Название | Wo die wilden Maden graben |
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Автор произведения | Nagel |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783955756017 |
Die Tourneeleitung kommt vom Bezahlen zurück und ruft: »Dienstbesprechung!«
Fast jeden Tag gibt es kurz vor der Ankunft eine Besprechung, in Businesssprache: ein Briefing, damit zumindest theoretisch jeder auf dem gleichen Wissensstand ist und niemand sich beschweren kann, dass ihm Informationen vorenthalten würden.
»Wenn wir ankommen: sofort ausladen. Der Club ist in einer Fußgängerzone, wir packen die Backline raus und fahren gleich darauf den Bus weg. Nehmt auch eure Taschen mit, der Pennplatz ist um die Ecke. Zwei Viererzimmer, einmal Raucher, einmal Nichtraucher. Ich geh ins Nichtraucher. Verpedert wird woanders. Dann Soundcheck bis um sieben, danach Essen. Zocken ist um zehn, Curfew um zwölf. Nach dem Konzert ist angeblich noch Indie-Disco.«
»Yeah, Disco!«, ruft Kowalski und fängt an, den Moonwalk zu tanzen. Der Rest der Band applaudiert.
»Ey, Punkt neun!«, brüllt die Tourneeleitung. »Ich hab noch zwei Interviews, eins macht Mario, für das andere brauche ich noch ’nen Freiwilligen.«
»Was mache ich?«, fragt Mario.
»Ein Interview. Dieses Radioding, haben wir gestern drüber geredet.«
»Aha, wirklich? Wie heißt das Radio?«
»Radio Schieß-mich-tot, was weiß ich. Die Interviewerin heißt Sonja Hufschmied. Klang nett am Telefon. Ist um halb acht.«
»Okay.«
»Das andere ist um neun.«
»Da muss ich anfangen, mich warmzusingem!«, sage ich erleichtert.
Ich habe nichts gegen Interviews, im Gegenteil, ich begrüße es, dass Menschen an unserer Band interessiert sind und versuche immer, mir viel Mühe dabei zu geben. Aber ich habe im Vorfeld der Tour schon sauviele Interviews gegeben und bin froh, wenn ich als Sänger mich auch mal drücken kann.
»Okay. Also Kowalski und Werner.«
»Also, ich sag eh nix«, nuschelt Kowalski kaum hörbar in seinen Dreitagebart. Er hat diesen Spruch schon so oft gebracht, dass wir wissen, was er gesagt hat, auch ohne ihn akustisch verstanden zu haben.
Werner verdreht die Augen und sagt: »Jaja, ich mach das sowieso lieber alleine.«
»Also Werner. Das wars. Sonst noch Fragen?«
»Haben die einen Raum zum Warmsingen?«
»Weiß ich noch nicht.«
»Spielt die andere Band über unsere Backline?«
»Keine Ahnung.«
»Wo ist der nächste Massagesalon?«
»Es ist nicht meine Aufgabe, das zu wissen.«
»Weißt du überhaupt irgendwas?«
»Leck mich am Arsch. Weiterfahren!«
Wir trotten zum Bus und fahren weiter.
MPU, das heißt »Medizinisch-Psychologische Untersuchung«, eine Untersuchung, die beim TÜV durchgeführt wird und besser unter dem Begriff »Idiotentest« bekannt ist. Der Idiotentest muss vom Teilnehmer selbst bezahlt werden, er kostet über tausend Mark und genießt keinen guten Ruf. »Da fallen fast alle durch«, hört man immer wieder, »beinahe unmöglich, den zu schaffen!«
Tja, und hier sitzt du nun und wartest, dass du dran bist. Der Wartesaal ist voll. Du warst einer der Ersten heute Morgen, und du bist mit Sicherheit der Einzige, der selbst mit dem Auto hierhergefahren ist. Während der letzten zehn Monate ist keiner Behörde aufgefallen, dass dir irrtümlicherweise dein Führerschein zurückgeschickt wurde.
Nett von Kowalski, dass er dir seinen Kadett geliehen hat. Egal wie das heute ausgehen wird, die Fahrt hierher wird dir noch lange in Erinnerung bleiben: entweder als der Weg zum Schlachtfeld, auf dem du tapfer und erfolgreich um deine Unabhängigkeit und Ehre gekämpft hast, oder aber als die letzte Autofahrt deines Lebens.
