Название | Seeland Schneeland |
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Автор произведения | Mirko Bonné |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783731761891 |
Doch gerade diese Enge mochte er an den zwei Zimmern, ja war es nicht sogar so, dass ihm sein Refugium umso besser gefiel, je weniger Platz er darin hatte? Mit kaum mehr als zwei Koffern voller Wäsche, einem Overall und Manchesteranzug, dem Fahrrad, einem Bücherpaket und der Nachttischleuchte, die seinem Schwager Herman gehört und die Regyn ihm überlassen hatte, war er bei Mrs. Splaine eingezogen. An dem zum Möbelwagen umfunktionierten Ungetüm von Cabriolet hatte Dafydd nicht mal das Verdeck öffnen müssen.
In den acht Monaten seither hatten sich die Zimmer gefüllt. Von seinen sonntäglichen Besuchen in Pillgwenlly kehrte er nie mit leeren Händen in seine Bude zurück – obwohl er noch immer über fast jeden Gegenstand, den er aus dem Elternhaus abtransportierte, gleichgültig, wie alt oder winzig das begehrte Objekt war, seiner Mutter Rechenschaft abzulegen hatte. »Wozu das?«, fragte sie, »und für wie lange?« – ehe sich Gwen Blackboro »das Ding aus dem Leib schnitt«, wie sie es nannte, und ihn zähneknirschend damit ziehen ließ.
Für sie lagen seine Motive auf der Hand: Wieso sollte ihr Jüngster die Mumie eines Hirschkäfers mitnehmen wollen, die er als Siebenjähriger bei einem Ausflug an den Ebbw gefunden hatte und die sie seither, als wäre das abscheuliche Insekt ein altägyptischer Skarabäus-Glücksbringer, auf dem Kaminsims aufbewahrte? Wozu brauchte er die Luftpumpe seines Vaters, die nur noch asthmatisch keuchte, und warum das Zelt, das, in lange vergangenen Vorkriegssommernächten im Garten unter der Kastanie aufgebaut, nun so mottenzerfressen war, dass man darin hätte duschen können? Warum, wenn nicht deshalb, weil es nun diese alte Schachtel gab, die ihm – »Ach, Merce, tu doch nicht so!« – vorgaukelte, eine bessere Mutter zu sein.
Im Gegensatz zu seiner Mutter Gwendolyn kam es ihm nie in den Sinn, seine Vermieterin mit ihr zu vergleichen, egal in welcher Hinsicht. Eher verglich er sich selbst mit Agatha Splaines Katze, und das nicht nur wegen ihres Namens. Anders als er wurde Misery von keinem gezwungen, das Haus zu verlassen. Sie schlief täglich 22 Stunden lang. Wollte sie liebkost werden, wurde sie liebkost. Misery war zufrieden mit den Dingen, die sie umgaben, genauso wie mit denen, die sie nicht umgaben – von ihnen wusste sie ja nicht. Verschwand ein Gegenstand oder lag plötzlich irgendwo ein neuer, so staunte sie gleichermaßen oder schien bloß unbeteiligt zu registrieren, dass es etwas weniger zu bestaunen gab.
Nein, Gleichmut war keine seiner ausgeprägten Eigenschaften. Nur sein Staunen war grenzenlos wie Miserys.
Für seine Sammelwut hatte er keine plausible Erklärung. Manchmal war er allerdings überzeugt, dass er den alten Plunder nur deshalb in die Skinner Street schaffte, damit er nachts, wenn er im Bett lag, von Dingen umgeben war, die er auflisten konnte, um nicht an Ennid zu denken.
2 Bücherborde,
57 Bücher, zumeist antarktisch oder poetisch,
6 gerahmte Photographien – Shackleton, Amundsen, die Nimrod, die Fram, die Endurance (aufgenommen von ihrem Expeditionsphotographen Hurley in Buenos Aires), Bakewell und er mit zwei Hunden (Sailor und Shakespeare) vor Packeisgebirgen,
1 alter Holzpropeller – Antrieb der ausgemusterten Sopwith Triplan von William Bishop, mit der Dafydd beim einzigen Flug seines Lebens über Newport und Pillgwenlly gekreist war,
1 mumifizierter Käfer (lucanus cervus),
3 ausgestopfte Seevögel – Möwe, Riesensturmvogel, Skua (der ein Auge fehlte, weshalb er zärtliche Gefühle für sie hegte),
1 Stapel Ansichtskarten, darunter eine von Shackleton, auf der auch Crean unterschrieben hatte, und eine andere – eine Rarität – von Tom Crean allein, beide abgestempelt in Annascaul, wo der Antarktiker, den jeder nur den »Irischen Riesen« nannte, heute einen Pub betrieb,
1 Sicherheitsnadel (diese und vier andere hatten Creans zerfetzte Hose zusammengehalten, als Shackleton, Crean und er selbst nach drei Tagen Fußmarsch über die Gletscher von Südgeorgien zur Stromnesser Walfängerstation gelangt waren),
1 Fahrradgepäckträger (Hermans),
1 Fahrradluftpumpe (Dads), inzwischen repariert,
1 Stück eines Wirbelknochens, faustgroß, Wal (Blauwal), mitgenommen aus Stromness,
1 Speerspitze, vielleicht indianisch (bestimmt indianisch), gefunden in einem Straßengraben von Valparaiso,
1 alter Seesack, auch der aus Valparaiso (und doch walisisch), Geschenk eines skorbutkranken Waliser Matrosen,
