Название | Renovatio Europae. |
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Автор произведения | David Engels |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783948075866 |
FORTSCHRITT, SOCIAL
ENGINEERING UND DIE FRAGE NACH DER IDENTITÄT EUROPAS – EINE BESTANDSAUFNAHME
Zdzisław Krasnodębski
1. Einleitung
Als ich in den 1990er Jahren meine Habilitationsschrift mit dem Titel »Der Niedergang der Fortschrittsidee« veröffentlichte, welche in Polen als eines der ersten »post-modernen« Bücher betrachtet wurde, war ich nach den Erfahrungen des Kriegsrechts und des offensichtlichen Scheiterns der Sowjetunion optimistisch genug zu hoffen, daß zusammen mit dem Kommunismus auch der Gedanke, der »Fortschritt« sei die Antwort auf alle Gesellschaftsfragen, verschwinden würde. Doch die Reaktionen meiner progressiven Freunde, welche ganz in den Ideen der 1968er Jahre und der verschiedensten Emanzipationsbewegungen aufgingen, belehrten mich bald eines Besseren.
Die Geschichte kehrt wieder, und eines der wohl bezeichnendsten Beispiele hierfür ist der kürzlich veröffentlichte, breit beworbene Aufruf des französischen Präsidenten mit dem Titel »Für einen Neubeginn in Europa«. Was auf den ersten Blick wie eine unerwartete Schützenhilfe für das Projekt des vorliegenden Bandes wirken könnte, dem es ja ebenfalls um eine »Erneuerung Europas« geht, vertritt dabei allerdings, wie zu erwarten, eine ganz andere Stoßrichtung.
Hierbei stellt sich bereits beim Titel die Frage, von welchem »Europa« hier überhaupt die Rede sein soll. Es ist keine Überraschung, daß jede politische Körperschaft, und so auch die EU, ihre eigene Sprache und ihre eigenen Definitionen entwickelt. Damit meine ich nicht nur, daß selbst das EU-Englisch vom britischen oder amerikanischen Englisch sehr verschieden ist, sondern auch die Tatsache, daß sich hinter der gegenwärtigen Verwendung einer ganzen Reihe von altbekannten Begriffen eine neue Realität verbirgt. Im »Neusprech« der Gegenwart, um einen Begriff George Orwells aufzugreifen, besteht eine gewisse Tendenz, »Europa« mit der »EU« gleichzusetzen und umgekehrt. Wer von »glühenden Europäern« spricht, meint heutzutage kaum noch einen Menschen, der die große kulturelle Vielfalt unseres Kontinents verehrt und sich etwa mit dem Reichtum unserer Literatur oder Musik auseinandersetzt, indem er beispielsweise Beethoven mit Debussy oder Mickiewicz mit Baudelaire vergleicht; ein »glühender« oder »guter« Europäer ist heutzutage ein strammer und weitgehend unkritischer Verfechter der gegenwärtigen EU – ein verhältnismäßig neues Phänomen, hinter dem wohl die Entwicklung steckt, daß von dem alten Wahlspruch der »Einheit in Vielfalt« zunehmend, und trotz vorgeblendeter »Diversity«-Beschwörungen, nur noch der Appell an die Einheit der Meinung übriggeblieben ist. Im folgenden wollen wir anhand des Aufrufs von Präsident Macron jene Tendenz etwas näher betrachten.
2. Von der Christenheit zu Europa
Macron schreibt in eindringlicher Weise: »Noch nie seit dem Zweiten Weltkrieg war Europa so wichtig. Und doch war Europa noch nie in so großer Gefahr.«1 Welches Europa meint er hiermit? Die Europäische Union? Oder – wenig wahrscheinlich – die historisch gewachsene abendländische Kultur? Und um welche Gefahr handelt es sich hierbei wohl? Sie muß wohl sehr groß sein, wenn sie angeblich bedeutender ist als die Gefahr, welche jahrzehntelang in Form des Kalten Kriegs nicht nur der europäischen, sondern sogar der Erdbevölkerung mit der weitgehenden atomaren Auslöschung drohte. Und ob diese Gefahr tatsächlich aus polnischer Perspektive wirklich so bedeutend ist wie die Jahre 1956, 1968 oder 1981? Wer ist der Feind?
