Название | Genese des Zahl- und Zeitbegriffs aus der Erinnerung |
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Автор произведения | Jörg Witte |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783835345690 |
Während sich Einstein also darüber wunderte, dass die Mathematik auf die Gegenstände der Naturwissenschaft so vortrefflich passt, scheint dies für Galilei nicht rätselhaft zu sein. Folgerichtig fallen für ihn Gegenstände oder Ereignisse der Natur unter gewisse mathematische Begriffe. Galilei lebte über 300 Jahre vor Einstein, zu einer Zeit, als es noch keine moderne Mathematik gab. In der Renaissance verfügte man über die antike griechische Geometrie, wie sie von Euklid (ca. 285–212 v. Chr.) überliefert worden war. Sie fand Anwendung in den verschiedenen Bereichen des gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Lebens, wie Navigation, Kartographie, Astronomie oder auch in der Malerei. Galilei verwendete die Euklidische Geometrie für die Kinematik, die Lehre der Bewegungen, und begründete so die moderne Physik. Die beiden Zitate legen die Vermutung nahe, dass sich die Begriffsbildung der modernen Mathematik erheblich von der der Euklidischen Geometrie unterscheidet. Dazu passt, dass man in Überlieferungen aus der Renaissance vergeblich nach einer ablehnenden Haltung der Mathematik gegenüber sucht. Künstler studierten mathematische Abhandlungen und wandten die Strahlensätze auf ihre Perspektivkonstruktionen an. Durch sie wird auch der eigene Standpunkt dargestellt. Auch Kartographen und Seefahrer nutzten die Strahlensätze, ebenfalls in der Absicht, den eigenen Standpunkt zu bestimmen. Das Wissen um den eigenen Standpunkt ist ein Ausdruck des Selbstbewusstseins der Renaissance. Den eigenen Standpunkt habe ich selbst eingenommen – im Gegensatz zu den physischen Gegenständen, die ich dort vorfinde. Im Kontrast zu den Gegenständen kann ich mich auch dazu entschließen, meinen Standpunkt wieder zu verlassen. Die Menschen der Renaissance stellten sich mit der Euklidischen Geometrie zu der Welt in Beziehung. Die Mathematik wurde keinesfalls als weltabgewandt empfunden – ganz im Gegenteil! Mittels der Mathematik wandte man sich selbstbewusst der Welt zu.
Welche Entwicklung nun nahm die Mathematik in der Neuzeit, bis sie einerseits erheblich zu wissenschaftlichem Erkenntnisgewinn und technischem Fortschritt beitrug, doch andererseits den Zeitgenossen immer fremder wurde und lebens- und wirklichkeitsfremd erschien? Die Begriffe der modernen Mathematik sind deutlich abstrakter, weniger anschaulich, als sie es in der griechischen Antike waren. Der moderne Mathematiker definiert mit seinen Begriffen Strukturen. Er versteht unter einer Struktur eine Menge von Objekten, die in gewissen Beziehungen zueinander stehen – eine Struktur bilden. Z. B. ist die Menge der natürlichen Zahlen eine Menge von Objekten, die nicht näher bestimmt werden. Näher bestimmt werden nicht die Objekte, sondern die Beziehungen zwischen den Objekten. Es wird beispielsweise gefordert, dass jedes Objekt der Menge der natürlichen Zahlen einen Nachfolger in der Menge hat, und dass es in der Menge der natürlichen Zahlen genau ein Objekt gibt, das kein Nachfolger ist. Dieses nennen wir ›Eins‹. Durch diese Nachfolgerbeziehung werden die Beziehungen zwischen den natürlichen Zahlen charakterisiert. Jede natürliche Zahl kann durch Nachfolgerbeziehungen eindeutig bestimmt werden. So bestimmen wir etwa beim Zählen Schritt für Schritt den Nachfolger der zuletzt gezählten Zahl. Dadurch ist jede gezählte Zahl bereits eindeutig bestimmt. Zusätzliche Merkmale jeder einzelnen natürlichen Zahl braucht es nicht. Die mathematischen Begriffe bestimmen die Beziehungen zwischen den Objekten einer Struktur, von weiteren Eigenschaften der Objekte wird abgesehen, sie bleiben unbestimmt. Sie sind dann inhaltsleer, und wir können uns unter ihnen nichts vorstellen. Daher rührt die Abstraktheit mathematischer Begriffe. Ein Bezug zur eigenen Erfahrung kann nicht mehr oder nur noch schwer erkannt werden, die Objekte erscheinen als ein von der Erfahrung unabhängiges Produkt menschlichen Denkens. Nach Dedekind (1831–1916) sind Zahlen eine freie Schöpfung des menschlichen Geistes.
Die moderne Mathematik wird als eine Wissenschaft der abstrakten Strukturen charakterisiert. Eine abstrakte Struktur wird definiert – sie ist nicht empirisch vorgegeben, sondern eine Schöpfung des menschlichen Geistes. Die Merkmale einer Struktur, wie z. B. Rechenregeln, werden auf möglichst wenige Aussagen, die Axiome, logisch zurückgeführt. Ein beliebiges Merkmal einer Struktur soll dann logisch aus den frei gesetzten Axiomen hergeleitet werden können. Eine abstrakte Struktur erscheint jedoch ausgedacht – ähnlich den Regeln des Schachspiels. Wir werden der Mathematik aber nicht gerecht, wenn wir sie als ein bestenfalls amüsantes, aber letztlich nutzloses Spiel abtun. Schließlich ist sie eine Grundlage der Naturwissenschaft und des technischen Fortschrittes.
