Der Leibarzt des Zaren. Tor Bomann-Larsen

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Название Der Leibarzt des Zaren
Автор произведения Tor Bomann-Larsen
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9788711448854



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einer Abteilung Kosaken vorbehalten. Sobald der Zug stand und die mechanische kaiserliche Treppe zum Bahnsteig heruntergeklappt worden war, sprangen vier mit Dolch und Gewehr bewaffnete Kosaken hinaus und stellten sich am Haupteingang der rollenden Residenz auf.

      Es war lange her, seit ich das Vergnügen hatte, im kaiserlichen Zug mitzufahren, da die Aufgabe, Seine Majestät während seiner Aufenthalte im militärischen Hauptquartier zu begleiten, Prof. Fjodorow überlassen war. Auch diesmal war es mein fünf Jahre jüngerer Kollege, der unseren hohen Klienten auf der Reise begleitete, die zur allerletzten Odyssee des kaiserlichen Hofzugs werden sollte.

      Wie stets war die Meldung ergangen, der zufolge man Soldaten an Brücken und anderen kritischen Punkten postieren sollte, die der Zug passieren würde, und ich nehme an, dass in dem parallelen Zarenzug, der zu einem anderen Zeitpunkt von einem anderen Bahnhof abfuhr, auch diesmal Feuer im Kessel gemacht wurde. Dessen Lokomotive war genauso blankgeputzt und schwarz, die Wagen waren genauso leuchtend kaiserblau; dies war der leere Gespensterzug, den noch niemand hatte in die Luft sprengen können.

      Bei der Nachmittagsvisite des Tages, an dem der Zar abgereist war, entdeckte ich einige wenige schwach erhöhte dunkelrote Punkte neben Olga Nikolajewnas rechtem Auge. Als ich eine Haarlocke beiseiteschob, fand ich mehrere weitere Punkte auf der Stirn.

      Anfang Februar hatte der Zarewitsch Besuch von einer Handvoll herbeibekommandierter Kadetten gehabt. Sie hatten mit ihren Holzgewehren einen ganzen Nachmittag exerziert. Später erhielt ich die Meldung, dass man bei einem der Kadetten die Masern festgestellt hatte. Es sagt sehr viel darüber aus, unter welch quarantäneähnlichen Bedingungen die Zarenkinder aufwuchsen, dass sich bisher keins von ihnen mit dieser Krankheit angesteckt hatte, die Kinder normalerweise schon trifft, bevor sie fünf Jahre alt sind. Olga Nikolajewna räumte ein, sich schon seit einigen Tagen unpässlich gefühlt zu haben. In ihrer Mundhöhle entdeckte ich Andeutungen weißer, unregelmäßig geformter Flecken. Daraufhin untersuchte ich Alexej Nikolajewitsch und registrierte die ersten Ausschläge am Bein. Keiner der anderen drei wies deutliche Symptome auf, aber Tatjana Nikolajewna klagte über zunehmende Schlappheit.

      Am nächsten Tag brachen auf den Straßen Petrograds die Unruhen aus. Der Anlass war Brotknappheit, das heißt eigentlich war es die Furcht vor Knappheit. Es hatte sich das Gerücht verbreitet, es stünden neue und strengere Rationierungsvorschriften für Mehl bevor. Dann folgten Schlag auf Schlag die Ereignisse, die später die Bezeichnung »die Revolution« erhielten; Plünderung, Streiks, Straßenbahnblockaden, Brandstiftungen, Totschlag, Meuterei. Die Ereignisse entwickelten sich so rasch wie eine Epidemie in einem Feldlazarett. Das lässt sich, wie es später auch geschah, nur mit zwei Dingen erklären: Erstens mit den ungeheuren Opfern des Krieges, der Schwächung Russlands durch die unfassbaren Blutverluste, und zweitens mit der untergrabenen Autorität des politischen Regimes.

      Ich gehöre nicht zu denen, die die Begründung für die Revolution auf den Straßen suchen, in den Schlangen der nach Brot anstehenden Menschen oder in den Fabriken, nicht einmal in den politischen Versammlungen, auch nicht bei der Duma im Tauride-Palais oder, was noch ferner liegt, bei den Marxisten an den Cafétischen in der Schweiz. Lassen Sie mich eine Frage formulieren: Wenn der Thronfolger in Spala gestorben wäre, wäre der Tod dann durch den Sturz im Boot verursacht oder durch die Kutschfahrt auf dem Kiesweg? Vielleicht müsste man die Ursache auch in seinem Körper suchen, den ein heftiger Schlag und eine starke Erschütterung getroffen hatten? Also im Blut der Dynastie?

      Als der Ausbruch der Masern festgestellt worden war, beschloss ich, in den Alexanderpalast zu ziehen, der inzwischen in ein kaiserliches Hospital verwandelt worden war, so wie das Soldatenlazarett im Katharina-Palais. Die Zarin legte ihr Lieblingskostüm an, die Rotkreuz-Tracht mit der gestärkten weißen Schürze und der nonnenähnlichen Kopfbedeckung. Olga Nikolajewna (inzwischen ganz mit roten Punkten übersät), Tatjana Nikolajewna und der Zarewitsch begaben sich mit triefenden Nasen, starkem Husten und hohem Fieber zu Bett.

