Oh nee, Boomer!. Uli Hannemann

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Название Oh nee, Boomer!
Автор произведения Uli Hannemann
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783947106653



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das tapfere Schneiderlein: Sexismus, Ageismus und ein bisschen Lookismus auf einen Streich – ein eleganter, ein großartiger Kniff, wie ich meine. Besser noch als das F-Wort, denn oft sticht der Degen tiefer als der Säbel. Das nächste Mal fahren die Ziegen bestimmt rücksichtsvoller.

      Heute beglückwünsche ich mich allerdings zu der zufälligen Ausnahmeentscheidung, die Frau nicht angeraunzt, sondern ihr in einem unerklärlichen Anflug von Milde im Gegenteil sogar noch Platz gemacht zu haben. Und das, obwohl ich in dem Moment noch nicht mal ihr Gesicht gesehen hatte.

      Was für ein Glück! Denn andernfalls hätte sich das doch nur rumgesprochen: »Neulich hat mich so ein Typ am Hermannplatz vollkommen grundlos mit ›blöde Sau‹ beschimpft. Und weißt du, wer das war? Dein komischer Schreibkumpel da, dieser Olli oder so, der hat mich wohl erst nicht erkannt. Und dann aber so rumgenuschelt von wegen ›nicht so gemeint‹ und so. Also ich fand den ja schon immer ganz schön creepy.«

      Nein, nicht auszudenken. Einmal mehr stelle ich fest, wie wenig ich möchte, dass die Leute herausbekommen, wie ich wirklich bin. Das ist deswegen merkwürdig, da man mir meistens recht gut anmerkt, wie es in mir aussieht: ob ich verlegen, wütend, ungeduldig, gelangweilt oder aufgeregt bin. Nur wenn ich mich freue, was ohnehin selten geschieht, weiß ich das bestens zu verbergen.

      Ansonsten aber bin ich wie ein offenes Buch, wenngleich mit leeren Seiten. Wenn ich es mir recht überlege, bin ich außerdem ein reichlich widerwärtiger Mensch. Doch, Hand aufs Herz, wer ist das eigentlich nicht?

       Der Mann in der Andropause: Midlife-Crisis? What Midlife-Crisis?

      Wie schön war doch die Midlife-Crisis! Das war ein Spaß, da wurde noch Porzellan zerschlagen, als wäre das eigene Leben ein einziger Polterabend. Vortodesangst vermählte sich mit grundloser Aufbruchsstimmung, das Brautpaar war dumm und fickte gut. Aber immer noch besser Flausen im Kopf als Leere. So wie heute. Denn leider liegt die Midlife-Crisis inzwischen auch schon wieder eine Weile zurück. Nun herrscht die Andropause.

      Mach mal Andropause!, schreit der Körper, flüstert der Geist. Ruh dich ein bisschen aus, ein paar Jahrzehnte nur, bevor du stirbst. Fahr den Ehrgeiz runter, stell den Spiegel in den Keller und verschenke allen Kasperkram getrost an Jugendliche. Damit du optimal erholt in den Tod gehst und nicht schon mit einem Burn-out im Jenseits ankommst.

      Die Andropause ist als Begriff nicht unumstritten. Denn der Prozess verläuft weitaus unauffälliger als sein weibliches Gegenstück. Während die Wechseljahre der Frau praktisch eins zu eins die Havarie eines Atomkraftwerks (mit der Menopause als Kernschmelze) abbilden, bei der sich fatale Kettenreaktionen unweigerlich in einem Super-GAU entladen, präsentieren sich die Wechseljahre des Mannes eher als Deich, der langsam von Bisamratten untergraben wird. Stetig höhlt der Zahn der Zeit den Mann und seine Männlichkeit. Auf das Phänomen überhaupt aufmerksam wurde ich im Grunde erst durch die immer dringlicher werdende Frage: Warum werde ich eigentlich Jahr für Jahr unablässig scheißer?

      In der Tat gibt es Parallelen zwischen den Klimakterien der Geschlechter. Hormonell bedingte Stimmungsschwankungen; Rührseligkeit wechselt sich ab mit Wut, Verzagtheit und Lustlosigkeit. Überforderung. Angst. Entfremdung. Stillstand. Rückschritt. Dass Energie, Körperkraft und Libido mit schwinden, ist dabei fast Nebensache – die braucht man ja kaum mehr als dicker, kastrierter Kater, der sich vor dem Ofen zusammenrollt und nur noch schlafen will. Und fressen und vielleicht noch hinter den Ohren gekrault werden ab und zu. Dazu Fußball im Fernsehen. Der Frühherbst des Lebens, da sich Nase und Wangen prächtig rot zu färben beginnen, hat auch seine schönen Seiten.

