Marcel Proust. Ernst Robert Curtius

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Название Marcel Proust
Автор произведения Ernst Robert Curtius
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783731761952



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läuft ab in einer Kurve von unberechenbarer Unregelmäßigkeit. Ein Wetterumschlag genügt, um die Welt und uns selbst neu zu erschaffen! Zeit und Raum sind bloße Modi der Erinnerung und stehen in Wechselwirkung. Ein Ort, den wir gekannt haben, ist ein Ausschnitt aus unserer gelebten Zeit. Ein Erinnerungsbild, das in uns auftaucht, bringt einen bestimmten Augenblick zurück. Wir können sozusagen Zeit und Raum ineinander umschalten und so den Bereich unserer Freiheit erweitern. »Es gibt Fälle – zugegebenermaßen recht seltene – wo, da die Sesshaftigkeit die Tage anhält, die beste Möglichkeit Zeit zu gewinnen die ist, den Ort zu wechseln.« Nicht nur die einzelnen Erstreckungen der Zeit – Vergangenheit und Gegenwart – werden relativiert, sondern die Zeit als Ganzes wird also relativ zum Raum. Man kann noch weitergehen und zeigen, dass bei Proust auch die Dimensionen des Raumes (zum Beispiel horizontale und vertikale Dimension) in analoger Weise einer Relativierung ausgesetzt sind. Proust beschreibt einmal den Blick von einer senkrecht abfallenden Felsküste auf das tief unten liegende blauschimmernde Meer. Man hört deutlich das Geräusch jeder Welle, die sich am Strande bricht. Und dieses Geräusch ist »wie eine Vergleichsgröße bei einer Messung, die uns, indem sie unsere üblichen Eindrücke umkehrt, vorführt, dass vertikale Entfernungen, anders als unsere Vorstellung sich das gemeinhin ausmalt, horizontalen Entfernungen gleichgesetzt werden können, ja dass diese, uns den Himmel näherbringend, gar nicht groß sind, und sogar noch geringer für ein Geräusch, das sie überwindet wie das jener kleinen Wellen, denn das Medium, das es durchlaufen muss, ist reiner«.

      Die Bücher von Proust enthalten viele Beispiele für das unbewusste Auftauchen von Erinnerungen und ihre Bedeutung in unserem Seelenleben. Ich hebe ein solches Beispiel heraus. Der Erzähler kehrt an einen Ort zurück, wo er im vergangenen Sommer mit seiner innig geliebten Großmutter geweilt hat, die kurz darauf gestorben ist. Er steigt in demselben Hotel ab, erhält dasselbe Zimmer, fühlt dieselbe Mattigkeit nach der Reise wie damals. Da steigt das Bild der Großmutter plötzlich auf, denn damals, in derselben Situation, war sie zärtlich und hilfreich um den leidenden Knaben besorgt gewesen. Zum ersten Mal seit ihrem Tode gewinnt die Erinnerung an sie volles Leben: »Und so geschah es in meiner verrückten Lust, mich ihr in die Arme zu werfen, erst in diesem Augenblick, mehr als ein langes Jahr nach ihrem Begräbnis und aufgrund dieses Anachronismus, der den Kalender der Tatsachen so oft davon abhält, mit dem der Gefühle übereinzustimmen, dass mir klar wurde, sie war tot.«

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      Antwort von Ernst Robert Curtius auf Marcel Prousts Brief vom 8. März 1922, datiert auf den 12. April 1922.