1 Spange, eingraviert die Initialen RB (und unverändert seit über 20 Jahren duftend nach Regyns Haar).
Von der Endurance hätte er gern eine Planke gehabt, Orde-Lees’ Grammophon, einen Topf aus Greens Kombüse, ein Stück einer Leine oder nur den Fetzen eines ihrer Klüversegel. Aber mit dem Schiff war alles untergegangen, was sie mit den drei Beibooten nicht mehr übers Eis hatten schleppen können.
So starrte er ins Dunkel des Zimmers, froh, wenigstens die Photographie zu besitzen, die den kleinen Dreimaster am Kai von La Boca zeigte, wenige Tage, bevor sie Buenos Aires Richtung Eis verlassen hatten – eine von 100 Aufnahmen, die Frank Hurley retten konnte und mit Shackletons Erlaubnis mitnehmen durfte.
Mehr besaß er auch von Sir Ernest nicht: eine Photographie und zwei Bücher, die er sich aber erst nach seiner Rückkehr in Newport gekauft hatte. Shackleton hatte dafür gesorgt, dass keiner von ihnen Persönliches aus dem Eis mitnahm. Selbst einen Brief, einen Kamm, eine Haarlocke befand er für »viel zu schwer«.
Erst vor ein paar Wochen hatte er einen Kamm seiner Mutter aus Pillgwenlly mitgehen lassen, der ihn auf unerklärliche Weise an seine Kindheit erinnerte. Im Dunkeln sah er die an die Tapete geklebten Zeichnungen seines Neffen leuchten. Er hatte Regyn ein Dutzend von Willie-Merce’ Buntstiftgemälden abgetrotzt. Briefe von Bakewell, die der ihm von Geschäftsreisen nach Südamerika schrieb, oder Postkarten von Tom Crean aus Annascaul verwahrte er in einer Schatulle, die ihrerseits ein Andenken war: Sein Großvater hatte sie getischlert und mit Intarsien versehen, während er selbst, vier oder fünf Jahre alt, staunend dabeistand und dem alten Mann mit den langen weißen Haaren auf den Fingern die Holzplättchen reichte.
Offenbar war er ein hoffnungsloser Nostalgiker, ein durch und durch sentimentaler Memorabilienjäger, jemand, o Gott, der nicht in sich selbst ruhte, sondern sich verstreute auf Orte, Gegenstände und Menschen, die ihn umgaben. Er drehte sich zur Wand, schloss die Augen und kniff sie fest zusammen. Schluss mit Listen. Schlafen, träumen, aufwachen, weitermachen! Er hörte den gegen die Fenster trommelnden Regen und fragte sich, ob es wirklich so war, dass er von allen Menschen, die ihm etwas bedeuteten, Andenken sammelte und Dinge hortete, als wäre er der einzige Wärter und zugleich einzige Besucher eines Merce-Blackboro-Gedächtnismuseums.
Falls es so war – was besaß er von Ennid?
Nichts! Nicht den kleinsten Gegenstand, keinen Knopf ihres Regenmantels, keine Wimper, die ihr ausgefallen und auf seinem Jackenärmel liegen geblieben wäre. Er drehte sich zurück, mit einem Mal war er wieder hellwach. Nichts von ihr zu besitzen bedeutete keinesfalls, dass sie ihm unwichtig war, im Gegenteil!
Was weiß ich von ihr, fragte er sich im Stillen, warum liebe ich sie … wieso ausgerechnet sie? Was hat sie an sich, das sie so einzigartig macht?
Er überlegte sehr lange.
Dann sagte er sich: »Mach eine Liste …«
Was er von ihr wusste, hatte ihm fast alles Regyn verraten.
Seine Schwester war etwas älter als Ennid, doch weil beide Mari Simms und Gonryl Frazer kannten, wurden auch sie Freundinnen und verloren sich schon aufgrund der Geschäftsbeziehungen ihrer Väter nie aus den Augen.
Sie kannten sich lange (»sind liebe Freundinnen«, würde Ennid es nennen), im Grunde aber mochte Regyn Ennid nicht sehr (was Ennid nicht glauben würde), denn Reg hielt ihre Freundin für großspurig und allürenhaft (»Im Ernst?«, würde Ennid wahrscheinlich sagen. »Dann wird wohl was dran sein …«).