Wo die wilden Maden graben. Nagel

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Название Wo die wilden Maden graben
Автор произведения Nagel
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783955756017



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dem Gespräch mit Dr. Hansen.

      Der Psychologe sitzt hinter seinem Schreibtisch und liest in deiner Akte. Er ist Mitte bis Ende dreißig, trägt einen Oberlippenbart und schaut nicht mal auf, als du dich ihm gegenübersetzt. Im Kopf versuchst du nochmal deine jüngste Lebenswandlung durchzugehen, bist aber noch viel zu durcheinander von dem gerade absolvierten Test. Dr. Hansen schaut dich skeptisch an und zieht dich ohne irgendeine Begrüßung in den Ring.

      »Na, dann legen Sie mal los!«

      Du krempelst innerlich die Ärmel hoch und stammelst ein paar einleitende Sätze zu der Situation, in der du mit Alkohol am Steuer erwischt wurdest. Du versuchst, zu dem überzuleiten, was sich seitdem alles verändert hat in deinem Leben. Er will nichts davon hören. Er sitzt nur zurückgelehnt in seinem Chefsessel und eröffnet dir, dass du ja ganz offensichtlich ein kompletter Versager seist, dem man gar nichts glauben könne.

      »Führerscheinentzug wegen Fahrens unter Alkoholeinfluss in der Probezeit! Und dann, kaum ist die Fahrerlaubnis zurück, das Gleiche noch mal! Da muss man sich doch fragen, ob Sie noch ganz richtig im Kopf sind! Wenn das zweimal passiert, und die Dunkelziffer lasse ich mal unerwähnt, warum dann nicht noch öfter?!«

      Eine berechtigte Frage, musst du gestehen. Eins zu Null für ihn. Du bist wie gelähmt. Nach gerade mal zwei Minuten hat er dich bereits in eine Ecke gedrängt und beobachtet nun, ob und wie du da wieder rauskommen willst. Du beginnst zu schwitzen. Es ist ein schmaler Grat. Du weißt, dass du ihm einerseits nicht Recht geben kannst, denn dadurch würdest du dich selbst als Deppen darstellen, zu dumm zum Scheißen und zum Autofahren sowieso. Andererseits kannst du aber auch nicht reagieren, wie du es normalerweise tun würdest, wenn dich jemand so blöd anmacht, denn dann müsstest du diesem Arschloch sofort einen guten Schwinger verpassen, wenigstens verbal. Nein, du musst dich beherrschen, ruhig bleiben. Er will ja nur testen, wie du in Extremsituationen reagierst, ob du dich unter Kontrolle hast oder aber gleich völlig ausrastest. Und du hast dich doch unter Kontrolle, oder?

      Oder?

      Es zieht sich endlos hin. Du redest und redest und weißt selbst nicht so richtig, was.

      »Aha, elftes Semester und noch nicht mal das Grundstudium beendet, von der Sorte sind Sie also!«

      »Das ist richtig, ich habe es schleifen lassen, aber ich habe selbst die Schnauze voll davon, ich will jetzt vorankommen im Leben, deshalb ja auch mein Umzug in die andere Stadt, denn so geht es nicht weiter!«

      Hast du das gerade gesagt? Nicht schlecht! Damit kannst du zum ersten Mal einen Aspekt deiner vorher zurechtgelegten Geschichte anbringen. Er hat ja keine Ahnung, dass du von Anfang an nur an dem Semesterticket und der Sozialversicherung interessiert warst und in den fünfeinhalb Jahren keine einzige Vorlesung besucht hast. Natürlich könntest du von deiner Musik erzählen, wie wichtig sie dir ist, und damit leicht seine Einschätzung widerlegen, dass du jemand bist, der nichts im Leben durchzieht. Schließlich hast du seit etlichen Jahren diese Band, sie bedeutet dir sehr viel, und du spielst nicht nur Gitarre und singst, nein, du bist auch das Booking, Management und die Plattenfirma der Band, alles in einer Person! Aber du hast dich entschlossen, die Band nicht zu erwähnen, zu groß ist deine Angst, dass der bloße Begriff »Rockmusik« Assoziationen zu Alkohol und Drogen in ihm wachruft. Bon Scott, Keith Moon, Sid Vicious, Jimi Hendrix, Kurt Cobain …: Namen, von denen sogar er schon mal gehört haben könnte.

      Nachdem du ihn davon überzeugen konntest, dass du ein aktives Interesse an einem Dasein als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft hast (nimm dies, Hansen!), wird er etwas milder. Ihr redet darüber, wie du vermeiden kannst, dass so etwas noch mal passiert. Du sagst, dass du außer einem Glühwein auf dem Weihnachtsmarkt seit einem Jahr nichts mehr getrunken hast, und wenn du jemals wieder einen Tropfen trinken würdest – das »wenn« und das »würdest« betonst du in diesem Satz besonders –, dann würdest du das Auto von Anfang an stehen lassen. Das hat gesessen. Du spürst, wie Dr. Hansen einknickt.