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      Es ist für Proust charakteristisch, dass bei ihm alle großen Lebensmächte erst in ihrer Verflechtung mit dem Spiel der Erinnerung ihren ganzen Bedeutungsgehalt, ihren ganzen Wert anzunehmen scheinen. Das gilt von dem Leben des Geistes, vom Schaffen, von der Natur, von der Liebe. Und es gilt ebenso von Prousts Beziehung zu den Welten der Kunst und der Geschichte. Die Gestalten, die Proust mit besonderer Liebe zeichnet, sind solche, deren Lebensgefühl bereichert ist durch die Erinnerung an die Werke der Kunst oder an irgendeine geschichtlich geprägte Vergangenheit. Diese Erscheinung gehört zu den frappierendsten Eigentümlichkeiten des Proust’schen Schaffens. In ihr spiegelt sich von einem anderen Blickpunkt her die enge Verflochtenheit von Kunst und Leben, die wir als Grundmotiv von Prousts Geistigkeit erkannten. Es ist nicht nur so, dass das Erleben, um sich selbst zu vollenden, zur künstlerischen Gestaltung fortschreiten muss, sondern auch umgekehrt: die Welt der Kunst kann für unser persönliches Erleben aufgeschlossen, fruchtbar gemacht, in es zurückgenommen werden. Wenn das künstlerische Schaffen die Zuendeführung, die abschließende Vollendung unseres Erlebens darstellt, so gilt auch entsprechend, dass die überlieferten Werke der Kunst ihren vollen Sinn erst durch die Umsetzung in neues gegenwärtiges Leben gewinnen. Der Weg vom Erleben zum Ausdruck kann auch in umgekehrter Richtung gegangen werden. Leben kann in Kunst und Kunst kann in Leben übergeführt werden. Die seelische Besonderheit Prousts liegt darin, dass diese wechselseitige Umschaltung einen Grundrhythmus seines Geistes ausmacht, sodass der Übergang ein gleitender geworden ist. Die beiden Seinssphären, die wir als Kunst und Leben zu trennen und einander entgegenzusetzen pflegen, sind verflüssigt und eins geworden. Die Kunst hat etwas von ihrer Isoliertheit, das Leben etwas von seiner Realität verloren. Beides fließt zusammen in einer höheren Wirklichkeit der Seele. Hierin gründet jener eigentümliche Eindruck von Vergeistigung, den wir vom Werke Prousts empfangen, einer Vergeistigung, die keine Seinsminderung, sondern das Gefühl einer intensiveren Wirklichkeitserfassung hervorbringt – und zwar durch eine Art von Relativierung, analog jener, die wir zwischen den einzelnen Zeitstufen und zwischen Zeit und Raum beobachteten. Das Lebensgefühl Prousts erscheint ständig begleitet und bereichert durch einen Strom künstlerischer Erinnerungen. Seine Kunsterlebnisse wirken wie ein Resonanzboden, der den Klang jeder Stunde verstärkt. In die Farben, mit denen er das Neue und Gegenwärtige schildert, fließt so eine altmeisterliche Tonigkeit ein, ein Extrakt reifer Kulturen, ohne doch irgendwie die Fähigkeit des Künstlers zur unmittelbaren und ursprünglichen Erfassung der Wirklichkeit zu beeinträchtigen. Was andere Geister lähmt, belastet, gefährdet und an eigener Ausprägung hindert, das scheint im Gegenteil bei Proust der schöpferischen Ausdruckskraft erst ihre weiteste Freiheit zu geben, weil seine biegsame Geistigkeit den überlieferten Bildungsstoff beseelt.

      Wie Proust sein modernes Lebensgefühl mit Kunsteindrücken unterbaut, sei an einigen Beispielen gezeigt. Während einer Autofahrt macht er in einem kleinen, abgelegenen Dorfe halt. Dabei fühlt er sich als Nachfolger jenes Reisenden, der seit dem Zeitalter der Eisenbahnen ausgestorben ist, den wir aber aus den flämischen Bildern kennen, wo ihm die Magd einen Trunk in den Sattel reicht oder wo er – auf Cuyps Landschaften – einen Bauern nach dem Wege fragt; jenes Reiters, den Lingelbach, Wouwermans oder Adrian van de Velde auf Bilder von Willem van de Velde oder Ruysdael gesetzt haben, um den Geschmack der reichen Kaufherren von Harlem zu befriedigen. Durch diese Reminiszenzen ist eine scheinbar belanglose Situation in eine Atmosphäre der Phantasie erhoben, die ihr einen reichen, eigentümlichen Gehalt verleiht. Oder Proust besucht die Kathedrale von Lisieux, um an ihrer Fassade das steinerne Laubwerk zu sehen, »von dem Ruskin spricht«, an der Pforte, durch welche vielleicht der Hochzeitszug Heinrichs II. von England und der Leonore von Aquitanien schritt. Diese beiden Beispiele sind nicht dem Romanwerk entnommen, sondern stammen aus Essays, in denen Proust von eigenen Erlebnissen berichtet.

      Aber in dem Roman kehren dieselben Züge wieder, verteilt auf verschiedene Figuren und in verschiedener Nuancierung. Immer ist die gemeinsame geistige Voraussetzung fühlbar, die ich zu analysieren versuchte. So in der Schilderung von Swanns Liebe zu Odette.