Mit dem vorliegenden Buch möchte ich Aufschluss über die Bedeutung der Mathematik geben. Durch eine historische Betrachtung – gleichsam archäologisch – werde ich unter Sedimenten Verborgenes freilegen. Die Bildung eines mathematischen Begriffs findet am Ende einer häufig sehr langen Entwicklung statt. Dafür gibt es viele Beispiele, etwa die Differential- und Integralrechnung, die von Leibniz und Newton bereits im 17. Jahrhundert entdeckt wurde. Um sie begrifflich zu erfassen, brauchte es den Grenzwertbegriff, der aber erst im 19. Jahrhundert von Cauchy und Weierstraß formuliert wurde. Doch haben Newton und Leibniz wohl kaum etwas entdeckt oder zumindest erahnt, was sich Cauchy und Weierstraß erst im 19. Jahrhundert ausgedacht hätten. Die alten Babylonier kannten schon vor über 3000 Jahren elaborierte Rechentechniken, die zum Teil noch heute angewendet werden. Da ihre Sprache jedoch kein Wort für Zahl besaß, kannten sie auch keinen Zahlbegriff (Damerow, Englund, & Nissen, 1994). Ein Zahlbegriff ist uns erst von den antiken Griechen überliefert. Er ist ein Begriff über eine Anzahl. Der italienische Mathematiker Guiseppe Peano publizierte Ende des 19. Jahrhunderts den modernen Zahlbegriff, indem er die Struktur der natürlichen Zahlen durch eine Nachfolgerbeziehung charakterisierte. Durch die Nachfolgerbeziehung sind die natürlichen Zahlen linear angeordnet, nämlich in der Reihenfolge, in der wir sie zählen: 1, 2, 3 … usw. Daher werden die so definierten Zahlen auch Ordnungszahlen genannt. Jedoch wurde bereits im 16. Jahrhundert eine Aussage über die natürlichen Zahlen aus der Nachfolgerbeziehung hergeleitet. Also hat sich Guiseppe Peano die Struktur der natürlichen Zahlen nicht ausgedacht. Die Menschen zählten und rechneten schon seit etlichen Jahrtausenden. Sie entdeckten Rechenregeln. Nach und nach entdeckten sie aber auch, dass die Rechenregeln logisch von gewissen Merkmalen der Zahlen abhängen, und allmählich wurden den Mathematikern diese Merkmale bewusst. Das Bewusstsein über die Merkmale ist eine notwendige Voraussetzung, sie zu einem Begriff zusammenzufassen.[1] Die Merkmale wurden also nicht aus den Axiomen hergeleitet, sie waren vor den Axiomen bekannt. Die Entdeckung bestand darin, dass man erkannte, sie aus gewissen Aussagen herleiten zu können. Anders als häufig angenommen, sind nicht etwa die Axiome zuerst da, und dann ihre logischen Folgerungen, sondern es ist umgekehrt: zuerst die logischen Folgerungen und dann die Axiome. Axiome sind zwar logisch ursprünglich, aber genetisch stehen sie am Ende einer mathematischen Begriffsbildung. Wenn die Menschen schon mit Zahlen gezählt und gerechnet, Rechenregeln erkannt und Eigenschaften über Zahlen ausgesagt haben, bevor ein Zahlbegriff gebildet wurde, dann stellt sich die Frage nach der Herkunft der Zahlen. Was ist ihre Genese?
Nicht unerheblich ist dabei die Frage, warum die antike griechische Geometrie in der Renaissance so populär war, eine weit verbreite Anwendung fand und sich auf ihrer Grundlage das moderne wissenschaftliche Weltbild entwickelt hat. Die von Euklid überlieferten geometrischen Begriffe haben einen anderen Charakter als die Begriffe der modernen Strukturmathematik. Die Definitionen Euklids bestimmen keine Beziehungen von Objekten einer Struktur, sondern sie charakterisieren die Objekte selbst. Euklid appellierte in seinen Schriften, sich unter den Eigenschaften mathematischer Gegenstände, wie z. B. Punkt und Gerade, etwas vorzustellen. Nach zweieinhalb Jahrtausenden fällt uns heute das Verständnis nicht immer ganz leicht, die euklidischen Definitionen hinterlassen durchaus Rätsel und Interpretationsbedarf. Wir können aber in den Begriffen der Euklidischen Geometrie Merkmale der Bewegung erkennen. Z. B. definiert er eine »Linie« als eine breitenlose Länge. Wenn wir uns nun unter einer Linie etwas vorstellen wollen, dann stellen wir uns im Allgemeinen eine gezeichnete Linie vor. Ein naheliegender Einwand ist, dass eine gezeichnete Linie doch sehr wohl eine Breite habe. Dem wird üblicherweise erwidert, dass eine gezeichnete Linie auch nur die Darstellung einer euklidischen Linie sei, eine Euklidische Linie ist dagegen eine idealisierte Linie. Was ist aber eine idealisierte Linie? Eine idealisierte Linie erhalte man, wenn man von der Breite einer gezeichneten Linie absehe. Das aber hilft nur bedingt weiter, denn was bleibt dann von ihr übrig?
Ich will daher einen anderen Zugang zu den Begriffen der Euklidischen Geometrie vorschlagen. Versuchen Sie einmal mit geschlossenen Augen Ihre Nasenspitze mit einem Zeigefinger zu