Название | Genese des Zahl- und Zeitbegriffs aus der Erinnerung |
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Автор произведения | Jörg Witte |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783835345690 |
Während im Mittelalter die Menschen vorwiegend ortsgebunden lebten und sogar weitgereiste Ritter, Adlige oder Kreuzfahrer kaum Vorstellungen über die zurückgelegten Distanzen entwickelten,[2] wurden die Menschen während der Renaissance mobil. Weite Handelsreisen auf Land und zur See wurden unternommen, neue Kontinente und Seewege entdeckt. Bereits ab dem späten Mittealter gingen die jungen Gesellen nach ihrer Lehrzeit in einem städtischen Handwerksbetrieb auf Wanderschaft und entwickelten so im Gegensatz zur ortsgebundenen Landbevölkerung eine gewisse Weltläufigkeit. Die Mobilität brachte es mit sich, dass die Euklidische Geometrie mit ihren Merkmalen der Bewegung Anwendung fand – z. B. in Kartographie und Navigation. Galilei begründete die Physik mit der Kinematik, der Lehre der Bewegungen. Er experimentierte mit der schiefen Ebene und Pendeln und entdeckte so mathematische Beziehungen zwischen Bewegungsvorgängen. Nach Newton (1643–1727) bestand die Aufgabe der Physik darin, »[…] aus den Erscheinungen der Bewegung die Kräfte der Natur zu erklären, und hierauf durch diese Kräfte die übrigen Erscheinungen zu erklären« (Newton, 1872). Bis heute hängen die physikalischen Größen wie Weg, Zeit, Masse oder elektrische Ladung direkt oder indirekt mit Bewegungsvorgängen zusammen. Jede Messung einer physikalischen Größe beruht auf Bewegungen – es wird eine Ortsveränderung gemessen.
Eine Bewegung hat neben räumlichen auch zeitliche Eigenschaften. Eine räumliche Eigenschaft kann durch die Geometrie erfasst werden, eine zeitliche durch die Arithmetik. So kann man durch Ordinalzahlen eine zeitliche Reihenfolge ausdrücken: erstes Ereignis, zweites Ereignis, drittes Ereignis usw. Der Schwerpunkt der antiken griechischen Mathematik lag auf der Geometrie. Die zeitlichen Eigenschaften einer Bewegung spielten nur eine untergeordnete Rolle – ganz anders als in der Neuzeit. Der Grund dafür ist eine andere Zeitvorstellung. Zeitliche Eigenschaften von Bewegungen wurden in der griechischen Antike in dem Lauf der sieben damals bekannten Wandelsterne Mond, Sonne, Merkur, Venus, Mars, Jupiter, Saturn erkannt. Die griechischen Astronomen machten in ihnen periodische Wiederholungen aus. Ein Wandelstern kehrt stets zu jedem Ort auf seiner Bahn zurück. Seine Bahn besitzt daher keine Vergänglichkeit. Platon glaubte gar, dass sich auch die Konstellationen der sieben Wandelsterne sowie der Fixsterne wiederholen. Ihm zufolge waren die astronomischen Konstellationen dasjenige, was man in der griechischen Antike Zeit nannte. Platon drückte damit, wie vor ihm bereits die Pythagoreer, die zyklischen Zeitvorstellungen der griechischen Antike aus (Platon, 2009). Ganz anders seit der Renaissance: Nun setzten sich lineare Zeitvorstellungen durch. Demzufolge ist ein Ereignis, das vergangen ist, ein für alle Mal vergangen. Es kehrt nicht mehr wieder – und das ist ein fundamentaler Unterschied zur zyklischen Zeit.
