Название | Genese des Zahl- und Zeitbegriffs aus der Erinnerung |
---|---|
Автор произведения | Jörg Witte |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783835345690 |
Vorwort
Mittlerweile blicke ich auf jahrzehntelange Erfahrungen in der Hochschullehre der Mathematik zurück. Immer wieder erlebe ich, dass die abstrakten, mathematischen Begriffe vielen Studierenden erhebliche Schwierigkeiten bereiten. Mitunter sehen sie als Alternative nur das sture Einpauken von Rechenregeln, was jedoch nicht nur an einer Hochschule unbefriedigend ist. Die modernen mathematischen Begriffe sind historisch erst sehr spät, nach einer langen Entwicklungsgeschichte, entstanden. Die Babylonier kannten noch keinen Zahlbegriff, entwickelten aber bereits elaborierte Rechentechniken. Wie also ist der Zahlbegriff historisch entstanden?
Ein zweiter Entwicklungsstrang zu diesem Buch entstand, als ich mich als junger Mann intensiv mit einer These des amerikanischen Linguisten Benjamin Lee Whorf auseinandersetzte. Er war von Haus aus Chemiker und arbeitete in einer Versicherung, wo er die Ursache von Bränden ermittelte. Eines Tages brach ein Feuer aus, als Arbeiter während der Reinigung eines leeren Tanks rauchten. Sie hatten sich unter dem Begriff »leerer Tank« die Abwesenheit von entzündlichen Stoffen vorgestellt. Whorf begann sich neben seiner Versicherungstätigkeit mit dem Einfluss der Sprache auf das Denken auseinanderzusetzen und erforschte zu diesem Zweck die Sprache der Hopi-Indianer. Sie unterscheidet sich erheblich vom Englischen sowie von allen anderen indogermanischen Sprachen. Ihre Grammatik kennt keine Zeiten wie Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft. Whorf schloss daraus, dass ein Tag nicht vergehe, der folgende Tag entsprechend kein neuer sei, sondern derselbe Tag. Aus gewisser Sicht schien mir die Schlussfolgerung plausibel, schließlich gibt es keine wahrnehmbare Eigenschaft eines Tages, die auf ein Aufeinanderfolgen der Tage, eine lineare Reihenfolge hinweisen würde. Ich fragte mich, wie wir Tage nacheinander in einer linearen, zeitlichen Reihenfolge anordnen. Die Schlussfolgerung Whorfs wurde kontrovers diskutiert und gilt mittlerweile als zweifelhaft; die Frage jedoch, wie wir die Tage unterscheiden und linear in einer Reihenfolge anordnen, beschäftigte mich weiterhin.
Die beiden Fragen hängen zusammen. Durch einen bestimmten Zahlbegriff kann ich eine lineare Reihenfolge von Tagen (oder Monaten, Jahren) denken und durch Ordinalzahlen ausdrücken: erster Tag, zweiter Tag, dritter Tag usw. … Ich kann dann eine Zeitbestimmung oder zeitliche Beziehungen verstehen. Wie erfahre ich aber eine lineare Reihenfolge? An den gestrigen Tag kann ich mich wahrscheinlich erinnern. So erfahre ich, dass der heutige Tag dem gestrigen Tag nachfolgt. Wie erfahre ich aber, dass der gestrige Tag dem vorgestrigen Tag nachfolgte? Wenn ich mich gestern an vorgestern erinnerte, dann erfahre ich das heute nur, wenn ich mich heute an die gestrige Erinnerung erinnere. Enthält der Gegenstand einer Erinnerung wiederum eine Erinnerung, dann nennen wir sie eine rekursive Erinnerung. Eine zeitliche Reihenfolge kann ich durch rekursives Erinnern erfahren, aber auch eine Quantität z. B. von Tagen.
Von den rekursiven Erinnerungen nahm historisch die Genese des Zahl- und Zeitbegriffs ihren Ausgang. Durch rekursives Erinnern kann ich dasjenige konkret erfahren, was ich mit einem abstrakten Zahlbegriff denke. Damit eröffnen sich neue Perspektiven auf die Kulturgeschichte des Zahl- und Zeitbegriffs, die Erkenntnistheorie sowie das Lernen und Lehren der Mathematik.
Göttingen, den 19.10.2019
Danksagung: Dem Wallstein Verlag danke ich für die Aufnahme des Buches in sein Programm. Frau Ursula Kömen und andere Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des Verlages haben mit viel Engagement und Hingabe das Manuskript zur Druckreife gebracht.