Du bist wild entschlossen, die MPU zu schaffen. Du hast dir eine gute Story zurechtgelegt, nach der du die Schnauze voll hast vom Alkohol und außerdem dein Leben jetzt voll unter Kontrolle. Du hast den Kontakt zu deinen alten Freunden abgebrochen, bist deswegen mit deiner Freundin in eine andere Stadt gezogen und hast auch dein Studium wieder aufgenommen, das du in der Zeit vor der alkoholisierten Unfallfahrt eher hast schleifen lassen. Bis auf den Umzug, allerdings aus anderen Gründen, ist nichts davon wahr. Alles erstunken und erlogen. Na ja, eine Kleinigkeit noch, die der Wahrheit entspricht: Du willst kein Idiot sein. Du willst es beweisen, dem TÜV-Psychologen, den Polizisten, deinen Freunden und Eltern, der ganzen Welt, vor allem aber dir selbst: »Ich bin kein Idiot!«
Das Gespräch mit dem Psychologen wird ein Balanceakt zwischen »keine Lust mehr auf Saufen« und »trockener Alkoholiker« werden. Immerhin hast du zwei Monate lang keinen Alkohol getrunken, um heute deine Leberwerte in Ordnung zu haben. Von einem Rückfall mit Benja in Prag mal abgesehen, als du es nicht mehr aushalten konntest. Du warst nicht mehr in Übung, und dummerweise habt ihr noch ein paar Gläser Absinth auf die Wodka-Os gegossen. Vielleicht warst du in deinem ganzen Leben noch nie so betrunken. Als du am nächsten Tag aufwachtest, bekamst du es umgehend mit der Angst zu tun. Seitdem hast du keinen Tropfen mehr angerührt und sogar eine sechstägige Tour mit deiner Band trocken überstanden.
Als erstes wurde dir heute Morgen Blut abgenommen, das genauestens auf eventuelle Kurz- und Langzeitspuren von Alkohol untersucht wird. Dann hast du wieder die üblichen Koordinationstests über dich ergehen lassen. Mit geschlossenen Augen eine gerade Linie laufen, den Finger an die Nasenspitze führen und so weiter.
Der Warteraum ist voller Leute, die alle ihre eigene Version haben, warum sie hier gelandet sind.
»Für mich ist das keine Demokratie mehr!«, empört sich ein rotgesichtiger Mann Mitte fünfzig, Typ Landwirt. »Eine Diktatur ist das! 0,5-Promille-Grenze, und wem haben wir das zu verdanken: Schröder und seiner rot-grünen Bande!«
»Völlig richtig«, sagt die Frau neben ihm. »Und wissense watt: Ich hab denen einen Denkzettel verpasst!«
»Einen Denkzettel?«
»Ja. Ich hab Protest gewählt! NPD! Um denen da oben mal zu zeigen, dass wir nicht alles mit uns machen lassen!«
»Ja richtig, ich stand auch kurz davor.«
Etwa zehn weitere Leute sitzen im Raum. Einige geben hier und da einen Kommentar ab, andere starren wortlos ins Leere. Du gehörst zur letzteren Sorte. Es ist nicht einfach für dich, unter dieser Ansammlung von Vollidioten zu sitzen und dein Maul zu halten. Aber was solltest du diesen Leuten auch sagen. Du kannst sie nicht belehren oder erziehen. Eine Pumpgun wäre das einzig Richtige. Du hoffst inständig, dass alle von ihnen beim Psychologengespräch durchfallen und/oder auf der Stelle tot umfallen.
»Die Frau da am Empfang kann uns auch nicht leiden, wie die guckt!«, bemerkt die Protestwählerin.
»Ach, die ist doch nett!«, entgegnet der Saufbauer.
Die Protestwählerin ist anscheinend sofort umgestimmt: »Stimmt, die ist nett.«
Endlich wirst du zum Reaktionstest aufgerufen. Er verläuft wie in der Fahrschule, nur viel härter. Du sitzt vor einem Bildschirm und sollst auf Kästchen und Bälle in unterschiedlichen Farben und Formen reagieren. Für jedes Symbol gibt es einen eigenen Knopf. Zusätzlich bekommst du über einen Kopfhörer hohe und tiefe Tonsignale, bei deren Ertönen du mit dem linken oder rechten Fuß ein Pedal treten sollst. Im Fachjargon nennt sich diese foltergeeignete Übung »Test für reaktive Stresstoleranz«. Das Ganze dauert mehrere Minuten, die Signale werden immer schneller. Ganz besonders die Geräusche auf den Ohren machen dich wahnsinnig. Neben dir sitzt ein älterer Herr, der schnauft und schwitzt und nach zwei Minuten weinend zusammenbricht.
»Ich pack das nicht! Ich pack das einfach nicht!«, brüllt er und bricht ab. Du versuchst, dich nicht von seinem Gejaule ablenken zu lassen. Für kurze Zeit bist du komplett weggetreten, ohne Gefühl für Raum und Zeit versuchst du nur noch, korrekt