Vergänglichkeit erfahren wir durch persönliche Erinnerungen. Wenn ich mich an ein Ereignis erinnere, das ich erlebte, dann ist für mich das Ereignis vergangen. Es bleibt mir nur noch die Erinnerung. Den neuzeitlichen linearen Zeitvorstellungen liegt eine Erinnerungskultur zugrunde: Sie ist maßgeblich von Erinnerungen an persönlich Erlebtes geprägt. Dabei erfährt das Individuum, dass es während des Wechsels der Erscheinungen stets dasselbe bleibt. Diese Erfahrungen brachten das neuzeitliche Selbstbewusstsein hervor. Doch auch zyklische Zeitvorstellungen hatten sich aus Erinnerungen heraus entwickelt. Um zu erkennen, dass gewisse Ereignisse immer wiederkehren, müssen sie als solche wiedererkannt werden. Dafür muss ich mir Merkmale der Ereignisse in das Gedächtnis eingeprägt, gemerkt haben. Ein Wiedererkennen der Merkmale eines Ereignisses ist nicht notwendigerweise eine Erinnerung an persönlich Erlebtes, sondern ein Wissen über ein Ereignis, es setzt zumindest ein solches Wissen voraus. Es erscheint das gleiche Ereignis immer wieder, wenn es jedes Mal die gleichen Merkmale hat. An den Erscheinungen eines Ereignisses wird immer wieder der gleiche Begriff mit seinen Merkmalen, immer wieder, platonisch gesagt, die gleiche Idee erkannt. So erscheint alle vier Wochen der gleiche Vollmond, an jeder Erscheinung eines Vollmondes kann ich die gleichen Merkmale erkennen, denn die Vollmonde unterscheiden sich nicht. Wenn ich mich jedoch persönlich daran erinnere, dass ich bereits einen Vollmond erlebt habe, während ich einen Vollmond sehe, dann habe ich nacheinander zwei Erscheinungen eines Vollmondes erfahren. Während der moderne Mensch in der linearen Zeit erfährt, dass er im Wechsel der Erscheinungen stets derselbe bleibt, erfährt ein Mensch mit einer zyklischen Zeitvorstellung, dass wiederkehrende Ereignisse, die ihm erscheinen, stets dieselben sind. Eine Vorstufe der bewussten Erinnerung ist das Vertrautsein mit gewissen Merkmalen. Das Vertrautsein ist eine Voraussetzung für sensomotorische Fertigkeiten, etwa beim Fahrradfahren mit Merkmalen der Gleichgewichtslage und des Fortbewegens, ohne sich bewusst an sie zu erinnern. Stattdessen ist die Reaktion eine routinierte und unbewusste. Eine bewusste Erinnerung würde sogar zu einer Beeinträchtigung der sensomotorischen Fertigkeiten führen. Eine Kultur des Vertrautseins finden wir in vor- und frühgeschichtlichen Kulturen. Sie führt zu einer Handlungszeit, d. h. die Zeit erscheint in der Art und Weise, wie Handlungen strukturiert sind. Die Menschen dieser Kulturen waren mit den Merkmalen zyklisch wiederkehrender Ereignisse der Natur vertraut und reagierten auf sie mit landwirtschaftlichen und rituellen Verrichtungen. Ihre Handlungen wurden durch periodisch wiederkehrende Ereignisse der Natur strukturiert.
Wir haben bis hier drei Gedächtnisoperationen unterschieden: persönliches Sich-Erinnern, Wissen und Vertrautsein. Ihnen entsprechen die drei Zeiten: lineare Zeit, zyklische Zeit und Handlungszeit.
Parallel zur Gedächtnis- und Zeitentwicklung verlief die Genese des Zahlbegriffs. Archaische Darstellungen einer Anzahl sind gekerbte Knochen oder Hölzer, Knotenschnüre, Mengen von Kieselsteinen oder Muschelschalen. Sie sind vermutlich Merkzeichen, ähnlich den Strichen auf einer Strichliste. Strichlisten und Ähnliches können auch ohne Zahlkenntnis verwendet werden, sie dienen der Unterstützung des Gedächtnisses. Die Existenz eines Merkzeichens verweist auf die Existenz eines der gemerkten Gegenstände. Ein Mensch, der mit dem Merkmal der Existenz vertraut ist, kann ein Merkzeichen verwenden. Wie kann sich ein Mensch mit dem Merkmal der Existenz vertraut machen? An dieser Stelle soll ein kurzer Hinweis genügen, das Thema wird im ersten Kapitel noch vertieft: Wenn ich mich an einem physischen Gegenstand stoße, dann spüre ich seine Existenz – mehr noch: ich spüre auch meine eigene Existenz. Ich merke, dass es außer mir bzw. meinem Körper noch einen anderen Gegenstand gibt. Ich erlebe eine Mehrzahl. Manchmal kann man Menschen dabei beobachten, wie sie beim Zählen mit dem Zeigefinger auf den gezählten Gegenstand zeigen – als ob sie ihn leicht anstoßen wollten, um sich seiner Existenz zu vergewissern. Ein Merkzeichen hat mit einem gemerkten Gegenstand das Merkmal der Existenz gemeinsam. Nehmen wir einmal an, dass ein Mensch, der nicht zählen kann, sich die Existenzen mehrerer Gegenstände einprägen will. Wenn er kein äußeres Medium zur Verfügung hat, in das er Merkzeichen einprägen kann, dann muss er sich die