Der Dynamitkönig Alfred Nobel. Rune Pär Olofsson

Читать онлайн.
Название Der Dynamitkönig Alfred Nobel
Автор произведения Rune Pär Olofsson
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9788711462898



Скачать книгу

vergessen und war eitel Sonnenschein, wenn sie sich wieder begegneten.

      Erst jetzt begann Alfred einzusehen, daß die Umstellung von Petersburg nach Heleneborg in Stockholm für Emil furchtbar gewesen sein mußte. Doch hatte er nicht ein Wort darüber in seinen Briefen verloren ...

      Der Zwanzigjährige, den Alfred gleich wiedersehen sollte, war ein Fremder für ihn. Ja, eigentlich hatten sie sich lange, bevor die Katastrophe über die Nobels in Rußland hereingebrochen war, aus den Augen verloren. »Sprich mit Emil«, hatte Mutter gesagt, und es hatte wie eine Zauberformel geklungen. Doch – was wußte er über Emils Bereitschaft, Vater wieder ›zur Vernunft zu bringen‹? Emil, der immer als Vaters Goldsohn galt und ihm freiwillig ins Exil gefolgt war ... Denn ein Exil mußte es für Emil ja gewesen sein: geboren und aufgewachsen in dem kosmopolitischen Petersburg und russisch sprechend wie ein Einheimischer.

      Höchstwahrscheinlich unterstützte er Immanuel!

      Alfred war so in seine Erinnerungen und düsteren Vorahnungen versunken, daß er erst begriff, daß Mutter etwas gefragt hatte, als sie fortfuhr: »Oder wie?«

      »Entschuldigung – ich ...«

      »Du hast wohl den ganzen Tag nichts zu essen bekommen, denke ich mir – so entkräftet, wie du wirkst. Väterchen ist natürlich nicht auf den Gedanken gekommen, dich danach zu fragen.«

      »Ich kann ja eine Mohrrübe essen, zusammen mit Emil. Ich bin kein so großer Esser.«

      »Nein. Das bist du nie gewesen. Und jetzt, wo niemand nach dir sieht, ist es sicher schlimmer als je zuvor!«

      Er stand auf und blickte die Regale entlang. »Mir liegt die schwere russische Küche ja nicht besonders«, erwiderte er unbestimmt. »Doch, Bohnen«, sagte er, indem er auf einen Sack wies, »Bohnen sind schnell zubereitet und reichen ein paar Tage. Und kürzlich habe ich einen großen Stör aus der Newa heraufgesprengt. Den habe ich nicht einmal aufessen können, ehe ich hierherfuhr.«

      »Einen Stör!« Es war zu hören, daß Mutter ihm nicht glaubte. »Nun ja«, fuhr sie fort, »nicht einmal ich war ein besonderer Freund der ›schweren russischen Küche‹, wie du sie nennst. Doch mir fehlt der Borschtsch und die saure Sahne! Ich habe versucht, sie hier zu Hause nachzumachen, aber es wird nichts richtiges daraus ...«

      Er bemerkte, daß sie vor ›zu Hause‹ gezögert hatte. Was war zu Hause für den, der sechzehn Jahre lang ein großes Haus in Petersburg geführt hatte! Er war nahe daran, eine Frage zu stellen, die er, soviel begriff er, nicht stellen durfte, als die Türglocke anschlug und ein junger, schlanker Mann eintrat.

      Emil blieb direkt an der Tür stehen und schaute Alfred an. Und Alfred fand Gefallen an dem, was seine Augen sahen: ein Gesicht mit scharfem, wachem und dennoch freundlichem Blick – der Mund, oft mehr mit dem eines Mädchens verglichen, hatte noch immer seine typische Zeichnung, war jedoch bestimmter geworden. Seine jungen Züge versuchte Emil durch einen Backenbart älter wirken zu lassen, der bis zum Kinn hinabreichte, die Kinnspitze aber frei ließ.

      Dann verzog sich der Mund zu dem gewinnenden Emilschen Lächeln. Rasch war er zu Mutter getreten und küßte sie auf die Wangen, während er eine Hand zu Alfred hinüberstreckte. Sogleich umarmten die Brüder einander; Alfred war bei zärtlichen Gesten stets verlegen, doch dieses Mal umarmte auch er den Bruder und freute sich über dessen sichtbare Zeichen der Freude.

      Emil machte sich los, doch ließ er die Hände an Alfreds Taille liegen.

      »Mutter hat sicher schon gesagt, daß du vom Fleisch gefallen bist und nicht ordentlich zu essen scheinst, also das erspare ich mir!«

      Alfred verzog das Gesicht zu einer Grimasse. Emils offensichtliche Wiedersehensfreude brachte ihn auf eine Idee:

      »Hej, Lime!« sagte er.

      »Hej, Derfla!«

      Es war sicher zehn Jahre her, daß sie sich mit diesen ›umgekehrten‹ Vornamen begrüßt hatten – und mit einemmal verkürzte sich der Abstand zwischen ihnen um diese zehn Jahre. Und jetzt fühlte Alfred auch, daß er ›mit Emil würde reden können‹!