      Der häufige Irrtum einer breiten Öffentlichkeit scheint mir in der Verwechslung der Andropause mit der bekannteren Midlife-Crisis zu liegen. Vor einiger Zeit hatte ich mal die Idee, Erstere könnte im Grundton gut einen Romanstoff unterfüttern, mit einer tragikomischen und dennoch oder sogar deshalb würdevollen Hauptfigur. Die hat natürlich null mit mir selbst zu tun, eh klar, Literatur eben; wer in der Kritik zwanghaft lyrisches Ich und Autor vermengt, ist voll das dumme Schwein. Doch mit wem ich auch darüber sprach – alle winkten nur ab: »Ach ja, Midlife-Crisis meinst du. Postvirile Witzfigur vergisst, in den Spiegel zu gucken, rennt weg, knickknack, und hat am Ende komplett verschissen. Alimente, Alleinsein, Alkohol, Ableben. Sorry, aber das ist so überstrapaziert. Das macht jeder. Läuft nicht.«

      »Es geht aber um die Andropause«, quengelte ich dann seltsam übererregt. »Das ist etwas völlig anderes.« Ich präzisierte den Gegensatz nochmals scharf im Exposé, versah ihn mit Belegen, Zitaten, Links und Ausrufezeichen und formatierte den ganzen Scheiß fett und kursiv. Das alles ergänzte ich noch um eine Liste übelsinniger Edelfedern im einschlägigen Alter. Weiterhin keine Chance.

      Dabei ist der Unterschied zwischen Andropause und Midlife-Crisis grundlegender Natur: Denn die eine befasst sich nur mit der Vergangenheit, die andere exzessiv mit der Gegenwart. Die eine hat sich von jeglicher Zukunft verabschiedet, die andere überschätzt ihre kolossal. Gemein haben beide eigentlich nur eines: Schön ist das alles nicht.

       Forever young

      Eines Freitagmorgens in der Yogastunde bemerkte ich die Veränderung. Wir sollten, mit den Armen über dem Kopf auf dem Rücken liegend, mit beiden Händen den jeweils anderen Ellbogen ergreifen. Für meine Mitschülerinnen war das kein Problem. Ich aber mühte mich vergeblich – die Arme mussten auf einmal zu kurz geworden sein, denn bis dahin war mir das immer gelungen. Ich sah, wie Carola, die Lehrerin, zu mir herüberblickte. Mit ernster Miene notierte sie etwas in ein neben ihrer Matte bereitliegendes Oktavheft.

      Während ich mich mit zunehmend rotem Gesicht abmühte, musste ich an meinen Schulreifetest denken:

      Mit fünf Jahren war ich dafür ungewöhnlich jung gewesen. Der Amtsarzt forderte mich auf, mit dem rechten Arm über den Kopf hinweg mein linkes Ohr zu berühren. Ich glaube, meine Mutter half noch etwas nach, indem sie heimlich drückte. Ich muss es wohl geschafft haben, denn der Doktor machte ein Häkchen. Ich war stolz auf meine Leistung. Bis zum Ende meiner Schullaufbahn blieb ich stets der Jüngste in der Klasse.

      Nach heutigen Erkenntnissen ist es natürlich schwer zu verstehen, warum man die Kinder nicht einfach fragte, was eins plus drei ist, wie das kleine Tier mit den Stacheln heißt oder ob sie überhaupt schon in die Schule wollten, aber früher war das eben so: Ärmchentest.

      Nach der Yogastunde kam Carola zu mir. Sie wedelte mit ihrem Notizbuch. »Ich muss das melden«, sagte sie. »So leid es mir tut, aber ich komme sonst in Teufels Küche. Dann machen die mir hier den Laden zu, und ich kann sehen, wo ich bleibe. Ich hab nun mal ein Kind zu versorgen.«

      Ich ahnte, dass ich tief in der Tinte steckte. Es war ja nicht so, dass sich die Zeichen nicht bereits zuvor gemehrt hätten. Denn schon seit Längerem hatte ich mich seltsam klein gefühlt. Ich kam auf dem Stuhl sitzend nicht mehr so richtig mit den Füßen auf den Boden und machte wieder öfter in die Hose. Das alles hatte ich auf mein Alter und dessen Begleiterscheinungen zurückgeführt. Gewissermaßen hatte ich sogar recht damit, allerdings anders, als ich gedacht hätte.

      Kaum eine Woche später bekam ich Post.

      »Lieber Uli-Schnulli. Uns wurde gemeldet, dass deine Ärmchen zu kurz sind. Du giltst somit als nicht eingeschult«, stand in dem Schreiben. Aus nachvollziehbaren Gründen hatte man sich in der Anrede gegen die Höflichkeitsform entschieden. »Des Weiteren werden dir der Hauptschulabschluss, die Mittlere Reife und das Abitur unehrenhaft aberkannt. Daher hättest du auch nicht an der FU Berlin studieren dürfen. Ein entsprechendes Betrugsverfahren wurde von der Berliner Staatsanwaltschaft eingeleitet. Liebe Grüße, Elisabeth Sack, Bezirksstadträtin für Bildung, Schule, Kultur und Sport für den Bezirk Neukölln in Berlin.«

      Ihr Titel war fast so lang wie der ganze Brief. Doch das war es nicht, was mich beschäftigte. Sondern mein Abitur. Mein schönes bayerisches Landabitur, bewerkstelligt einst an einem schönen bayerischen Landgymnasium, also alles vom Feinsten: Latein, Französisch, Anschreien, Strammstehen. Und nicht so ein preußisches Klippschulzertifikat, das den grenzdebilen Absolventen mithilfe gleitfähiger