Название | Der Leibarzt des Zaren |
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Автор произведения | Tor Bomann-Larsen |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9788711448854 |
Drinnen im Jagdschloss, im Obergeschoss lag Alexej Nikolajewitsch in einem breiten Messingbett und wand sich vor Schmerzen. Das Gesicht wurde immer weißer und weißer. Wir standen wie gelähmt da, fünf von Russlands besten Medizinern, und beobachteten eine Schwellung am Unterbauch, ebenso oberhalb der linken Leiste. Der zarte Leib krümmte sich immer mehr, als sich das Blut staute und die Schwellung noch mehr wuchs.
Nach fünf Tagen ging der Hofminister zum Zaren und bat ihn um die Erlaubnis, ein medizinisches Bulletin über den lebensbedrohenden Zustand des Patienten zu veröffentlichen. Man könne den acht Jahre alten Thronfolger nicht einfach nur für tot erklären, ohne dass dem eine Krankheit vorangegangen, ohne dass es zu einem Unglück oder einem Attentat gekommen sei. Was werde Russland glauben, was werde das Volk denken?
Dieses erste Bulletin von einem der vielen Krankenlager Alexej Nikolajewitschs trug meine Unterschrift. Die Meldung löste eine momentane Erschütterung bei dem desorientierten russischen Volk aus, als sie am 9. Oktober 1912 in den Zeitungen des Landes kundgetan wurde. Das Kommuniqué ließ keinen Zweifel daran, dass der Thronfolger sich auf der Schwelle des Todes befand, enthielt aber kein Wort über das kranke Blut, über die Schwellung, die Millimeter um Millimeter weiterwuchs, oder über die Tatsache, dass sich der Leib des Knaben unaufhörlich wand. Dennoch ging ein Schrei durch jeden einzelnen gedruckten Buchstaben. Das Zarenhaus krümmte sich vor Schmerz. Die Jagd wurde abgeblasen, die Messinginstrumente eingepackt, und damit kehrte wieder Stille unter den Bäumen ein. Stattdessen wurde vor dem Jagdschloss ein großes grünes Zelt errichtet. Dies war das Feldlazarett der letzten Hoffnung, Vater Wassiljews Hospital, in dem sich das gesamte Gefolge, die Jagdmannschaften, Musiker ohne Instrumente sowie Bauern aus der Gegend versammelt hatten, um mit dem Zaren in ihrer Mitte zu beten, wie es nach der Veröffentlichung in ganz Russland geschah. Gleichzeitig erreichte die Schwellung die Größe einer Pampelmuse. Die Temperatur stieg auf fast 40 Grad.
Am 10. Oktober betrat Vater Wassiljew das Krankenzimmer und spendete das Totensakrament. Der Patient fand zum ersten Mal wieder Ruhe. Er bat um ein Grab im Wald, um ein kleines Monument aus Stein unter den Baumkronen. Die Temperatur sank auf 38,2 Grad.
Am Nachmittag des 11. Oktober wurde von dem westlich von Warschau gelegenen Spala ein Telegramm in das Dorf Pokrowskoje östlich des Ural geschickt. Absenderin war die vertraute Hofdame der Zarin, Anna Wyrubowa. Empfänger war Gregorij Rasputin. Der Gottesmann wurde angefleht, für den Thronfolger zu beten.
Am nächsten Morgen kam eine Antwort an die Zarin, die ständig am Krankenbett des Sohns wachte.
»Gott hat Deine Tränen gesehen und Deine Gebete gehört. Verzweifle nicht. Der Kleine wird nicht sterben. Lass nicht zu, dass die Ärzte ihn zu sehr quälen.«
Der Patient wurde auf ein Sofa gehoben, auf dem er endlich einschlief. Die Ärzte stahlen sich aus dem Krankenzimmer davon. Wir hatten ihn zu sehr gequält.
In der folgenden Nacht legte sich Frost auf die Wälder um das Jagdschloss. Die Schwellung hatte aufgehört zu wachsen, die Blutung war gestillt, das Fieber sank weiter.
Eine solche Blutung ist wie eine Überschwemmung, die gegen einen Damm drückt. Das Wasser steigt und steigt, und die Bevölkerung kann nichts weiter tun, als auf das Eintreten der Katastrophe zu warten. Aber plötzlich, wenn vielleicht nur noch Zentimeter fehlen, hört das Wasser auf zu steigen. Die Menschen hinter dem Damm atmen erleichtert auf und danken Gott dafür, dass von den Berghängen nicht noch mehr Wasser herunterkommt.
Ich erkenne die Machtlosigkeit der ärztlichen Wissenschaft und akzeptiere das Vorhandensein von Kräften außerhalb der Reichweite der physischen Gesetze, ja, ich glaube, dass ein ganzes Volk mit seinen Gebeten eine solche Kraft sein kann, aber nichts kann mich dazu bringen, zu meinen, dass es die Gebete des einen Mannes waren, der an einem Tag im Oktober 1912 den Weg durch die Wolkendecke zu Gott Vater fand und so verhinderte, dass der Damm brach.
