Wo die wilden Maden graben. Nagel

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Название Wo die wilden Maden graben
Автор произведения Nagel
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783955756017



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mit seinem Namen, sondern nur noch mit seinem Titel angesprochen: »Die Tourneeleitung«. Er ist mittlerweile ein Profi, verdient seinen Lebensunterhalt damit. Durch Freundschaft und Loyalität in einen Rockberuf geschlittert. Wie herrlich romantisch das ist, und dabei auch noch die Wahrheit!

      Als wir vorgestern Abend den Bus einluden, rief er mich an:

      »Hey, ich schaffs leider nicht, mitzuhelfen, aber denkt unbedingt dran, den Stahlhelm einzupacken!«

      Diesen Helm – keine Ahnung wie der überhaupt in den Proberaum gekommen ist – setzt er nun immer bei Bandbesprechungen auf. Für die Tour hat er sich zusätzlich einen Vollbart stehen lassen, weil er meint, dass dieser ihm bei Gagen- und sonstigen Verhandlungen mehr Autorität verleiht. Er sagt sowas immer halb im Scherz, aber ich werde das Gefühl nicht los, dass er wirklich daran glaubt. Er hat einen großen alten Koffer dabei, in dem sich sein Laptop, ein Aktenordner und eine Flasche Jack Daniels befinden. Dieser Koffer ist der Grund dafür, dass ich im Sprinter nicht die Beine ausstrecken kann, denn der Koffer muss immer in greifbarer Nähe sein. Wenn er damit im Produktionsbüro auftaucht (vorausgesetzt, es gibt ein Produktionsbüro, das aus mehr als zwei Stühlen im Backstageraum besteht), plus Bart, hm, das könnte tatsächlich Eindruck schinden. In welche Richtung auch immer.

      Nie will die Tourneeleitung während der Fahrt woanders sitzen als auf ihrem Stammplatz, dem Beifahrersitz. Da sitzt der Chef und checkert und plant und dirigiert, das Ziel vor und den Fahrer neben sich, und hinten die Kids, die sich balgen und streiten und lachen und herumalbern und singen und schreien und fragen, wie weit es noch ist und wann wir endlich da sind.

      Soviel zur Theorie. Die Realität sieht etwas anders aus: Kurz nach Abfahrt schläft die Tourneeleitung auf ihrem Tourneeleitungssitz ein. Ein amüsanter Anblick, wie der Kopf langsam nach unten sinkt, dann mit einer ruckartigen Bewegung wieder nach oben schnellt, um gleich wieder nach unten zu sinken, wo er in einer Position rumbaumelt, bei der man vom bloßen Hinsehen Nackenschmerzen bekommt. Beim nächsten Halt fragen wir ihn, ob er denn nicht mal hinten sitzen will, da kann man sich anlehnen, und es gibt hier sogar Kissen! Aber nein, die Tourneeleitung sitzt vorne, und wenn sie sich dabei die Wirbelsäule zu einem »S« wie »Schleudertrauma« verknotet, basta.

      Auf allgemeinen Wunsch hat die Tourneeleitung für diese Tour wieder Tourregeln aufgestellt. Heute Morgen wurden sie ausgedruckt und während der Fahrt an alle verteilt.

      1.Wir sind nicht zum Spaß hier. Dies ist euer Job (Hättet ja was Vernünftiges lernen können).

      2.Also reißt euch zusammen.

      3.Es wird täglich mindestens fünf Stunden gepennt.

      4.Es werden täglich mindestens drei Mal die Hände gewaschen (mit Seife).

      5.Es wird täglich mehr Obst als Junkfood gegessen (A Kiwi a day keeps the doctor away).

      6.Es wird täglich mehr Wasser als Alkohol getrunken.

      7.Es ist verboten, der Tourneeleitung während der Fahrt auf die Schulter zu tippen.

      8.Verpedert wird später.

      9.Schnauze.

      Unnötig zu erwähnen, dass kaum eine der Regeln jemals eingehalten wird. Trotzdem ein gutes Gefühl, sie zu haben. Man kann außerdem wunderbar Veranstalter und andere Bands irritieren, wenn man sie gleich nach Ankunft für alle sichtbar im Backstageraum und neben der Bühne aufhängt.

      Vor allem Punkt sieben sorgt für allgemeine Erheiterung. Dabei ist es durchaus verständlich, dass er hier aufgeführt wird. Wer würde nicht wahnsinnig, wenn einem während einer sechsstündigen Autofahrt alle zwei Minuten jemand auf die Schulter tippt, um Dinge zu fragen wie: »Duuu, was gibts denn heute zu essen?«, oder »Ey Tourneeleitung, ham die da Internet im Backstage und ist die Freundin vom Veranstalter eigentlich hübsch?«

      Punkt acht ist ein bisschen universaler, denn »verpedern« kann alles mögliche bedeuten. Man kann nach dem Konzert die Taschen in den Bus »verpedern«, oder vor dem Auftritt die Kabel mit Gaffatape am Boden fest-»pedern«. Manchmal wacht auch jemand mit einer höllischen »Nackenverpederung« auf (z.B. auf dem Beifahrersitz). Aber meistens heißt es »saufen, picheln, verhaften, schütten, sich wegballern«, und so ist es hier auch hauptsächlich gemeint.

