noch nicht mal beim Rundum-Gesundheitscheck wurde jemals auch nur eine Sekunde lang verquaste Eso-Kacke thematisiert, wie meine Lebensumstände, meine Stimmung, meine Ernährung, mein Berufs- oder Sexleben und mein Suchtverhalten. Die Blutwerte waren ja okay. Dieser übergriffige Quacksalber aber blickte mich nur einmal kurz an und sagte: »Sie müssen aufhören zu rauchen.« Ohne meine Lunge abzuhorchen, mein Atem rasselte nicht, und ich hatte ihm auch keinen blutigen Schleim auf den Schreibtisch gehustet.

      Ich reagierte perplex: Wie er denn darauf käme? Er erklärte, rauchen wäre ungesund. Ach so. Das hatte ich zwar auch schon mal gehört, aber ich hatte das Geunke stets darauf zurückgeführt, dass die Tabakindustrie um ihre clevere Geschäftsidee beneidet wurde. »In Ihrem Alter«, sagte er mit einem zweiten kurzen Blick, der mir wehtat, »steckt man nicht mehr alles so weg wie eventuell gewohnt.« Er erwähnte auch noch irgendwie Cholesterin und Ernährung und so’n Scheiß, ich wollte daher schon wieder abschlaffen, als das Wort »Alkohol« fiel. Begleitet von einem dritten kurzen, doch dafür umso intensiveren Blick. Ich schwitzte. In dem Blick sah ich mein Gesicht gespiegelt, das heute Morgen so aussah wie an zu vielen anderen Morgen. Er gab mir einen Informationszettel.

      Zu Hause stieß ich mit dessen Hilfe auf das Angebot »KT – Kontrolliertes Trinken. Mehr Genuss, mehr Freiheit, mehr Sicherheit.« Mit dem Slogan »Es gibt mehr als Abstinenz« wirbt der von den Krankenkassen bezuschusste Gesundheitskurs um Trunkenbolde diesseits jeder Hoffnung, die nach Schleichwegen um das leidige Aufhören herum suchen. Also um die meisten. Um mich. Noch am selben Tag buchte ich online den Kurs bei Frau Dr. Parder-Wedde.

      »Das ist eine großartige Geschichte.« Parder-Wedde wendet sich an die anderen Teilnehmer: »Finden Sie nicht auch?« Sie nicken wie ferngesteuert. Solange kein Alkohol im Spiel ist, will keine rechte Stimmung aufkommen.

      Und noch schlimmer wird es, als die Berufsspielverderberin lächelnd zur Disposition stellt: »Was könnte ich anstelle des Trinkens tun?« Hilfloses Schulterzucken in der Runde, Nasenbohren. Wie »anstelle des Trinkens«? Es hieß doch »kontrolliert« und nicht »anstelle«. Und für die Kontrolle hat man schließlich dieses dämlich grinsende Honigkuchenpferd da vorn bezahlt. Die blöde Sau. Die einen sind kurz vorm Ausrasten, die anderen kurz vorm Einschlafen. Wie Alkis halt so sind.

      Doch zum Glück erfolgt ein rascher Themenwechsel, hin zum »gemeinsamen Erarbeiten von Wochentrinkzielen«. Sie fragt in die Runde: »Was könnten denn das für Ziele sein?« Heißa, nun sprudeln aber die Vorschläge. Wer gerade noch wie leblos in seinem Stuhl hing, schnipst nun eifrig mit den Fingern, um sich einzubringen: besoffen sein, Flasche leer, Kasten leer, hartes Erbrechen, Erarbeitung eines zweistelligen Europfandbetrags bei der Leergutannahme. Die Diplompsychologin ist begeistert von der regen Mitarbeit.

      Und das Schöne ist: Wer das Pensum nicht schafft, muss dennoch nicht nachtrinken. Denn im Gegensatz zum Aufhören heißt das KT ein Scheitern ausdrücklich willkommen: »Eigene Ziele formulieren und … umsetzen, mit den Konsequenzen, Risiken, Misserfolgen und Fortschritten gelassen umgehen …«, steht bereits in der Kursbeschreibung. Wenn der Kasten nicht geschafft wird, versucht man es eben in der nächsten Woche aufs Neue oder erarbeitet sich ein anderes Ziel, das für den Anfang realistischer gesteckt erscheint. Das kann ein schwerer Kater sein oder eine nachts vom Sturz im Schlafzimmer aufgeschlagene Stirn – der Fantasie sind kaum Grenzen gesetzt.

