Название | Genese des Zahl- und Zeitbegriffs aus der Erinnerung |
---|---|
Автор произведения | Jörg Witte |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783835345690 |
→ ein Existenzurteil und
→ eine Erinnerung an den vorangegangenen Merkschritt, insofern er stattgefunden hat.
In einem Merkschritt wird gegebenenfalls eine Erinnerung an den vorangegangenen Merkschritt eingeprägt, in dem selbst wiederum eine Erinnerung an einen Merkschritt eingeprägt worden sein kann. Eine solche Erinnerung an eine Erinnerung nennen wir rekursive Erinnerung. Dieser Begriff ist zentral für das vorliegende Buch. Die Erinnerung eines Merkschrittes kann eine Erinnerung im Sinne von Wissen sein, oder eine im Sinne eines persönlichen Sich-Erinnerns. Nehmen wir einmal an, dass die Erinnerung eines Merkschrittes ein Wissen ist. Was genau wissen wir dann? Wir wissen, dass es einen Gegenstand gibt, und gegebenenfalls, dass es noch einen weiteren Gegenstand gibt, und dass es vielleicht noch einen zusätzlichen Gegenstand gibt usw. Das Wissen eines Merkschritts liefert uns eine Menge von Existenzurteilen – wir kennen dann die Anzahl der Gegenstände. Wenn wir z. B. wissen, dass es einen Gegenstand gibt, und dass es noch einen Gegenstand gibt, und dass es noch einen weiteren Gegenstand gibt, dann wissen wir, dass es drei Gegenstände gibt. Die Aussage »Es gibt drei Gegenstände« und die Aussage »Es gibt einen Gegenstand, und es gibt noch einen Gegenstand, und es gibt noch einen weiteren Gegenstand« sind äquivalent. Wenn wir uns nun in einem Merkschritt persönlich an den unmittelbar vorangegangenen Merkschritt erinnern, dann erfahren wir, dass der erinnerte Merkschritt bereits vergangen ist. Er wurde also vor dem aktuellen Merkschritt vollzogen. Dieser folgt dem erinnerten Merkschritt nach. Wir erfahren eine Nachfolgerbeziehung. Durch die Nachfolgerbeziehung können Merkschritte linear angeordnet werden. Die Menge aller ausgeführten und – zumindest theoretisch – noch ausführbaren Merkschritte haben die Struktur von Ordnungszahlen. Die Genese des Zahlbegriffs verläuft mit einer zunehmenden Verinnerlichung. Ausgangspunkt sind die äußeren Merkzeichen mit ihrem Merkmal der Existenz. In der zweiten Phase der Genese ist eine Menge von Existenzurteilen, die in das Gedächtnis eingeprägt worden sind – also verinnerlicht worden sind, eine Anzahl. In der dritten Phase werden nicht nur Existenzurteile in das Gedächtnis eingeprägt, sondern auch der Vorgang des Urteilens und Erinnerns. Dadurch, dass ich mich persönlich rekursiv daran erinnere, dass ich die vorangegangenen Merkschritte selbst ausgeführt habe, erhalte ich nicht nur eine Menge von Existenzurteilen, sondern auch die Reihenfolge, in der ich geurteilt habe.
Die Untersuchung wirft eine erkenntnistheoretische Frage auf. Mathematische Begriffe haben Merkmale, die wir durch unsere eigenen Tätigkeiten erfahren können – wie Eigenbewegungen oder Einprägen und Erinnern. Wie können wir mit diesen Begriffen Sachverhalte begreifen, die unabhängig vom Menschen existieren, wie z. B. die Naturgesetze der Physik? Sind die Tätigkeiten solche, mit denen wir Erfahrungen gewinnen können, und kann deswegen die Mathematik in den Erfahrungswissenschaften angewendet werden? Werden solche Tätigkeiten von einem Experimentator in einem Experiment ausgeführt? Diesen Fragen widme ich mich im vierten Kapitel.
Wir fragen nach der Bedeutung der Mathematik, insbesondere des Zahlbegriffs in unserer modernen Lebenswelt. Die Gegenstände der Mathematik scheinen zunächst ausgedacht. Ihre Eigenschaften werden aus Axiomen logisch hergeleitet, die wiederum frei gesetzt sind. Eine Bedeutung der Mathematik für die Erkenntnis und den erkennenden Menschen ist nicht ohne Weiteres sichtbar. Eine historische Betrachtung zeigt aber, dass die Begriffsbildung, insbesondere die mit Axiomen, erst am Schluss einer langen Entwicklung stattfand. Menschen zählten, rechneten und entdeckten Rechenregeln, bevor ein Zahlbegriff gebildet wurde.