      Auch die Hofdame Anna Wyrubowa erwies sich schon bald als angesteckt, und die Zarin verlangte, dass sie aus der Wohnung am Schlosspark aus- und in den Palast umziehen solle, wo man ein eigenes Krankenzimmer für sie eingerichtet hatte. Hier hielt die Dame Hof, umgeben von bis zu sechs Ärzten und einer Reihe von Krankenschwestern, darunter die Zarin. Anna Wyrubowa war nicht nur das wichtigste Bindeglied Ihrer Majestät zu Rasputin gewesen, sondern auch die aus den verschiedenen Kreisen in Petrograd gespeiste Nachrichtenquelle, der sie am meisten vertraute. Solange die Wyrubowa mit 40 Grad Fieber zu Bett lag, war der Grad der Desinformation im Palast noch höher als gewohnt. Die Isolation wurde umso offenkundiger, als ich aus Rücksicht auf die empfindlichen Augen der Patientin angeordnet hatte, in sämtlichen Krankenzimmern die Gardinen zuzuziehen.

      Mein Kollege Professor Fjodorow unternahm in dieser Situation einen allerletzten Versuch, die Verfassungskrise zu lösen, die, wie allen inzwischen klar war, anscheinend unaufhaltsam näher rückte. Als die telegrafischen Meldungen vom Ausbruch der Masern Seine Majestät im Hauptquartier erreichten, während etwa gleichzeitig die ersten Bulletins über die nach Brot anstehenden Menschen in Petrograd eintrafen, schlug der Professor vor, die Zarin solle mit ihren Kindern zur Rekonvaleszenz auf die Krim reisen, sobald die Krankheit überwunden sei. Ich konnte nicht anders, als diesen Vorschlag zu unterstützen, als die Zarin die Frage später mit betont gleichgültiger Miene zu Sprache brachte.

      »Der Palast muss ja auf jeden Fall gründlich desinfiziert werden«, fügte ich hinzu.

      »Das Gleiche schreibt auch Seine Majestät«, erwiderte sie. »Er scheint es für einen ausgezeichneten Vorschlag zu halten.«

      Nicht zufällig fiel dieser Plan einer Rekonvaleszenz direkt mit den Vorschlägen zusammen, die schon mehrmals geäußert worden waren, dass nämlich die Zarin in den Sommerpalast Liwadia auf der Krim verbannt werden solle, damit sie sich nicht mehr auf ihre völlig unberechenbare Weise in der Hauptstadt als »Stellvertreterin« des Zaren in staatliche Angelegenheiten einmischen könne. War die Begründung zunächst politisch gewesen, war sie jetzt medizinischer Natur, und da konnte sogar der Zar sie befürworten, und das mit einem Enthusiasmus, den er vor seiner Gemahlin nicht ganz hatte verbergen können.

      Am 28. Februar 1917 setzte sich der Hofzug des Zaren von dem militärischen Hauptquartier in Mogilew aus in Bewegung, diesmal in nördlicher Richtung nach Petrograd. Mehrere Tage lang war der Zug ohne Kontakt mit der Umwelt, denn er landete an einem Ort, den niemand erwartet hatte. Warum hielt der Zug des Zaren in Pskow?

      Das war die Stadt, in der er abdanken sollte.

      Was sollen wir in Jekaterinburg?

      In der Nacht zum 3. März um halb vier läutete das Telefon im Alexander-Palais. Es war ein Mitglied der provisorischen Regierung, das mit dem Leibarzt des Zaren zu sprechen wünschte:

      »Ist der Thronfolger tot?«

      Die Frage war ebenso überraschend wie der Zeitpunkt, zu dem sie gestellt wurde.

      »Die Masern sind keine tödliche Krankheit«, entgegnete ich, »es sei denn, es kommt zu Komplikationen.«

      Nachdem ich eingehängt hatte und in mein Zimmer zurückgekehrt war, wurde die Frage akut: Der Zar konnte gestürzt und die Umwälzung eine Tatsache sein, aber warum in aller Welt sollte der Thronfolger tot sein?

      Spät am nächsten Tag kam Großfürst Paul in die Residenz und erstattete Bericht. (Ganz Petrograd war längst orientiert.) Der Zar hatte am Abend des 2. März abgedankt, nicht zugunsten seines Sohnes, des Thronfolgers, sondern für seinen Bruder, Großfürst Michail, zugunsten des Mannes, der den Versuch gemacht hatte, seinen Platz in der Thronfolge gegen ein Leben in Schönheit zu vertauschen. Wie konnte der Herrscher seine königlichen Insignien niederlegen, ohne dass der Zarewitsch Zar wurde? Nur der Tod konnte dem Volk eine begreifliche Erklärung geben. Aus diesem Grund läutete das Telefon.

      Um meine eigene Antwort zu finden, muss ich das am Hof übliche klischeehafte Denken aufgeben und nach ihr selbst draußen auf den nächtlichen Bahnsteigen suchen.

      Ostersamstag, den 21. April

      Der Zar nahm vor dem Mittagessen ein Bad, die Zarin danach. Säuberung statt einer Beichte. Nach dem Tee wurden die Ikonen hereingetragen