Название | Der Leibarzt des Zaren |
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Автор произведения | Tor Bomann-Larsen |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9788711448854 |
Als wir die Holztreppe hinaufgingen, erkundigte er sich sehr rücksichtsvoll, ob ich mir um meine Kinder in Tobolsk große Sorgen mache. Das tue ich selbstverständlich, doch ich erwiderte:
»Mit ihren achtzehn und zwanzig Jahren sollten sie auf sich selbst achtgeben können, sofern es überhaupt möglich ist, unter den herrschenden Zuständen auf etwas zu achten.«
Seine Majestät seufzte. Er brauchte nicht zu sagen, dass auch seine Gedanken sich in Tobolsk befanden, wo sie zuerst und zuletzt um das Krankenlager des Zarewitsch kreisten. Ich brachte das Thema nicht zur Sprache, da ich keinerlei Trost zu geben hatte.
Nikolaj Alexandrowitsch kommt ohne den Hofstaat erstaunlich gut zurecht, doch wenn er seine Kinder nicht um sich hat, erweckt er einen bemitleidenswerten Eindruck. Der Alleinherrscher ist für die Einsamkeit nicht geschaffen.
Es sind die Krankheit und seine Stellung als Thronfolger, die dem Zarewitsch in den Augen beider Eltern eine absolute Sonderstellung verleihen. Sowohl für die Mutter als auch für den Vater ist der Sohn der Lebensinhalt, der einzige Mensch, den sie formen sollen, der das Ererbte erheben und weitertragen sollte.
Die Trennung fällt Alexej Nikolajewitsch bestimmt nicht leichter. Er hat eine starke Bindung an seine Mutter und sieht, wie nicht anders zu erwarten, in dem Vater sein Vorbild. Und obwohl Nikolaj Alexandrowitsch alles andere als ein dünkelhafter Mensch ist, räumt er dieser Bewunderung einen sehr hohen Stellenwert ein. Ich glaube, dass er die Sehnsucht des Sohns ebenso stark empfindet wie seine eigene. Vielleicht dem Alter, aber nicht der Reife nach war er erwachsen geworden, als er selbst seinen Vater verlor, den großen, hoch bewunderten Zaren Alexander. Nichts wünscht er seinem einzigen Sohn weniger als einen Vater, der ihm die Bürde der Macht auf die Schultern legt, wie es sein Vater einst getan hatte.
Alexej Nikolajewitsch blickt zu seinem Vater auf, und Alexandra Fjodorowna blickt zu ihrem Sohn auf. Nikolaj Alexandrowitsch blickt zu seiner Gemahlin auf. Dieses Machtdreieck lässt sich deuten und umdeuten, doch im Verlauf der letzten dreizehn Jahre hat es hinter den Säulenfassaden und unter den Zwiebeltürmen das psychologische Zentrum im Leben des Reiches gebildet.
Um halb sieben wurde endlich Tee serviert. Der Zar las aus dem Buch Hiob. Danach holten die Zarin und Maria Nikolajewna alles, was sie an Ikonen und heiligen Gegenständen mitgebracht hatten, und platzierten sie auf dem Schreibtisch gleich in der Nische.
Auf Nikolaj Nikolajewitsch Ipatjews Schreibtisch wurden zwei Kerzen angezündet. Es ist sein Haus, es sind seine Möbel, seine Bilder und Teppiche; er ist Hauptmann im Ingenieurkorps des Heeres, und wie es heißt, auch Kaufmann. Ich weiß nicht, was er kauft und verkauft, doch hat er seine Geschäfte mit Geschick betrieben. Das Haus ist nicht viele Jahre alt, es ist solide, aufwendig, fast übertrieben und recht geschmackvoll eingerichtet. Alles weist auf einen soliden Bürger hin, einen der bestsituierten Bewohner der Stadt. Er hat es sogar geschafft, auf dem höchsten Punkt Jekaterinburgs zu bauen, aber das Eigentumsrecht musste der Schwerkraft der Geschichte weichen, und so wurde die Villa des Kaufmanns konfisziert, als Gefängnis eingerichtet und in ein Schloss verwandelt.
Heute Abend, zur Zeit der Messe, versammelten wir uns um den Schreibtisch. Die Nische verleiht dem Raum ein eigenartiges, beinahe sakrales Gepräge; das Blattgold, das die Christusköpfe auf dem Tisch schmückt, findet einen Widerschein in den Bilderrahmen der Gemälde an den Wänden und in den vergoldeten Leisten entlang der Brüstung und unterhalb der Decke. Das Fehlen eines Geistlichen, einer Stimme außerhalb von uns selbst als Sprachrohr der heiligen Texte, lastete am schwersten auf uns. Seine Majestät begann mit seiner gedämpften, melodischen Stimme laut aus den Evangelien vorzulesen; danach gab er mir durch ein Zeichen zu verstehen, dass ich fortfahren solle, worauf wir die zwölf Bibelstellen abwechselnd vorlasen. Niemand sang. Mochte der Zar auch als der hohe Beschützer der orthodoxen Kirche gegolten haben, fühlt er sich für diese Aufgabe ebenso wenig geweiht wie ich selbst kraft meines medizinischen Examens.
