Oh nee, Boomer!. Uli Hannemann

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Название Oh nee, Boomer!
Автор произведения Uli Hannemann
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783947106653



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entzogen. Und was noch schwerer wog: ausdrücklich unehrenhaft. Das hatte zur Folge, dass ich selbst nach einer Sperrfrist sowie erfolgreich bestandener MPU keinen neuen Anlauf auf den Erwerb des Abiturs unternehmen dürfte, sondern auf einer schwarzen Liste landete, die mir lebenslänglich den Besuch jeglicher wie auch immer gearteten Lehreinrichtung verwehrte. Symbolisch würde dieser Amtsbeschluss besiegelt, indem man mein Abiturzeugnis öffentlich an das Portal einer entweihten Kirche nagelte und von saarländischen Sonderschülern mit Exkrementen bewerfen ließ. Die sogenannte »Causa sine minima ratio perplex« von 1637 galt für Fälle wie meinen nach wie vor als Höchststrafe. Auch wenn ich eines Tages entgegen sämtlicher Prognosen mit dem Arm doch wieder das Ohr erreichen sollte, wäre die Sache für mich endgültig gelaufen. Das alles hatte ich der Yogalehrerin zu verdanken.

      Und noch vieles mehr. Bereits am nächsten Tag kamen Mitarbeiter des Ordnungsamts, die Personalausweis, Führerschein und Kreditkarte einzogen und im Hof mein Fahrrad »anpassten«, wie sie sich ausdrückten. Der Sattel wurde tiefer gestellt und die 26-Zoll-Reifen durch 14er ersetzt. Ich war nun offiziell nicht mehr erwachsen. Auch mein Mietvertrag war ungültig geworden. Dann nahmen sie mir mein Geld ab, um es »für deine Zukunft« auf ein Sparbuch einzuzahlen.

      »So, kleiner Mann«, sagte einer der Männer nach Beendigung der Arbeiten und strich mir unbeholfen über den Kopf. »Jetzt kannst du wieder zum Spielplatz fahren.«

      Dort versuchte ich gerade, die Rutsche hochzuklettern, als mich die nächste schlimme Überraschung ereilte. Die Polizei kam wegen des angekündigten Betrugsverfahrens. Ich war zwar nicht mehr strafmündig, doch natürlich ein Risiko für mich und die Gesellschaft. Ich wurde in einer Noteinrichtung untergebracht, bis das Jugendamt meine Eltern erreichte. Das Gespräch dürfte kurz gewesen sein. Die Aussicht, bis an ihr Lebensende auf ein vierundfünfzigjähriges Vorschulkind aufzupassen, ließ die über Achtzigjährigen nicht gerade vor Begeisterung im Kreis humpeln. Dazu hatte meine Mutter damals nicht den Schularzt überlistet. Aber sie hatten keine andere Wahl, denn sonst käme ich ins Heim. Das brächten sie nicht übers Herz. Immerhin wurde das Zugticket vom Amt bezahlt.

      Und wieder bin ich der Jüngste. Zu Hause wartet mein Kinderzimmer. Hoffentlich sind die Schlümpfe noch da. Mit brennenden Augen blicke ich aus dem Fenster des Schnellzugabteils, das für allein reisende Kinder reserviert ist. Nur eine Ordensschwester der Bahnhofsmission begleitet uns. Sie achtet darauf, dass wir rechtzeitig aufs Zugklo gehen und uns hinterher auch schön die Hände waschen. Draußen zieht die Endmoränenlandschaft vorüber, kahle Bäume, braune Wiesen und schmutzig orangefarbene Baumärkte. Am Rande einer Bundesstraße streiten sich mehrere Krähen mit einem Bussard um die Filetstücke eines überfahrenen Waschbären. Mama, ich komme.

       Der Spieler

      Am Fahrkartenautomat auf dem U-Bahn-Steig spricht mich ein freundlicher Herr an. Er habe da einen Fehlkauf getätigt. Und zeigt mir den unabgestempelten Abschnitt einer Viererkarte. Für zwei Euro fünfzig könnte ich den haben, da hätte ich auf den Regeltarif AB von zwei Euro achtzig je Fahrt dreißig Cent gespart. Deal?

      Blitzschnell rattert es in meinem Kopf. Tarife, Zahlenkolonnen, Multiplikations- und Vergleichsrechnungen. Ich bin ein lebender Computer. Und der – klingeling – spuckt nun aus: Eine Viererkarte im Automaten kostet neun Euro. Wenn ich aber viermal zwei Euro fünfzig rechne, bin ich schon bei zehn. Das ist kein gutes Geschäft für mich, und das sage ich ihm auch. Ich bin stolz auf dieses Herrschaftswissen.

      Stimmt, sagt er und holt einen weiteren Abschnitt der Viererkarte hervor. Er würde mir deshalb zwei Karten für zusammen fünf Euro geben. Na? Wäre das was?

      Es ist schwer zu sagen, wer von uns beiden der Gerissenere ist. Ich denke, wir spielen beide in einer derart hohen Liga, dass sie erst noch erfunden werden muss. Auf Normalsterbliche muss dieser Titanenkampf des arithmetischen Scharfsinns wirken, als ob Einstein und Newton einander mit Geistesblitzen bewürfen, nur noch viel extremer. Die Ahnung eines Donnergrollens liegt über der Szene, die Welt hält den Atem an.

