Название | Seeland Schneeland |
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Автор произведения | Mirko Bonné |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783731761891 |
Von Regyn wusste er, dass Ennid, wenn sie allein war, sich gern vorstellte, was keiner sehen konnte: das Fortleben der Toten. Dabei glaubte sie nicht an Geister (wenngleich die Gespenstergeschichte ihrer gemeinsamen Freundin Mari Simms von dem blonden Mann, der angeblich jeden Sonntagmorgen durch ihr Spiegelbild ging, wenn sie am Frisiertisch saß, auch Ennid verstörte). Sie glaubte vielmehr an die Kraft der Erinnerung, die in ihren Augen die Lebendigkeit bewahrte oder sogar erst stiftete, weshalb sie sich oft ihre verstorbenen Eltern vorstellte, wie sie bei Tisch saßen und lachten.
Sie dachte an die Schiffe, die sie gemeinsam mit ihrem Vater ausgerüstet hatte und die auf den Severn hinausgefahren und nie nach Newport zurückgekehrt, sondern in irgendeinem Sturm auf irgendeinem Ozean gekentert und auf den Meeresgrund hinuntergesegelt waren.
Und natürlich erzählte sie Reg oft von ihrem Flieger-Ass, von Mickie Mannock, davon, wie sie ihn sich ausmalte, im Luftkampf über Paris, mit einem knatternden MG, das Regyns erster Mann Herman entwickelt und eigenhändig an Mickies Dreidecker montiert hatte. Das Maschinengewehr spuckte Funkenblitze, die am Himmel über der Seine davonschossen (»wie brennende Vögel im Traum«, sagte Ennid) und im Leeren verloschen. Manchmal meinte Ennid, Mickies Hand zu spüren, wie sie in ihr Haar fasste und ihren Hinterkopf umfing, und mit geschlossenen Augen hörte sie ihn immer noch flüstern: »Komm her, süßer Schatz« – ehe er sanft ihren Kopf zu sich heranzog, um sie zu küssen.
Laut Regyn existierte angeblich ein Buch, in das Ennid Briefe an Mickie Mannock schrieb, das legendäre Buch an Mick – aber selbst Reg wusste davon nur vom Hörensagen. Ihre gemeinsame Freundin Gonryl Frazer, die Vierte im Bund, behauptete, das Buch gesehen, sogar darin geblättert zu haben. Reg bezweifelte das. Er aber, ihr kleiner Bruder, konnte sich so ein Buch gut vorstellen – und sah bei dem Gedanken sogleich das akribisch von Ennid geführte Auftragsbuch des alten Muldoon vor sich.
Während eines Spaziergangs am Ebbw kurz nach Kriegsende unterhielt sich Ennid mit seiner Schwester einmal über Turmsegler. Dass diese Vögel im Flug schliefen, erzählte sie Reg, und dass sie deshalb im Herbst oft an Turmsegler denke, schlafend in der Luft überm Atlantik, unterwegs nach Afrika.
Ennid war nie weiter gereist als bis nach Irland, einmal nach Gloucestershire und einmal nach Kent. Vielleicht deshalb las sie viel, mehr als er selbst, und lieh Regyn Bücher, um sich mit ihr darüber austauschen zu können, Bücher, die Reg auf dem Marketerietischchen im Kaminzimmer in Pillgwenlly liegen ließ und nicht weiter beachtete, denn Lesen gehörte für Regyn Bakewell zu den verzichtbaren Beschäftigungen.
Ennids Bücher waren für ihn schwierig zu lesen, denn da sie voller Unterstreichungen waren, erinnerten sie ihn an ihre Finger, Hände, Augen und damit ihre Art, die Dinge zu sehen. Er erinnerte sich weniger daran, was er in Ennids Büchern gelesen, als daran, was sie beim Lesen angestrichen hatte.
Er las Blackwoods schaurige Darstellung der Weidenbäume in den Donausümpfen (»eine ungeheure Meute lebendiger Geschöpfe«), er las Bonds Schilderung der Ringe des Saturn und in Einsteins Relativitätstheorien, las Beschreibungen der Dschunken von Hongkong und der Märkte in Timbuktu, und verblüfft erfuhr er (weil Ennid es an den Rand geschrieben hatte), dass John Keats vor 100 Jahren ein Exemplar seines Versromans Endymion einem Sahara-Reisenden mitgab, damit der das Buch in die Wüste warf.
Alle Bücher, die sie Reg lieh, warf auch Ennid in die Wüste, ohne es zu ahnen. Alle waren sie versehen mit Ausrufezeichen, Fragezeichen und Kürzeln, die ihm rätselhaft blieben und keiner erklären konnte, da sich außer ihm niemand für die Lektüren von Quiltyn Muldoons humpelnder Tochter interessierte. Ohnehin war ein paar Wochen später, wenn sich Regyn mit Ennid zum Tee oder Spazierengehen traf (»Ist es schon wieder so weit?«, fragte Reg), jedes Buch für ihn viel zu schnell verschwunden.