Wir endeten mit einem Gebet und beteten wie immer für das Vaterland und unsere Kinder, deren Leben in fremde Hände gelegt ist.
Es ist noch keine sechs Jahre her, dass das gesamte Russische Reich auf die Knie fiel und für das Überleben des Thronfolgers betete. Vor der heiligen Ikone in der Kasan-Kathedrale stand die Bevölkerung von St. Petersburg Tag und Nacht im Gebet. Ich habe keine bessere Erklärung gefunden, als dass es die Knienden waren, die ihn retteten, die Tausende und Abertausende gottesfürchtiger Stimmen, die zum Himmel emporstiegen: Herr, lass ihn leben. Dieses Kind ist Russlands Zukunft!
Wenn der Glaube Berge versetzen kann, können Gebete vielleicht Steine für einen Dammbau sein?
Der Oktober 1912 war einer der entsetzlichsten Monate meines Lebens. Er begann mit einem Sturz in einem Ruderboot an der Grenze zwischen Polen und Weißrussland beim Jagdschloss Belowize. Das kaiserliche Gefolge war im September dorthin gereist, weil der Zar auf die Jagd gehen und sich nach den herbstlichen Feiern zum hundertjährigen Jubiläum der Niederlage Napoleons ausruhen sollte. In den gewaltigen Wäldern gab es Hirsche, Elche und Wisente im Überfluss. Die vier Großfürstinnen verbrachten die Tage zu Pferde. Der Zarewitsch durfte nicht reiten, doch an den Tagen, an denen der See glatt dalag, erhielt er die Erlaubnis zu rudern. Hier geschah das Unglück, als er vom Anleger ins Boot springen sollte.
»Au!« Dieser kleine Ausruf war so leise wie nur möglich, um keinen Schrecken um sich zu verbreiten. Doch der Ausruf kam und erregte Schrecken. Alle, die sich in der Nähe des Boots befanden, wussten, dass schon der kleinste Schmerzensschrei des Thronfolgers das Startsignal für eine dynastische Krise sein konnte. Alexej Nikolajewitsch hatte sich an der linken Hüfte gestoßen. Für einen beliebigen Achtjährigen ein harmloser, unbedeutender Stoß; für einen Bluter jedoch dramatisch, unheilverkündend und vielleicht tödlich.
Bei der ersten Untersuchung entdeckte ich eine kleine Beule und verordnete absolute Ruhe. Nach vierzehn Tagen konnte die Verletzung endlich als geheilt gelten. Man brach auf und begab sich weiter nach Polen hinein, nach Spala. Wir reisten in zwei Zügen, dem kaiserlichen Hofzug mit seinen acht glänzenden, dunkelblauen Waggons, die zwischen den Fenstern diskret mit dem goldenen Doppeladler markiert waren, einer Residenz auf Schienen, sowie einem Kaiserzug ohne Kaiser, der dem echten haargenau entsprach. Die Feinde des Zarentums sollten nie wissen, in welchem Zug sich Seine Majestät gerade befand.
Im Gegensatz zu dem prunkvollen und luxuriösen Schloss Belowize ist der Bau in Spala ein düsterer, zweistöckiger Holzkasten ohne romantische Türme oder Ausschmückungen. Aber auch dieser Jagdsitz ist von meilenweiten Wäldern umgeben, in denen das kaiserliche Wild immer dicht steht und geduldig auf sein gekröntes Oberhaupt wartet.
Vom Haus führte ein Kiesweg nach draußen. Alexandra Fjodorowna konnte sich nicht enthalten, den Rekonvaleszenten zu einer Kutschfahrt mitzunehmen. Der Weg war holperig. Kieswege sind holperig. Als der Wagen zurückkehrte, war Alexej Nikolajewitsch steif vor Schmerzen. Die Mutter war hysterisch vor Angst. Ich stellte ernsthafte Blutungen sowohl in der Hüfte als auch in der Leiste fest. Die Körpertemperatur begann zu steigen. Unsere führenden Experten, die Ärzte Prof. Fjodorow, Prof. Rauchfuss, Dr. Ostogorskij und Dr. Derewenko wurden umgehend durch Boten aus St. Petersburg geholt.
Die Jagd war untadelig. Jeden Abend wurden Reihen erlegter Hirsche aufgeschnitten und mit Eichenzweigen im Bauch vor dem langgestreckten Holzgebäude auf der weiten Rasenfläche ausgelegt und im Lichtschein brennender Fackeln bewundert. Ein Militärorchester spielte auf.
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