Es wurde die ungeheuer anspruchsvolle Aufgabe von mir und meinen Kollegen, das Blut in die Glieder zurückzubringen und dem Körper seine Funktionen zurückzugeben. Erst Mitte Oktober durfte die kaiserliche Familie Spala verlassen. Der ganze Kiesweg vom Jagdschloss bis zur Bahnstation wurde Meter für Meter planiert. Der kaiserliche Zug kroch auf dem Bahnkörper von Warschau nach St. Petersburg, ohne eine Geschwindigkeit von 20 Stundenkilometern zu überschreiten.
Genau während dieses langgezogenen Krankentransports überbrachte man dem Zaren in seinem Waggon ein empörendes Telegramm seines jüngeren Bruders, des Großfürsten Michail. Es war in Cannes aufgegeben worden. Der Großfürst gestand, mit der zweimal geschiedenen Anwaltstochter Natalja S. (der späteren Gräfin Brasowa) die Ehe geschlossen zu haben. Dies war ein direkter Eingriff in die empfindlichste dynastische Frage, da die Ehe mit einer Bürgerlichen den Großfürsten automatisch von seinem Platz nach Alexej Nikolajewitsch in der russischen Thronfolge ausschloss. In seiner Panik wegen der Krankheit des Zarewitsch war Michail Alexandrowitsch außer Landes geflüchtet und hatte sich in Wien in einer abgelegenen Straße von einem serbischen Priester trauen lassen. Da alle Augen auf den Todeskampf in Spala gerichtet waren, entzog sich der Bruder des Zaren seinem kaiserlichen Schicksal, indem er eine zweimal geschiedene Schönheit heiratete.
Niemand hasste Gräfin Brasowa mehr als Alexandra Fjodorowna. (Was der Gräfin in der besseren Gesellschaft von St. Petersburg eine gewisse Sympathie sicherte.) Die Zarin war ohne jeden Zweifel das Gehirn hinter den gnadenlosen Repressalien, die den Großfürsten danach trafen. Überdies förderte sie den Gedanken, dass Olga Nikolajewna auf den Platz nach ihrem Bruder in der Erbfolge nachrücken solle. Dieser Vorschlag wurde zum zweiten Mal geäußert. Das erste Mal geschah es vor der Geburt des Zarewitsch, als der Zar im Jahr 1900 an einem sehr ernsten Anfall von Typhus litt. Leider ist Alexandra Fjodorowna jedes Mal die eifrigste Vorkämpferin für die matriarchialische Änderung der gesetzlichen Erbfolge gewesen. Mit ihrer äußerst distanzierten Haltung zu den übrigen Mitgliedern der Dynastie erhielt sie selbst für einen so naheliegenden Vorschlag keine Unterstützung.
Mir persönlich hat der Gedanke an die Großfürstin Olga als Russlands künftige Zarin immer zugesagt.
Ein ganzes Jahr arbeiteten wir daran, das Bein geradezurichten, das sich im Verlauf der Krankheit bis zum Brustkorb hochgezogen hatte. Am Bein wurde eine Metallschiene befestigt, die wir Zentimeter für Zentimeter streckten, wonach das Bein nach und nach seine Beweglichkeit zurückerhielt. Später machte er auf der Krim eine Kur mit Schlammbädern. Alexej Nikolajewitsch brauchte ein ganzes Jahr, um auf seinem linken Bein wieder annähernd normal stehen zu können.
Zum 300-jährigen Jubiläum der Romanow-Dynastie wurden vom Thronfolger mehrere Fotos aufgenommen, auf denen das krumme Bein getarnt war wie der verkrüppelte linke Arm Kaiser Wilhelms II. Dennoch musste er von einem hünenhaften Kosaken getragen werden, als die kaiserliche Familie am 6. März 1913 während der Prozession im Kreml beim Festgottesdienst in der Kasan-Kathedrale eintraf. Der Anblick des invaliden Thronfolgers löste in der Bevölkerung eine Welle der Unruhe aus.
Nur die Zarin war in der Folgezeit in ihrem Glauben unerschütterlich. Sie war vor dem letzten Bulletin am imaginären Grab ihres Sohnes an der äußersten Grenze ihrer Kraft angelangt. Unter dem frostklaren Himmel von Spala hatte sie ein Telegramm erhalten, das ihr Schicksal für immer mit Sibirien verbinden würde.
Es knarrt, wenn Sednjew sich auf dem Feldbett umdreht. Dafür schläft der Kammerdiener geräuschlos; nur selten einmal ertönt ein trockenes Räuspern. Ab und an ein plötzlicher Laut vom Zimmer des Kommandanten hinter der Wand.
Das Leben ist der Leib zwischen zwei Mysterien.
Karfreitag, 20. April
Sonne, leichter Schneefall.
Klarer als die bescheidene Größe des Hauses, als die beschränkte Größe des Gefängnishofs, ja sogar klarer als die deutliche Sprache der Palisade drückt der Anblick von Kommandant Awdejew den Charakter des neuen Regimes aus. Er ist zwar militärisch gekleidet, besitzt aber offenkundig keinen Rang. Man hat ihn von der Slokasow-Fabrik in der Nähe und dem örtlichen Parteiapparat rekrutiert. Er ist hochgewachsen und mager, trägt einen schmalen Bart in seinem unrasierten Gesicht, einen Revolver im Gürtel und Lederstiefel, die noch nie geputzt worden sind. Alexander