Danach aber wird Macron klarer, denn wir lesen: »Der Brexit ist dafür ein Symbol. Ein Symbol für die Krise in Europa, das nicht angemessen auf die Schutzbedürfnisse der Völker angesichts der Umwälzungen in der heutigen Welt reagiert hat.« Es würde hier zu weit führen, auf Eric Voegelins Theorie der Symbole zu verweisen, um die Frage zu besprechen, inwieweit und wofür der Brexit nun tatsächlich ein Symbol darstellt. Freilich können wir Macron nur zustimmen, wenn er vom Scheitern der EU (in seiner Wortwahl »Europas«) spricht, den Schutz der Bürger zu gewährleisten. Eine EU, welche den Bürger schützt, wäre in der Tat eine gute Idee – aber vor wem? Sicherlich geht es Macron kaum um den Schutz des Abendlands, seiner Identität und seiner Traditionen vor den Gefahren der Moderne, oder?
Immerhin wird eines deutlich: Macrons Europabegriff ist nicht geographischer Art (schließlich ist Rußland doch in einem nicht unbeträchtlichen Maß Teil des europäischen Kontinents), sondern bezeichnet vielmehr eine bestimmte Form politischer Identität. Nun sind, wie die Soziologie lehrt, politische Begriffe wie »Europa« meist das Resultat innerer und äußerer Konflikte, dienen als Symbole für Loyalität und Feindseligkeit und haben Tendenz, von einzelnen politischen Gruppen benutzt und instrumentalisiert zu werden, so daß die Identifikation der Nutzer jener Begriffe sowie der Situation, in welcher dieser Prozeß sich vollzieht, ein interessantes Studienfeld darstellen könnte.
Bezeichnend für unsere Situation und den Geist der Erklärung Emmanuel Macrons ist dabei die Frage, wann und unter welchen Voraussetzungen der Europa-Begriff überhaupt begann, Teil der politischen Terminologie in den Debatten unseres Kontinents zu werden. Die Idee einer kulturellen und auch politischen Zusammengehörigkeit des Abendlandes geht zwar sehr weit in die Vergangenheit zurück (in Osteuropa bis in das 10. Jahrhundert, im Westen bis zu den Karolingern) und gründete auf jenen Werten, die heute als »konservativ« gelten, allen voran dem geteilten christlichen Glauben, der als »Christenheit« geradezu das Synonym jener abendländischen Identität darstellte. Doch im 17. und 18. Jahrhundert wurde der Begriff der »Christenheit« infolge von Reformation und Säkularisierung zunehmend in das terminologische Fegefeuer archaischer Begriffe verbannt, und der Terminus »Europa« trat an seine Stelle.
Hierbei ist es interessanterweise im frühen 18. Jahrhundert, daß wir den Begriff der Christenheit zum letzten Mal als politischen Terminus wiederfinden. Denn nachdem noch im 17. Jahrhundert die Türkenkriege und die Rettung des Abendlandes durch Jan Sobieski dazu beigetragen hatten, die abendländische Identität, die »res Christiana«, durch den Kampf mit dem Islam kurzfristig religiös aufzuladen, sollte die Präambel des Vertrags von Utrecht aus dem Jahr 1713 zum letztenmal das »christliche Interesse« als Motivation für die damalige Neuordnung des Kontinents beschwören. Die betroffenen Parteien sprechen von ihrem » désir de procurer (autant qu’il est possible à la prudence humaine de le faire) une tranquillité perpétuelle à la chrétienté« und erklären: »Portés par la considération de l’intérest de leurs sujets, [ils] sont enfin demeurés d’accord de terminer cette guerre, si cruelle par le grand nombre de combats, si funeste par la quantité du sang chrétien qu’on y a versée.« Es dürfte dabei als eine Ironie der Geschichte zu betrachten sein, daß es damals wesentlich die Briten waren, welche sich gegen den französischen Anspruch einer universalen katholischen Weltmonarchie stellten und im Namen Europas für eine dauerhafte plurale Neuordnung des Kontinents plädierten…
3. Das Ende des Nationalstaats?
Heute freilich gilt das Konzept des Nationalstaats weitgehend als veraltet, während »Europa« (also eigentlich die EU) als die historisch prädeterminierte nächste Stufe im historischen Entwicklungsplan gesehen wird, welche ultimativ in einer globalisierten und multikulturellen Welt gipfeln wird, wenn auch alle Bürger noch nicht »reif« für eine solche Entwicklung sind und daher vorübergehend von der EU »geschützt« werden müssen. So lesen wir bei Macron: »Angesichts der globalen Umwälzungen sagen uns die Bürgerinnen und Bürger nur allzuoft: ›Wo ist Europa? Was unternimmt die EU?‹«
Nun scheint bereits jener angebliche Appell der Bürger an »Europa« (bzw. die EU) Frucht einer gewissen Projektion zu sein, denn zumindest in Polen scheint es eher unwahrscheinlich, daß ausschließlich die EU als fähig betrachtet wird, vor jenen Umwälzungen zu schützen (von denen viele, wie etwa die Migrationskrise und die Islamisierung,