      Ein elementarer Teil der Methode liegt überdies darin, dass der Süchtige lernt, das vom Alkoholmissbrauch quasi ausgeleierte Belohnungszentrum zu stimulieren. Laut Leitfaden »gehören dazu effektive Tipps und Übungen, um in gute Stimmung zu kommen mit körpereigenen Drogen«. Parder-Wedde bittet um Beispiele. Die meisten nennen den Restalkohol vom Vorabend. Zusammen mit dem effektiven Tipp: Je gründlicher man da vorgetankt hat, desto besser auch die Stimmung. »Wie könnte ich mir täglich eine Freude machen?«, fasst die Chefin die Aufgabenstellung zusammen, und unsere Antwort ertönt stolz im Chor: »Kontrolliert trinken!«

      Von draußen dringt Lärm durch das offene Fenster herein. Auf einer Bank im Hof lassen Saufbrüder krakeelend Pappschachteln mit Rotwein kreisen, Hunde bellen. Das muss der postpräventive Gesundheitskurs »Unkontrolliertes Trinken« (UkT) sein. Fast hätte ich ja den belegt, denn nicht zuletzt ist der umsonst, während wir nach Zuzahlung noch immer dreihundert Öcken pro Nase latzen müssen. Ein wenig neidisch blicke ich hinunter zu den fröhlich grölenden Teilnehmern. Sie wirken so unbeschwert, so frei, so anarchisch. Ich verspüre nicht übel Lust, mir nach dem Ende der heutigen Sitzung den dort entstandenen Ballast in geselliger Runde von der Seele zu spülen. Vielleicht frage ich Anita, ob sie mitkommt.

       Der Mann in der Andropause: Junge Menschen

      Spätestens seit Eintritt des Vorsiechenalters verstehe ich die Jugendlichen gar nicht mehr. Also alle unter 45-Jährigen. Sie sind so anders. Schon wegen Kleinigkeiten reizen sie mich zur Weißglut. Das sind dann stets die Momente, in denen ich sie gerne mal scheinheilig »um ihr Wohlergehen besorgt« anspreche: »Warum hast du eine Wollmütze auf? Es ist doch warm. Warum trägst du eine Sonnenbrille? Es ist doch dunkel. Warum fährst du mit Kopfhörern Rad? Es ist doch gefährlich.«

      Ihr Gehabe nervt mich kolossal. Die ständig eingestreuten lächerlichen Englischfetzen, obwohl ihre Sprachkenntnisse einer seriösen Qualitätsprüfung oft gar nicht standhalten, srsly. Ihre Unfähigkeit, auf Mails zu antworten, geschweige denn die von mir sauber aufgelisteten Punkte nacheinander abzuhaken – immer lesen sie nur die erste Zeile, dann wird die Konzentration auch schon vom nächsten Device absorbiert. Ihre Angewohnheit, eine Nachricht mit einem schlichten »hey« ohne weitere Anrede zu beginnen und mit einem Lach-Smiley zu beenden. Das ist weder höflich noch lustig. Und was schon per se nicht lustig ist, wird es auch nicht, indem man ein Grinsezeichen dahintersetzt, word!

      Im nächsten Moment könnte ich sie jedoch schon wieder knuddeln. Schließlich waren wir selbst mal jung und haben ganz verrückte Sachen gemacht. Ich hab mal einen Apfel geklaut, der über den Zaun hing. Und einmal ist ein Schneeball in der Schule an der Tafel gelandet, kaum einen Meter neben dem Lehrer. Der war zwar nicht von mir, aber was da hätte passieren können: Nicht auszudenken! Außerdem sind die Jungen heute oft so schlau und freundlich – das findet übrigens auch Zbigniew, mein Urologe: »Jun-ge Menschen«, sagt er voller Liebe und spricht das N und das G dabei wie immer getrennt aus. »Jun-ge Menschen sind so stark und so frisch wie ihr Harnstrahl.«

      Er hat ja so recht. Ihre unfassbar niedliche Arglosigkeit, die sich darin manifestiert, eben nicht allem Fremden präventiv mit Ablehnung zu begegnen, rührt mich im Innersten. Sie sind oft auch echt engagiert, während ich bloß schlau labere. Und besser als meines ist ihr Englisch allemal – etwas anderes behaupte ich ja nur aus Missgunst.

      Sie können überhaupt ganz viel: Komputer und Umwelt und Schmartfon und so. Und sie beschämen mich mit ihrer offenherzigen Gelassenheit mir gegenüber. So gehen sie einfach darüber hinweg, dass ich schon über dreißig Jahre vor meinem Tod täglich böser werde und das nicht zuletzt an ihnen auslebe. Als ob sie ihn nicht mitbekämen, lassen sie den passiv-aggressiven Unterton meiner Warum-Fragen einfach an ihren, mit dem Blut zahlloser Social-Media-Trolle perfekt imprägnierten, Gemütern abperlen.

      Ehrlich besorgt – denn diese beißende Dauerironie, die das gesellschaftliche Klima auf dem Globus komplett zu vergiften droht, ist ihnen fremd – wenden sie sich mir zu: »Sie sind nice.