      Die Regeln wurden auf der letzten Tour zum ersten Mal aufgestellt, aber die einzige verbliebene und wichtigste ist die neunte. Werner, der alte Trucker, bemängelt, dass der ursprüngliche fünfte Punkt nicht mehr auftaucht: »Kritik am Fahrer ist außer in Notfällen nicht gestattet.« Als wir das bemerken, freuen wir uns diebisch. In den nächsten Stunden wird aufs Niederträchtigste Werners Fahrstil kommentiert, bis auch das zu langweilig wird.

      Wir würden gerne eine DVD gucken, haben aber kaum welche dabei. »Ich hab meine Filme zu Hause gelassen, weil ich die alle schon gesehen hab!«, ist die gängige Ausrede. Wir beschließen, dass jeder mindestens eine DVD kaufen muss, und befehlen Werner, er soll verdammt nochmal nicht so schleichen, sondern ein bisschen aufs Gaspedal treten, damit wir Zeit rausschlagen für den nächsten auffindbaren Media Markt.

      »Punkt fünf!«, ruft er.

      »Gibts nicht mehr, also heiz ein!«, schallt es aus dem Fond zurück.

      Wunschlos unglücklich vegetierst du tagelang vor dich hin. Tagsüber bringt das gute Wetter dir Schuldgefühle, weil du deine Tage so sinnlos verschwendest. Hast du als junger Mensch nicht die Pflicht, dich zu amüsieren, etwas zu erleben, etwas zu leisten? Der Saft der Jugend, er verdorrt dir in den Adern. Nachts macht der Mond dich ganz komisch. Du hast Fernweh, von der Sorte, die so seltsam nach Heimweh schmeckt. Für den Heimatlosen ist Heimweh der Motor für die Flucht nach vorn. Aber dein Motor hat einen Getriebeschaden. Du versuchst, nicht aus dem Fenster zu sehen. Du blickst nicht mehr gen Himmel, weil du dich gegenüber Sonne und Mond so klein und elend fühlst. Außerdem willst du es um jeden Preis vermeiden, eine Sternschnuppe zu sehen, die dich doch nur daran erinnern würde, dass du nicht weißt, was du dir wünschen sollst. Dir fällt einfach nichts ein, was dich aus diesem Loch ziehen könnte.

      Morgens liegst du im Bett, wirst immer wieder wach, ausgeschlafen, und bleibst liegen. Es gibt nichts, wofür es sich aufzustehen lohnt. Erst wenn Muskeln und Gelenke zu schmerzen beginnen, schälst du dich aus deinem Laken und stellst den Computer an.

      Tagsüber rufst du mindestens dreißig bis vierzig Mal E-Mails ab. Manchmal im Minutentakt. Meistens hast du keine Post oder nur Werbung. »Penis«, »Business«, »Finance«, »Viagra«. Die Betreffzeilen der Hölle. Wenn dir jemand schreibt, freust du dich. Du schreibst sofort zurück und hast zwei Minuten drauf wieder nichts zu tun.

      Du onanierst mehrmals täglich, aber selbst das macht keinen Spaß. Es dient lediglich dem Druckablassen, wird zu einer reinen Beschäftigungsmaßnahme. Wenn du ejakuliert hast, fühlst du dich einen Moment lang angenehm erschöpft, leer und müde. Das hält aber nur ein paar Minuten an. Manchmal liegst du zum dritten, vierten oder fünften Mal am Tag auf dem Bett, drückst verzweifelt an dir rum und musst schließlich einsehen, dass du völlig ausgepumpt bist und nicht mehr kommen kannst.

      Heute ist das komplette Gegenteil von gestern. In diesem Jugendzentrum gibt es vielleicht ein oder zwei Musikveranstaltungen im Monat, während der Laden gestern so gut wie jeden Tag in der Woche eine Band da hat. Dieser Ort zählt ca. fünzigtausend Einwohner, die Stadt in der wir gestern waren, hat mehr als das Fünfundzwanzigfache davon. Das Durchschnittsalter lag bei Anfang bis Mitte zwanzig, heute liegt es ein paar Jahre drunter. Die Leute gestern trugen lässige Klamotten und hatten einen guten Musikgeschmack. Es waren hauptsächlich Studenten anwesend. Studenten, die aussahen wie Studenten und Studenten, die aussahen wie Studenten, die auf keinen Fall wie Studenten aussehen wollen. Sie trugen coole Jeansjacken, Tattoos und Dreitagebärte, standen lässig herum, rauchten wie die Blöden und waren allgemein ziemlich übersättigt. Einige hatten kleine Papierbriefchen mit weißem Pulver in den Hosentaschen, das sie hinter mit Bandstickern übersäten Klotüren wegsnieften.

      Heute sind sie alle da: die Muckertypen, die Dorfpunker, die Aktivistinnen von der örtlichen Attac-Gruppe, die Kids in den viel zu großen, mit frechen Sprüchen bedruckten T-Shirts. »Wir sind das OB-Team, in der Regel sind wir voll« und ähnliche Klopper. Fremdschämen