      »Jaja, immer dran denken: Taxis sind auch Autos, nech!«, lacht er. Heiser lachst du mit ihm. Die Stimmung hat sich jetzt deutlich entspannt, und bis hierher hast du dich wirklich gut geschlagen, doch doch, da kann man nichts sagen. Du glaubst schon fast, dass du es geschafft hast, als er nochmal einen Blick in seine Papiere wirft.

      »Sagen Sie mal, das sieht hier aus, als ob Sie Ihren Führerschein noch hätten!«

      »Ja«, antwortest du, dir wird plötzlich schwindelig, »der wurde mir wohl irrtümlicherweise zurückgeschickt.«

      »Also, das kann doch nicht wahr sein, das geht doch nicht, wie geht das denn?«, schnaubt er.

      »Ich habe mich natürlich auch gewundert, wollte mich aber nicht selbst anschwärzen. Ich liebe das Autofahren, und ich fahre seitdem täglich, nüchtern übrigens.«

      Dr. Hansen ist verblüfft. Er sagt, so was hätte er noch nie erlebt. »Ich kann Sie ja durchaus verstehen, aber wenn ich das weitergebe, wenn die Kollegen das sehen, die lassen Sie sofort durchfallen!«

      Du glaubst ihm nicht. Der kann dir doch nicht weismachen, dass nicht er allein darüber entscheidet, ob du den Fläppen behältst oder nicht! Zumindest, solange deine Blutwerte in Ordnung sind, liegt das Schicksal deines Führerscheins einzig und allein in der Hand dieses Menschen, das weißt du genau. Du hast das Gefühl, dass er sich nur noch ein bisschen am süßen Duft seiner Macht laben und dich auf die Folter spannen will. Nach kurzem Grübeln setzt er zu seinem Lucky Punch an und macht dir einen Vorschlag: Er lässt dich bestehen, wenn du einer »Nachschulungsmaßnahme für alkoholauffällige Kraftfahrer« zustimmst.

      »Das ist ein fünfwöchiger Kurs, pro Woche eine Sitzung.«

      Genau der Kurs, den du schon einmal gemacht hast und den du wieder selbst bezahlen müsstest. Kostet mindestens achthundert Mark zusätzlich. Also noch mal so ein beschissener Stuhlkreis mit selbstmitleidigen Versagern und einer Laber-Rhabarber-Psychologin, die euch wie Schulkinder vorrechnen lässt, nach welcher Zeit der Alkoholgehalt von fünfzehn Gläsern Bier und dreiundzwanzig Kurzen im Körper abgebaut ist. Die Vorstellung, das noch mal über dich ergehen lassen zu müssen, macht dich fertig. Andererseits gibt es bei diesem Kurs keine Prüfung. Man fällt nur durch, wenn man gar nicht oder aber betrunken zu den Sitzungen erscheint. Wenn du das Angebot annimmst, hast du den Idiotentest also bestanden. Mit einem bitteren Beigeschmack im Mund willigst du ein.

      Dr. Hansen hat nach Punkten gewonnen, dich aber immerhin nicht ausgeknockt.

      Als du da raus bist, gehst du schnurstracks zum Wagen. Du hast das Tape schon zurechtgespult. »There’s a sign up ahead, says ›No signs for a while‹ …« »Little Light«, dein Autofahrlied Nummer Eins. Du setzt rückwärts raus und machst dich auf den Weg nach Hause.

      Was hier an Catering aufgefahren wird, ist der helle Wahnsinn. Es gibt so ziemlich jedes vegetarische Essen, was man sich vorstellen kann. Gefüllte Paprika. Eingelegte Auberginen. Brotsalat. Couscous. Spaghetti. Reis. Gemüse, Soßen, Brot, Antipasti … Sie stehen zu zehnt in der Küche, alle machen was. Eine kümmert sich um die Salate, einer schneidet Gemüse, eine deckt den Tisch, zwei stehen am Herd … Sie haben einen Ghettoblaster in der Küche, mit dem sie selbstgebrannte Mix-CDs spielen.

      Ich erstarre voller Ehrfurcht und weiß nicht, womit wir das verdient haben.

      »Womit haben wir das verdient?«, frage ich den Veranstalter, der sich am Getränketischchen einen Kaffee einschenkt. Er lächelt nur.

      »Ich meine, ist das Catering immer so reichhaltig bei euch?«

      »Na ja«, sagt er, »in der Regel geben sich unsere Küchenleute schon große Mühe, aber heute ist es besonders besonders.«

      »Warum das?«

      »Weil sich so viele Freiwillige zum Kochen gemeldet haben.«

      »Und warum?«, frage ich nochmal, begriffsstutzig, wie ich bin.

      »Weil die Leute vom Juz sich seit Wochen auf das Konzert gefreut haben. Die sind alle große Fans von euch. Sie wollen, dass ihr euch an diesen Abend erinnert, und wenn es nur wegen des Caterings ist.«

      Das ist ihnen gelungen. Ich habe seit langem nicht so gut gegessen.