      Emil rückwärts gelesen wurde entweder zu einem englischen Wort und konnte Vogelleim, Kalk oder Linde oder auch eine Art Zitrone bedeuten – ganz nach Wunsch und Bedarf. Oder es wurde französisch zu einer Feile. War Alfred in Stimmung, den zärtlichen Beschützer hervorzukehren, machte er eine Art Diminutiv aus dem erfundenen Namen und nannte Emil ›Limaille‹ – Feilspan.

      »Alfred, rückwärts gelesen, klingt wie ein Asengott, den es nicht gibt«, scherzte Emil. Und Alfred dachte an Ve und Höner und begriff, daß derjenige, dessen Name nichts bedeutete, wirklich dümmer sein mußte als seine Brüder! Als Emil deutsch zu lernen begann, kam er darauf, daß Alfred ›Der Fla‹ heißen konnte – was es zwar auch nicht gab, doch was man eventuell als Kurzform von ›flau‹ durchgehen lassen konnte, was schwach, matt, schlapp, träge bedeutete. Eine Auslegung, die Alfred jedoch gar zu böswillig fand, und deshalb blieb es bei Derfla ohne Bedeutung.

      Während die Brüder einander wieder näher gekommen waren, hatte Andriette in dem Gelaß hinter dem Laden eine kleine Mahlzeit für sie zurechtgezaubert. Oh, so etwas konnten nur Mütter! Sie stürzten sich wie ausgehungerte Wölfe auf die Leckerbissen und priesen sie in allen Tonarten. Kalte Hähnchenkeulen ...!

      Alfred nagte verwundert an seiner Keule: Hier redeten sie mit vollem Mund über alles zwischen Himmel und Erde, als wären sie immer zusammen und stets die vertrautesten Freunde gewesen. Keine Erinnerungen an Rivalitäten um Vaters oder Mutters Gunst verdunkelten den Himmel. Petersburg lag plötzlich unendlich fern. Und Emil und er waren Gleichaltrige.

      Dann betraten Kunden den Laden, und schließlich mußte Alfred vom Berg Tabor herabsteigen und von seiner mißglückten Mission bei Vater Immanuel berichten.

      »Ich habe deine Nachricht bekommen«, sagte Emil. »Und was für ein Glück, daß ich zuerst zu Mutter gekommen bin, statt vergebens den langen Weg nach Heleneborg zu stiefeln! Ich war gestern das letzte Mal dort und habe da deinen Brief mit den neuesten Resultaten gelesen. Ich gratuliere dir herzlich! Das sieht doch wie ein Durchbruch aus nach all den vergeblichen Jahren.«

      »Danke Emil – das wärmt das Herz!«

      Emil hob abwehrend die Hand. »Ich bin ja ein Novize im Vergleich zu dir. Doch wenn du gestattest, habe ich da eine Idee, wie der Nitrierungsprozeß verbessert werden und vor allem effektiver gemacht werden könnte. Es wäre mir deshalb eine Ehre und ein Vergnügen, wenn ich mit dir zusammenarbeiten dürfte.«

      »Noch hast du doch ein paar Jahre auf der Hochschule ...?«

      »Ja, doch die Sommer über habe ich frei – und dann sind da ja noch die Sonntage und die Nächte! Außerdem gibt es in Heleneborg ein geeignetes Hofgebäude, das wir als Laboratorium mieten könnten. Vaters Schuppen reicht ja auf die Dauer nicht aus.«

      Alfreds Miene verfinsterte sich.

      »So, wie es jetzt steht, kann ich mit Vater nicht zusammenarbeiten, ich hoffe, du verstehst das!«

      »Ich denke, ich kann ihm klarmachen, daß er unrecht hat, Alfred. Laß mir nur ein wenig Zeit! Ich glaube, Vater ist in erster Linie enttäuscht, daß ihm deine Lösung nicht selbst eingefallen ist, die ja so selbstverständlich erscheint mit dem Fazit in der Hand. Im Moment verschließt er die Augen davor, da er nach einem ganz anderen Prinzip als du arbeitet und eigensinnig hofft, daß seine Mischung zu einem günstigeren Resultat führen könnte, trotz aller früheren Rückschläge. Vater ist halsstarrig, das ist wahr, doch sucht er verzweifelt nach einem Halt – und ist es so verwunderlich, daß er nach all seinen Mißerfolgen ein bißchen durchgedreht ist?«

      »Nein, aber ...«, murmelte Alfred und legte die Hand auf einen Riß im Rock; daß Mutter ihn noch nicht bemerkt hatte? Andriette hatte mit halbem Ohr zugehört, und ab und zu hatte sie in den Laden gehen müssen, um Kunden zu bedienen. Ein Wort, das die Söhne genannt hatten, war ›Nitrierungsprozeß‹.

      Ihr Weg an der Seite Immanuels war von Konkursen, Akkorden und Prozessen begleitet gewesen. Gott weiß, wie das alles hieß, aber aufreibend