Einleitung
In unserer gegenwärtigen Kultur spielt die Mathematik eine dominante und prägende Rolle. Seit der kopernikanischen Wende ist keine Naturwissenschaft ohne Mathematik denkbar. Nach Kant ist in jeder Naturlehre nur so viel Wissenschaft enthalten, wie in ihr Mathematik enthalten ist (Kant I., 1786). Ihr sind die atemberaubenden Fortschritte in Naturwissenschaft und Technik maßgeblich geschuldet. Auch in den Sozial- und Humanwissenschaften wird sie zunehmend angewendet. Ein überzeugendes Merkmal für den Wahrheitsgehalt einer wissenschaftlichen Theorie oder zumindest für ihre Zuverlässigkeit ist, dass auf ihrer Grundlage zukünftige Ereignisse vorausberechnet werden können – z. B. wenn Astronomen Ereignisse wie eine Sonnenfinsternis voraussagen. Die Vorhersagbarkeit ist eine notwendige Voraussetzung, Naturgesetze technisch zu nutzen. Vorhersagen lässt sich nur eine zeitliche Änderung, wie sie durch eine Bewegung verursacht wird. Ein Ingenieur veranlasst, steuert und kontrolliert mit seinen Maschinen Bewegungsvorgänge, ein Wissenschaftler veranlasst sie mit einer Experimentiervorrichtung. Der Wissenschaftler will Zusammenhänge der Bewegungen erkennen. Eine solche Erkenntnis nennt er ein Naturgesetz. Ein Naturgesetz ist eine Aussage über eine mathematische Beziehung. Eigenschaften einer Bewegung wie Zeit, zurückgelegter Weg, Geschwindigkeit, Beschleunigung, Kraft etc. stehen in einem Zusammenhang, den der Wissenschaftler durch Experimente erkennen will. Ein Ingenieur berechnet auf Grundlage der Naturgesetze Bewegungen einer Maschine voraus, wenn er sie konstruiert. Nicht nur sichtbare Bewegungen wie die einer Antriebsmaschine sind Bewegungen einer Maschine, sondern auch unsichtbare, wie sie beispielsweise bei der Übertragung eines Funksignals auftreten, oder wie die Bewegungen der Elektronen im Prozessor oder Speicher eines Computers. Letztere können auch indirekt durch das Programm eines Programmierers gesteuert werden. Auf der Basis wissenschaftlicher Theorien können Wahrscheinlichkeiten berechnet werden, mit denen ein zukünftiges Ereignis eintreten wird. Zu den Prognosen mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit gehören z. B. Wettervorhersagen. Sozialwissenschaftler prognostizieren ebenfalls mit den Methoden der Statistik Voraussagen über gesellschaftliche Entwicklungen, die mit bestimmten Wahrscheinlichkeiten eintreten werden. Die beeindruckenden Erfolge der Neurowissenschaften, und mit ihnen die darin angewendete Mathematik, beeinflussen erheblich unser Selbstverständnis, insbesondere unsere Vorstellungen über Bewusstsein, Selbstbewusstsein, Wahrnehmen, Denken, Willensfreiheit und Verantwortlichkeit.
Warum ist die Mathematik eine Grundlage einer wissenschaftlichen, zumindest einer naturwissenschaftlichen Erkenntnis und der Technik? Woher kommt ihre enorme Bedeutung für unsere wirtschaftlichen und technischen Lebensumstände, unser naturwissenschaftliches Weltbild und unser Selbstverständnis? Wie hat sich ihre Bedeutung historisch entwickelt? Was offenbart die historische Entwicklung über die Menschen, die Mathematik betreiben oder anwenden? Was verrät sie über uns selbst und über die Gesellschaft, in der wir leben? Auf den folgenden Seiten versuche ich, auf diese Fragen eine Antwort zu finden.
Diese Fragen verweisen auf eine kulturelle Diskrepanz, denn die Haltung sehr vieler Zeitgenossen zur Mathematik steht in einem deutlichen Kontrast zu deren zentraler Position in unserem naturwissenschaftlichen Weltbild. Die Mathematik erscheint vielen lebensfern. Einige prahlen geradezu damit, nie etwas von der Mathematik verstanden zu haben. Die Beschäftigung damit sei sinnlos. Zur Bestätigung stellen sie gerne zur Schau, dass ein Mangel mathematischer Kompetenzen zu keinerlei Einschränkung ihrer Lebensqualität geführt habe. Sogar Studierende einer Natur- oder Ingenieurwissenschaft verstehen häufig nicht, warum die Mathematik eine Grundlage ihres Studiums ist, mit dramatischen Folgen bis zum Studienabbruch.
Die Diskrepanz zwischen der Bedeutung der Mathematik und der ihr entgegengebrachten ablehnenden Haltung spiegelt eine Ungewissheit der Wissenschaftler wider. Auch sie können im Allgemeinen nicht begründen, warum die Mathematik in der modernen Welt eine derart zentrale Rolle spielt.
Auch Einstein fragte sich: »Wie ist es möglich, dass die Mathematik, die doch ein von aller Erfahrung unabhängiges