Im Folgenden wird dargelegt, dass der Ursprung der Zahlen in dem Bedürfnis oder der Notwendigkeit lag, sich eine Mehrzahl von Gegenständen in das Gedächtnis, oder auch ein externes Medium, einzuprägen. Entsprechend lag der Ursprung des Zählens und Rechnens in den Gedächtnisoperationen Einprägen und Erinnern. Z. B. kann man sich unter der Addition, dem Dazu-zählen, ein fortlaufendes Einprägen in das Gedächtnis vorstellen, genauer: ein fortlaufendes Ausführen von Merkschritten. Wir wollen uns einer Antwort durch eine historische Untersuchung der Entwicklung von Erinnerungskulturen nähern, wobei wir eine Erinnerungskultur mit ihrem Zahl- und Zeitbegriff bzw. mit ihren Erscheinungsformen von Zahl und Zeit verschränken. Merkmale des jeweils kulturprägenden Erinnerns treten in ihrem Umgang mit Zeit und Zahl in Erscheinung. Sie werden in der griechischen Antike zum Begriff der zyklischen Zeit und dem Anzahlbegriff sowie in der Neuzeit zum Begriff der linearen Zeit und dem Begriff der Ordnungszahlen zusammengefasst. Wir werden eine Entwicklungslogik des Gedächtnisses entdecken, d. h., dass gewisse Phasen der Gedächtnisentwicklung notwendig andere Phasen voraussetzen, auf ihnen aufbauen. Mit der Entwicklung des Gedächtnisses geht die Genese des Zahl- und Zeitbegriffs einher. Die Entwicklungslogik betrifft nicht nur die historische – die hier dargestellt werden wird –, sondern auch die individuelle Entwicklung. Daher kann die Mathematikdidaktik durch diese Untersuchung neue Impulse erhalten. Darüber hinaus verspricht sie neue Erkenntnisse für die Wissenschafts- und Kulturgeschichte, die Erkenntnistheorie und das damit zusammenhängende Selbstverständnis. Studierende eines MINT-Faches lernen, mathematische Sachverhalte in anschaulich nachvollziehbare Zusammenhänge einzuordnen. Sie gewinnen dadurch an Verständnis, mathematischer Lernkompetenz und Motivation.
Der Aufbau des Buches
Der Aufbau des Buches orientiert sich an der These, dass dem Zahl- und Zeitbegriff vorbegriffliche Konzepte zugrunde liegen, die ihnen historisch vorausgegangen sind.
Zeit und Zahl in der Erinnerungskultur der Neuzeit
Wir beginnen mit der Kultur, die uns vertraut ist, nämlich unserer eigenen. Der Mensch der Neuzeit verdankt sein Selbst- und Gegenstandsbewusstsein sowie seine zeitliche und räumliche Orientierung Erfahrungen mit dem episodischen Erinnern. Dieses prägt maßgeblich Politik, Wirtschaft und Kultur. Der Mensch der Neuzeit erfährt eine linear zeitliche Ordnung durch episodisches Erinnern, aber auch die Struktur der Ordinalzahlen und sogar den punktförmigen Gegenwartsmoment. All diese Erfahrungen gehen in den modernen Zahl- und Zeitbegriff ein und sind eine notwendige Voraussetzung der Naturwissenschaft.
Merken und Erinnern, Zählen und Rechnen
Dieses Kapitel widmet sich den Anfängen in der Entwicklung des Zahl- und Zeitbegriffs. In archaischen Kulturen verwendeten die Menschen Merkhilfen wie gekerbte Knochen oder Hölzer, Knotenschnüre, Haufen aus Kieselsteinen oder Muschelschalen. Mit ihnen sind archaische Rechnungen möglich. Ein Mensch, der sich eine bestimmte Menge an Gegenständen nicht in ein äußeres Medium einprägen will, sondern in sein Gedächtnis, muss das schrittweise tun. Zahlzeichen oder Zahlwörter können das Gedächtnis entlasten.
Phänomene des Erinnerns und Wahrnehmens
Nachdem in den ersten beiden Kapiteln die Bedeutung der Phänomene des Erinnerns für vorbegriffliche Zahl- und Zeitkonzepte im Vordergrund stand, untersuche ich anschließend hier nun die Phänomene eingehender, u.a. ihren Zusammenhang mit dem Wahrnehmen. So lässt sich das kulturprägende Erinnern einer Epoche identifizieren, aber auch ihre vorbegrifflichen Zahl- und Zeitkonzepte.
Zahl- und Zeitbegriffe
Was sind Begriffe? Wofür verwenden wir sie? Was haben sie mit logischem Denken zu tun? Wir lernen einen Begriff als eine Zusammenfassung von Merkmalen kennen, über die wir etwas aussagen, aus denen wir logische Schlüsse ziehen können. Da wir die Merkmale eines Zahl- und Zeitbegriffs nur nacheinander durch entsprechende vorbegriffliche Konzepte erfahren können, wird zur Begriffsbildung ein gewisses Erinnerungsvermögen benötigt.
Zeit