      Ich rechne erneut. Fieberhaft, fehlerlos. Klingeling: Fünf Euro, verkünde ich nunmehr das Ergebnis, seien genau genommen nichts anderes als zweimal zwei Euro fünfzig, nur anders ausgedrückt. Sodass sich dadurch für mich nichts verändert hätte und ich lieber selbst eine Viererkarte für neun Euro aus dem Automaten zöge.

      Das stimmt, lenkt er – später wird sich zeigen: zum Schein – ein. Er will mir damit das gute Gefühl geben, mich in dem geistigen Ringen durchgesetzt zu haben. Doch damit bereitet er nur den psychologischen Boden für eine derart schlaue Finte, dass selbst ich darauf hereinfalle. Vier Euro dann für beide Tickets, sagt er. Damit hätte er Verlust und ich Gewinn gemacht.

      Hätte. Denn jetzt pokert er, doch die Statistik ist auf seiner Seite. Fast niemand hat vier Euro klein – nach einer Studie des Bundeswirtschaftsministeriums sieht sich im Schnitt noch nicht einmal jeder fünfte Bundesbürger in der Lage, eine Forderung von vier Euro passend zu begleichen.

      Und er kann – welch ein Wunder, doch genau darin liegt der entscheidende Trick! – natürlich popürnich nicht rausgeben. Er spekuliert also darauf, dass sein Gegenüber, im Verlauf der nun schon fast zwei Minuten dauernden Anbahnung vertrauensselig, unvorsichtig oder schlicht auch durch das lange und hoch konzentrierte Rechnen mürbe geworden, auf das Rückgeld verzichtet.

      Ja okay, sage ich, vier Euro für zwei nagelneue Fahrscheine, super, und beginne, in meiner Börse nach dem Geld zu kramen. Betont gleichgültig sieht er mir zu. Er braucht Nerven wie Stahlseile und tiefes Vertrauen in seine Methode. Denn jene faulen Kunden, die die vier Euro klein haben, geben sich ja nicht schon vorher zu erkennen. Andernfalls könnte er sie gezielt nicht ansprechen und auf diese Weise aussondern. Damit würde er seinen Profit sogar noch erhöhen. Doch besagte zwanzig Prozent sind nur der Schnitt auf lange Sicht.

      Das ist wie beim Roulette: Selbst wenn die Kugel zum fünften Mal auf Rot fällt, bleibt die Chance für Schwarz beim nächsten Spiel gleichbleibend fifty-fifty. Weil also auch mehrere Leute hintereinander jeweils vier Euro passend haben könnten, muss er für solche Quertreiber stets ein paar Euros zurückhalten, um zur Not in finanzielle Vorleistung zu gehen, bis er endlich die verdiente Rendite abschöpfen kann. Erst ab drei Fahrten, auf die kein Käufer rausgeben kann, macht er Gewinn. Um die Effizienz zu erhöhen, koppelt er sein Lockangebot auch zwingend an die zwei Karten. Mit einer einzelnen würde es ohnehin nicht funktionieren, denn über ein Zweieurostück verfügen dann doch wieder über siebzig Prozent der Bundesbürger permanent.

      Ich finde natürlich nur einen Fünfer, er kann, leiderleiderleider, nicht rausgeben, und ich gebe ihm halt den Schein, denn durch die lange Interaktion ist er mir mittlerweile fast so etwas wie ein Freund geworden in seiner nicht uncharmant ausgeführten Rolle zwischen Schnorrer und Betrüger.

       Saufen für Luchsbabys

      Ich liebe Kinowerbung. Sie wappnet mein Gemüt mit Leichtigkeit und Liebe, damit ich die nachfolgende Arthouse-Mühsal leichter ertrage. Die bunten Botschaften sind die Sauna vor dem Eisbecken und die Betäubungsspritze vor der Wurzelbehandlung. Wohltuend wirken überdies die häufigsten Motive: Eiscreme, Essen und leckere Getränke, die schöne Menschen in scheinbar unberührter Landschaft zu genießen pflegen.

      Sehr naturverbunden gibt sich auch der Werbespot der Brauerei Krombacher. Über die komplette Dauer von dreißig Sekunden spielt er im Wald. Also da, wo auch das Bier am besten schmeckt.

      »Jede dritte Tierart in Deutschland ist gefährdet …«, mahnt ein Sprecher zu den Bildern einer kleinen Eule, die putzig aus einem Baumloch lugt. Kleine Eulen müssen super PR-Berater haben – sie sind momentan das große Ding in Sachen niedlicher Ausstrahlung. In den sozialen Netzwerken, in Kalendern an der Supermarktkasse, in der Bierwerbung verdrängen sie die Katzenkinder. Dabei galten sie bis zu ihrem Image-Relaunch noch als hässliche Unglücksvögel, die man kurzerhand ans Scheunentor nagelte, um den Gottseibeiuns zu bannen. Nun droht den kleinen Katzen das gleiche Schicksal. Lange Zeit haben die sich ihrer Position vollkommen sicher gewähnt und es deswegen versäumt, weiter an ihrer Marke zu arbeiten.