Seine Schwester las keine Zeile im Endymion (»Erstickt unter Rosen«, hatte Ennid in das Buch gekritzelt), und Hopkins’ Gedicht »Das Wrack der Deutschland« nötigte Regyn nur ein »blabla, blabla« ab (immerhin jambisch). Dabei war Reg durchaus redegewandt. Um eloquente Ausweichmanöver war seine große Schwester nie verlegen.
Napoleon Bonaparte!
Einmal hatte es in Pillgwenlly Streit über Napoleon gegeben.
Nach einem Nachmittagstee mit Ennid erzählte Regyn, »eine Freundin« behaupte, Bonaparte sei kurz vor seiner Verfrachtung nach St. Helena in Portsmouth gewesen, allerdings könne sie – »die Freundin« – sich nicht entsinnen, von wem sie das gehört, wo sie davon gelesen habe: im Tatler, in der Times?
Dafydd fand die Vorstellung lachhaft – Napoleon in Hampshire! Eine Erfindung. Was sollte das?
Ausgerechnet ihr Vater, beileibe kein Franzosenfreund, verteidigte die Geschichte. Emyr Blackboro sagte, auch er habe davon gehört – nur von wem? Vergessen … Er glaube, die Sache sei wahr, egal, wie abwegig die Vorstellung sei.
Dafydd lachte und wurde wütend. »Dad! Nie und nimmer …!«
Aber ihr Vater beharrte darauf: »Ich hab davon gehört!«
Er selbst hatte dazu keine Meinung. Von heißen Schaudern überlaufen, saß er am Tisch, stocherte in seinem Essen, verfolgte wie aus weiter Ferne das Scharmützel und behielt so schuldbewusst wie sehnsuchtsvoll das Wissen für sich, dass er es gewesen war, der Ennid davon erzählte: Bonaparte, perplex in Portsmouth. Sie könne es ihm glauben: Die Fregatte, die den gestürzten Kaiser zu seiner Gefängnisinsel bringen würde, lag für ein paar Tage vor Portsmouth auf Reede. Ob Napoleon britischen Boden betreten hatte? Warum nicht. Gut möglich. Wahrscheinlich!
Sieben Jahre war es her, dass er sich mit dieser haarsträubenden Geschichte für immer in ihre Erinnerung hatte einschreiben wollen. Und Ennid hatte die Sache offenbar tatsächlich nicht vergessen, sondern nur den Schöpfer des Märchens (das keines war) aus ihrem Gedächtnis getilgt.
In einem dicken Roman von Henry James, den Ennid Regyn lieh (damit das nächste Buch einstauben konnte), war ein einziges Wort unterstrichen gewesen: »Komplementärmenschen«.
Wochenlang hatte ihn dieser Ausdruck beschäftigt – zumal Reg ihn einmal zitiert hatte. An einem Sommertag vor vier oder fünf Jahren war die königliche Familie nach Newport gekommen. Die ganze Stadt war auf den Beinen, um König George, Königin Mary, dem Prinzen von Wales, dessen Schwester und dreien seiner Brüder zuzuwinken, die in einem Automobilkorso nach Caldoen hinausfuhren, wo zu Ehren der Royals eine Flugschau mit neuen Gebrüder-Harper-Maschinen stattfand. Es fehlte nur Prinz John. Der jüngste Königsspross, Epileptiker und Autist, nach Ansicht seiner Geschwister ein Monstrum, die Schande der Familie, hatte wie fast immer in Schloss Sandringham bleiben müssen.
Regyn begleitete Gonryl und Mari nach Caldoen, während er von seinem Ausguck aus dem Jahrmarkttreiben in den Straßen zusah und keine Lust verspürte, sich dem Rummel auszusetzen. Er dachte an Prinz John und erklärte sich auf diese Weise solidarisch mit ihm. Beschwipst und aufgekratzt holte Reg ihn am Abend im Kontor ab, spöttelnd berichtete sie von Ennids neuestem, einer Brombeere ähnelndem Hut und ihrem jüngsten Spleen: dem Liebesleben der Windsors.
In Regyns Augen war alles zu ertragen, aber das, über die Intimsphäre des Königspaars herzuziehen – das ging zu weit, es war lachhaft, und es war »shocking«.
Ennid frage sich ernsthaft, sagte sie, wie der König es angestellt habe, mit der Königin so viele Nachkommen zu zeugen: Wie oft schlief König George mit Königin Mary?
Ein bohrender Schmerz hatte sich in ihm breitgemacht, eine absurde Eifersucht auf den König, als Reg erzählte, Ennid habe genug von ihrem selbstverordneten Witwendasein und wünsche sich Kinder, viele, mindestens so viele wie Königin Mary.
Über den Wiesen von Caldoen wurde ein Feuerwerk gezündet, mit Regyn stand er am Fenster, sah den Harper-Doppeldeckern dabei zu, wie sie aufstiegen, über dem Stadtrand kreisten und Kondensstreifenlettern an den abendlichen Himmel schrieben … und da hatte es seine Schwester gesagt.
»Komplementärmenschen.«
So